Ausführliche Geschichte eines Exemplars Heineccius

Die Wohnung, die wir gefunden hatten, lag im Oberstock eines Hauses, das rückwärts an den Kanal grenzte. Wir hatten zwei Zimmer, von denen das zweite nur durch das erste betreten werden konnte; in jedem befand sich ein Kamin, nach holländischer Art weit in das Gemach hineingebaut, und da die Räume nebeneinander lagen, blickte man von beiden Fenstern zuerst auf den Wipfel eines Baumes und in einen kleinen Hof, dann auf einen Ausschnitt des Kanals und auf Häuser in holländischem Stil sowie auf einen Kirchturm am jenseitigen Ufer. In jenem Turme hing ein großes Glockenspiel, das die herrlichste Musik machte, und wenn es überhaupt Sonne gab, schien sie gerade in unsere beiden Zimmer hinein. Gute Mahlzeiten ließen wir uns aus einem benachbarten Gasthof kommen. Die erste Nacht waren wir beide ziemlich müde, Catriona war sogar völlig erschöpft. Wir sprachen nur wenig, und ich schickte sie ins Bett, sobald wir gegessen hatten. Am Morgen schrieb ich als Erstes eine Zeile an Sprott, um ihr Gepäck nachkommen zu lassen, sowie einen kurzen Brief an Alan, den ich an die Adresse seines Häuptlings richtete; beide hatte ich expediert und das Frühstück bereitet, bevor ich sie weckte. Ich schämte mich ein wenig, als sie in ihrem einzigen Gewande, ihre Strümpfe noch kotbespritzt von der Landstraße, aus ihrem Zimmer trat. Nach allem, was ich erfahren, mußte eine ganze Reihe von Tagen vergehen, ehe ihre Koffer in Leyden eintreffen konnten, und es war klar, daß sie ein Kleid zum Wechseln brauchte. Anfänglich sträubte sie sich, mir derartige Unkosten aufzuerlegen; aber ich erinnerte sie daran, daß sie jetzt eines reichen Mannes Schwester sei und in einem Anzug, wie er sich für diese Rolle schickte, auftreten müßte; schon bei dem zweiten Händler war sie hingerissen von dem Geist des Unterfangens, und ihre Augen leuchteten. Ich freute mich an ihrer unschuldigen Hingabe an dieses Vergnügen. Merkwürdiger noch war die Leidenschaft, mit der ich mich selbst in die Sache stürzte; nichts war mir schön und gut genug für sie, und ich bekam es niemals satt, sie in den verschiedensten Aufputzen zu sehen. Ja, ich begann einen Teil von Miß Grants tiefem Interesse an der Kleiderfrage zu verstehen; denn die Wahrheit ist, gilt es einen schönen Menschen zu schmücken, so wird alles an dem Geschäft selber schön. Ich muß noch hinzufügen, daß die holländischen Kattune außerordentlich fein und billig waren; aber ich schäme mich, zu verraten, was ich für ihre Strümpfe ausgab. Im großen und ganzen verwendete ich eine so große Summe auf dieses Amüsement – anders kann ich es nicht gut nennen –, daß ich mich lange Zeit schämte, noch weiteres Geld auszugeben und als eine Art Gegengewicht unsere Zimmer ziemlich kahl ließ. Wenn wir nur Betten hatten, wenn Catriona nur recht zierlich gekleidet ging und mir genug Licht, sie zu betrachten blieb, waren unsere Räume für meinen Geschmack prächtig genug. Am Schlusse unserer Besorgungen war ich froh, Catriona mit unseren vielen Paketen vor der Tür absetzen zu können, und begab mich auf einen langen, einsamen Spaziergang, um mir eine Strafpredigt zu halten. Da hatte ich unter mein Dach und quasi an meinen Busen ein junges, sehr schönes Mädchen genommen, deren einzige Bedrohung ihre Unschuld war. Meine Unterredung mit dem alten Holländer und die Lügen, zu denen ich mich gezwungen sah, zeigten mir, wie mein Verhalten sich in anderer Leute Augen ausnehmen mußte; und nach der starken Bewunderung, die ich soeben erst gespürt und der Unmäßigkeit, mit der ich meiner eitlen Kauflust gefrönt hatte, begann ich mein Benehmen selbst für äußerst gewagt zu halten. Ich fragte mich, ob ich, wenn ich in der Tat eine Schwester hätte, sie wohl so kompromittieren würde; dann, als mir das Problem gar zu schwer löslich erschien, veränderte ich die Frage dahin, ob ich Catriona irgendeinem anderen Menschen so ausliefern würde: die Antwort ließ mich schamrot werden. Ich hatte mich selbst und auch das Mädchen in eine Falle gelockt, um so mehr mußte ich darauf achten, mich mit peinlichster Korrektheit zu benehmen. Sie hing, was Nahrung und Unterkunft betraf, gänzlich von mir ab; falls ich ihr Schamgefühl verletzte, blieb ihr keine Zuflucht mehr. Ich war ihr Wirt und ihr Beschützer; je abenteuerlicher die Art, auf die ich in diese Rolle verfallen war, um so unverzeihlicher mein Handeln, wenn ich durch eine noch so ehrliche Werbung dadurch zu profitieren suchte. Angesichts der Gelegenheiten, die sich mir boten, Gelegenheiten, die kein kluger Vater auch nur einen Augenblick geduldet haben würde, war auch die ehrlichste Werbung unfair. Ich erkannte, ich mußte in unserem Verkehr außerordentlich zurückhaltend sein, und doch wieder nicht zu zurückhaltend; denn hatte ich auch kein Recht als Freier aufzutreten, so mußte ich mich doch in der Rolle des Wirts, und wenn möglich des liebenswürdigen Wirts, zeigen. Es war klar, das Ganze bedurfte eines großen Maßes von Takt und Wohlerzogenheit, größer vielleicht, als meine Jahre es mir gewährten. Aber ich hatte mich kühn hineingestürzt, wo selbst die Engel kaum zu wandeln wagten, und es gab keinen anderen Ausweg aus jener Lage, als zu tun, was mich recht dünkte. Ich baute mir daher ein System von Verhaltungsmaßregeln auf, flehte innerlich um Kraft, sie einzuhalten, und kaufte mir als menschlicheres Mittel zu diesem Zweck ein Lehrbuch der Jurisprudenz. Da mir sonst nichts einfallen wollte, ließ ich alle ernsten Betrachtungen fahren und wurde sogleich so überschäumend glücklich, daß ich auf dem Heimwege auf lauter Luft zu gehen schien. Ja, bei dem Gedanken an den Begriff »Heim« und an die Gestalt, die mich zwischen meinen vier Wänden erwartete, klopfte mir das Herz in der Brust vor lauter Freude.

Meine Nöte setzten mit meiner Rückkehr ein. Sie lief mir in unverhüllter, rührendster Freude entgegen. Außerdem war sie von Kopf bis zu Fuß in die neuen Sachen gekleidet, die ich ihr gekauft hatte, und sah über die Maßen hübsch aus, und natürlich drehte und wendete sie sich von allen Seiten und knickste in einem fort, um sich zu zeigen und bewundert zu werden. Letzteres tat ich ohne Zweifel recht ungnädig; die Worte blieben mir förmlich in der Kehle stecken. »Nun,« sagte sie, »wenn du nicht nach meinen hübschen Kleidern fragst, so sieh dir wenigstens an, was ich mit unseren Zimmern getan habe.« Und sie zeigte mir die sauber gefegten Räume und die Feuer, die in den beiden Kaminen brannten. Ich freute mich der Gelegenheit, etwas strenger erscheinen zu können, als mir in Wahrheit zumute war. »Catriona,« sagte ich, »ich bin mit dir sehr unzufrieden; niemals wieder darfst du mein Zimmer anrühren. Einer von uns beiden muß der Herr sein, solange wir zusammen sind! Als der Ältere und als Mann kommt mir diese Rolle zu, nimm meine Worte also als Befehl.« Sie machte mir eine ihrer Reverenzen, die über die Maßen reizend waren. »Wenn du zankst, muß ich dich kajolieren, Davie. Ich werde sehr folgsam sein, wie es sich schickt, da jeder Fetzen an meinem Leibe dir gehört. Aber du darfst auch nicht böse sein, denn ich habe jetzt niemanden als dich.« Diese Worte trafen mich tief, und ich beeilte mich, halb und halb reumütig, die gute Wirkung meiner letzten Rede wieder aufzuheben. In dieser abschüssigen Richtung war es leichter, Fortschritte zu machen; Catriona schritt lächelnd voran, und bei ihrem Anblick, bei dem freundlichen Licht des Feuers, bei ihren reizenden Gesten und Blicken ward mein Herz butterweich. Unsere Mahlzeit verlief unter unendlichen Scherzen und Zärtlichkeiten; ja, wir beide waren so eins, daß selbst unser Lachen einer Liebkosung glich. Inmitten dieses Treibens fielen mir meine Bedenken ein; ich stammelte eine lahme Entschuldigung und machte mich bäurisch tölpelhaft an meine Studien. Das Buch war ein umfangreiches, instruktives Werk des verstorbenen Dr. Heineccius, in das ich mich in den folgenden Tagen noch recht häufig vertiefen sollte, obwohl ich mich mitunter freute, daß niemand da war, mich über meine Lektüre auszufragen. Mich dünkte, Catriona biß sich leicht auf die Lippen – das schnitt mir ins Herz. Ja, mein Verhalten ließ sie völlig einsam, zumal sie nur wenig las und im Augenblick kein einziges Buch besaß.

Der Rest des Abends verfloß fast schweigend.

Ich hätte mich prügeln können. In jener Nacht vermochte ich vor Wut und Reue nicht im Bett zu bleiben und lief mit bloßen Füßen so lange im Zimmer auf und ab, bis ich vor Kälte umzukommen meinte, denn das Feuer war ausgegangen, und es herrschte ein scharfer Frost. Der Gedanke an Catriona im Nachbarzimmer, der Gedanke, daß sie mich jetzt vielleicht auf und ab gehen hörte, die Erinnerung an meine Unhöflichkeit und das Bewußtsein, daß ich gezwungen war, auch weiterhin an diesem undankbaren Benehmen festzuhalten, wenn ich nicht ehrlos werden wollte, raubten mir fast den Verstand.

Ich stand zwischen Szylla und Charybdis: was mußte sie nur von mir denken? Das war die Vorstellung, die mich immer wieder wankend machte. Die andere, die mich in meinem Entschlusse stählte, lautete: »Was sollte nur aus uns werden?« Diese meine erste schlaflose und von Zweifeln zerrissene Nacht, der noch viele ähnliche folgen sollten, verbrachte ich teils wie ein Wahnsinniger auf und ab rennend, teils unter kindischen Tränen, teils (wie ich hoffe) christliche Gebete zum Himmel sendend.

Aber man hat leicht beten; viel schwerer ist die Praxis. In Catrionas Gegenwart hatte ich nur geringe Macht über die Konsequenzen meines Handelns, vor allem, wenn ich irgendwelche Vertraulichkeiten aufkommen ließ. Dagegen überstieg es meine Kraft, den ganzen Tag mit dem Mädchen das Zimmer zu teilen und mich dem äußeren Anschein nach in meinen Heineccius zu versenken. So verfiel ich auf den Ausweg, mich möglichst viel zu absentieren. Ich besuchte regelmäßig die Kollegs, häufig jedoch mit nur geringer Aufmerksamkeit; der Beweis dafür ist ein Kollegheft jener Tage, das mir vor kurzem in die Hände fiel. Mitten in einem erbaulichen Vortrag bricht es ab; statt dessen sind die Seiten mit recht schlechten Versen vollgekritzelt, wenn auch das Latein besser ist, als ich je gehofft hatte, schreiben zu können. Zum Unglück wogen die Nachteile eines derartigen Verhaltens die Vorteile fast auf. Zwar wurde meine Prüfungszeit verkürzt, aber sie war meines Erachtens nach um so schwerer, solange sie dauerte; denn da Catriona viel allein blieb, begrüßte sie meine Rückkehr mit wachsender Inbrunst, die mich fast überwältigte. Diese liebevollen Annäherungen war ich gezwungen auf barbarische Art zurückzuweisen, und meine Härte verletzte sie mitunter so tief, daß ich sofort wieder weich wurde und alles durch doppelte Güte wieder gutmachte. So war die Zeit unseres Zusammenlebens ein einziges Auf und Ab, eine Flut von Verstimmungen und Enttäuschungen, die mich (mit aller Ehrfurcht sei’s gesagt) fast kreuzigten.

Die Basis meiner Nöte war Catrionas überraschende Unschuld, die mich indes nicht so sehr mit Staunen wie mit Mitleid und Bewunderung erfüllte. Das Mädchen schien unserer Lage auch nicht einen Gedanken zu schenken, meine Kämpfe überhaupt nicht zu ahnen. Jedes Zeichen von Schwäche meinerseits begrüßte sie mit aufquellender Freude, und wenn ich dadurch in die Abwehr gezwungen wurde, gab sie sich nicht immer Mühe, ihren zornigen Kummer zu verbergen. Mitunter dachte ich bei mir selbst: wenn sie bis über beide Ohren verliebt wäre und es sich in den Kopf gesetzt hätte, mich einzufangen, könnte sie es nicht anders treiben. Und wieder mußte ich mich über die Einfalt der Frauen wundern, von denen abzustammen ich mich (in derartigen Momenten) für unwürdig hielt. Einen Punkt insbesondere gab es, um den unser Krieg sich drehte: das war die Frage ihrer Kleider. Meine Koffer waren uns sehr bald von Rotterdam nachgesandt worden, die ihrigen von Helvoetsluys. Sie besaß daher im Augenblick zwei komplette Garderoben, und es wurde allmählich selbstverständlich (wie, vermochte ich niemals zu sagen), daß sie, wenn sie mir gut war, meine Kleider trug, und wenn sie mir grollte, die ihrigen. Letzteres sollte als eine Art Zurückweisung und als Verzicht auf ihre Dankbarkeit gelten, und tief im Herzen empfand ich es auch so; gewöhnlich aber war ich zu klug, um nach außen hin diesen Umstand zu bemerken.

Einmal ließ ich mich in noch kindischerer Weise gehen als sie. Das geschah so: auf dem Heimwege aus meinem Kolleg hatte ich ihrer in Liebe, untermischt mit ziemlich viel Ärger, inbrünstig gedacht, bald jedoch war der Ärger verschwunden, und als ich in einem Ladenfenster eine jener Treibhausblumen erblickte, in deren Zucht die Holländer Meister sind, gab ich einem Impulse nach und kaufte sie für Catriona. Den Namen der Blume kenne ich nicht; sie war von rosa Farbe. Ich glaubte, Catriona würde sie sehr bewundern und trug sie in wunderbar weicher Stimmung heim. Beim Abschied hatte Catriona meine Kleider getragen, als ich sie nun bei meiner Rückkehr völlig umgezogen und obendrein mit einem hierzu passenden Gesicht antraf, maß ich sie mit einem einzigen Blick von Kopf bis zu Fuß, biß die Zähne aufeinander, riß das Fenster auf, warf meine Blume auf den Hof hinunter und mich selbst (zwischen Wut und Vorsicht schwankend und die Tür hinter mir ins Schloß donnernd) zur Tür hinaus. Auf der steilen Treppe wäre ich um ein Haar gefallen; das brachte mir die Torheit meines Benehmens augenblicklich zum Bewußtsein. Ich ging daher nicht, wie ich es ursprünglich beabsichtigt hatte, auf die Straße, sondern in den Hof, der wie immer verlassen da lag. Dort sah ich meine Blume (die mich weit mehr als ihren eigentlichen Wert gekostet hatte) an dem kahlen Baume hängen. Ich pflanzte mich neben dem Kanale auf und starrte hinunter auf das Eis. Bauern glitten auf ihren Schlittschuhen vorüber: ich beneidete sie. Ich sah keinen Ausweg aus meiner Klemme, sah nicht einmal eine Möglichkeit, in das Zimmer zurückzukehren, das ich soeben verlassen hatte. Kein Zweifel, ich hatte das Geheimnis meiner Gefühle verraten, hatte, um die Sache noch schlimmer zu machen, in elender, kindischer Wut meinen hilflosen Gast vor den Kopf gestoßen.

Vermutlich sah sie mich aus dem offenen Fenster. Ich glaube, ich hatte noch nicht lange dort gestanden, da hörte ich knirschende Schritte auf dem gefrorenen Schnee und erblickte, als ich mich ärgerlich über die Störung umwandte, Catriona. Sie war abermals von Kopf bis zu den gestickten Strümpfen, umgezogen. »Sollen wir heute unseren Spaziergang versäumen?« erkundigte sie sich.

Ich blickte sie verwundert an. »Wo ist deine Brosche?« fragte ich.

Sie fuhr mit der Hand an den Busen und errötete tief. »Ich habe sie vergessen. Ich laufe gleich nach oben und hole sie; dann können wir doch unseren Spaziergang machen, nicht wahr?«

Das Letzte wurde in so bittendem Tone gesprochen, daß ich vor Staunen nicht aus noch ein wußte. Mir blieben die Worte wie die Stimme versagt; so konnte ich nur zustimmend nicken und kletterte, kaum daß sie mich verlassen hatte, auf den Baum, um die Blume zu holen, die ich ihr bei ihrer Rückkehr überreichte. »Ich habe sie für dich gekauft, Catriona«, sagte ich. Sie befestigte sie mit ihrer Brosche am Busen, wie mich deuchte, nicht ohne Zärtlichkeit.

»Sie ist durch meine Behandlung nicht besser geworden«, hub ich von neuem an.

»Sie gefällt mir darum nicht schlechter, des kannst du sicher sein«, antwortete sie.

An jenem Tage sprachen wir nicht viel miteinander; sie schien einen Schatten reserviert, aber nicht unfreundlich. Und was mich betraf, so grübelte ich die ganze Zeit unseres Spazierganges und nach unserer Rückkehr, als ich sie die Blume in ein Gefäß mit Wasser hatte stecken sehen, darüber nach, was für ein Rätsel doch die Frauen seien. Jetzt dachte ich, es sei doch die größte Dummheit von der Welt, daß sie meine Liebe nicht erkannt hätte, jetzt, daß sie sie längst bemerkt haben müßte, und daß sie nur als kluges Mädchen mit feinem, weiblichen Instinkt für Schicklichkeit ihr Wissen verberge.

Wir gingen täglich spazieren. Auf der Straße fühlte ich mich sicherer; da ließ meine Zurückhaltung etwas nach, und vor allem gab es da keinen Heineccius. So kam es, daß diese Zeiten für mich eine Erleichterung und für mein armes Kind ein großes Vergnügen bedeuteten. Wenn ich um die gewohnte Stunde nach Hause zurückkehrte, fand ich sie meist schon fertig angezogen und glühend vor Erwartung. Sie pflegte unsere Wanderungen nach Möglichkeit in die Länge zu ziehen und schien (ebenso wie ich) sich vor der Stunde der Rückkehr zu fürchten. In Leyden gibt es daher kaum ein Feld oder ein Flüßchen, keine Straße oder Gasse, wo wir nicht geweilt. Im übrigen hatte ich sie gebeten, sich ganz auf die Wohnung zu beschränken; ich fürchtete, sie könnte irgendeinem Bekannten in die Arme laufen und unsere Lage noch erschweren. Aus dem nämlichen Grunde gestattete ich es weder ihr noch mir selbst, in die Kirche zu gehen; statt dessen improvisierten wir eine Art Privatgottesdienst in unserer Wohnung – wie ich hoffe mit ehrlichem, wenn auch zweifellos geteiltem Herzen. Ja, nichts rührte mich so tief, wie gleich Mann und Weib mit ihr vor Gott zu knien.

Eines Tages schneite es ungewöhnlich heftig. Ich hatte es für unmöglich gehalten, in solchem Wetter auszugehen, und war erstaunt, sie fertig angekleidet auf mich wartend zu finden. »Nie und nimmer werde ich auf meinen Spaziergang verzichten«, rief sie. »Du bist im Hause kein guter Junge, Davie; ich liebe dich nur in der freien Luft. Ich glaube, das beste ist, wir werden Zigeuner und schlagen unser Lager neben der Landstraße auf.«

Das wurde der schönste Spaziergang von allen; sie klammerte sich im fallenden Schnee an mich; die Flocken umwirbelten uns und schmolzen auf unserer Kleidung, und die Tropfen hafteten wie Tränen auf ihren hellen Wangen und zerrannen in ihren lächelnden Mund. Mir war’s, als wüchsen mir Riesenkräfte; ich glaube, ich hätte sie in die Arme nehmen und mit ihr bis ans Ende der Erde laufen können, und die ganze Zeit unterhielten wir uns mit einer Freiheit und süßen Harmonie, wie ich es nie erlebt hatte. Es war dunkle Nacht, als wir wieder vor der Haustüre standen. Sie drückte meinen Arm an ihre Brust. »Ich danke dir von Herzen für diese guten Stunden«, sagte sie, und ihre Stimme hatte einen tiefen Klang. Die Sorge, in die mich diese Worte sofort stürzten, zwang mich mit gleicher Schnelligkeit in eine Abwehrstellung; kaum hatten wir unsere Zimmer erreicht und das Licht angezündet, als sie von neuem das alte, sauertöpfische, eigensinnige Gesicht des heineccius’schen Studenten vor sich sah. Ohne Zweifel fühlte sie sich mehr denn je verletzt; ich weiß jedenfalls, daß es mir schwerer als sonst fiel, meine Steifheit zu bewahren. Selbst beim Essen wagte ich es kaum, weniger zugeknöpft zu sein und meine Augen zu ihrem Gesicht zu erheben. Sobald das Mahl vorüber war, versenkte ich mich in mein bürgerliches Recht, diesmal mit größerer Hingabe und weniger Verständnis als je zuvor. Mir war während der Lektüre, als hörte ich mein Herz wie eine Wanduhr schlagen. So sehr ich mich auch mühte, in mein Buch vertieft zu erscheinen, äugte ich doch verstohlen über den Rand hinweg nach Catriona. Sie hockte auf dem Boden neben meinem großen Koffer; der Schein des Feuers umspielte sie, funkelte und zuckte und ließ ihr Gesicht in einem Wunder schöner Farben aufleuchten und versinken. Jetzt starrte sie in die Flammen, dann wieder zu mir hinüber; sogleich tauchte ich in panischer Angst vor mir selbst in meinen Heineccius und umblätterte die Seiten, wie jemand, der in der Kirche nach dem Text sucht.

Plötzlich schrie sie laut: »Oh, – weshalb kommt mein Vater nicht?« Dann löste sich ihre Spannung in einem Strom von Tränen. Ich sprang auf, warf den Heineccius mitten ins Feuer, lief zu ihr hin und umschlang ihren schluchzenden Körper mit beiden Armen. Sie stieß mich heftig von sich. »Du liebst deine Freundin nicht«, sagte sie. »Auch ich könnte so glücklich sein, wenn du es nur erlaubtest!« Und dann: »Oh, was habe ich nur getan, daß du mich so hassest?« »Hassen!« rief ich, sie fest in den Armen haltend. »Du blindes Kind, kannst du denn nicht ein wenig in meinem Herzen lesen und sehen, wie unglücklich ich bin? Glaubst du, wenn ich hier sitze und in dem dummen Buch lese, das ich soeben verbrannt habe – der Teufel hole es! – ich hätte auch nur einen einzigen Gedanken an etwas anderes als dich? Nacht für Nacht hätte ich heulen können, dich dort so einsam zu sehen. Aber was sollte ich nur tun? Du bist meiner Ehre anvertraut; willst du mich deswegen strafen? Willst du aus diesem Grunde deinen treuen Diener von dir weisen?« Bei diesen Worten klammerte sie sich mit plötzlicher, kleiner Gebärde fest an mich. Ich hob ihr Gesicht zu dem meinen und küßte es, und sie drückte ihren Kopf an meine Brust und hielt mich fest umschlungen. Ich saß da in einem schwindelnden Wirbel, wie betrunken. Da hörte ich eine ganz leise Stimme erstickt aus meinen Kleidern aufsteigen: »Hast du sie wirklich geküßt?«

Mich durchzuckte eine so gewaltige Welle des Erstaunens, daß ich am ganzen Leibe zitterte.

»Miß Grant!« rief ich völlig ausgelöst. »Ja, ich bat sie, mir zum Abschied einen Kuß zu geben und sie tat es auch.« »Ah,« sagte sie, »aber wenigstens hast du mich auch geküßt.« Bei der Seltsamkeit und Süße dieser Worte wurde mir plötzlich klar, wohin wir geraten waren; ich erhob mich und stellte sie auf die Füße.

»Das geht so nie und nimmermehr«, sagte ich. »Nie und nimmermehr. O Katrin, Katrin!« Eine Pause, in der ich zu reden unfähig war, und ich fügte hin zu: »Geh fort, zu Bett. Geh zu Bett und laß mich allein.« Sie wandte sich, fügsam wie ein kleines Kind, um mir zu gehorchen. Das Nächste, was ich wußte, war, daß sie auf der Türschwelle stehen blieb.

»Gute Nacht, Davie,« sagte sie. »Gute Nacht, du mein Lieb!« rief ich in einem einzigen, leidenschaftlichen Ausbruch meiner Seele und riß sie mit einer Gewalt an mich, daß ich glaubte, ich hätte sie zerbrochen. In der nächsten Sekunde hatte ich sie aus dem Zimmer gedrängt und die Tür heftig zugeschlagen und stand allein.

Jetzt war der Krug zerschellt, die Milch verschüttet; das Wort war mir entschlüpft, die Wahrheit an den Tag gekommen. Wie ein wankelmütiger Schwächling hatte ich mich in des armen Mädchens Liebe eingeschlichen; als gebrechliches, unschuldiges Geschöpf, das ich nach Belieben zerstören oder hüten konnte, lag sie in meiner Hand; welche Verteidigungswaffe war mir jetzt noch geblieben? Es schien mir wie ein Symbol, daß das Exemplar Heineccius, mein alter Schild, verbrannt war. Ich bereute, und doch brachte ich es nicht über mich, mir meines Versagens wegen Vorwürfe zu machen. Es schien mir ein schier unmögliches Verlangen, ihrer kühnen Unschuld oder der letzten großen Versuchung ihrer Tränen widerstanden zu haben. Aber alle meine Entschuldigungen ließen meinen Fehler nur noch größer erscheinen – fast dünkte es mich, ich hätte ein so wehrloses Wesen, alle Vorteile meiner Position ausnutzend, überlistet.

Was füllte jetzt aus uns werden? Wir konnten doch nicht länger in der gleichen Wohnung hausen? Wohin sollte ich aber gehen? Wohin sie? Ohne Zutun oder Schuld unsererseits hatte sich das Leben gegen uns verschworen und uns in jene engen vier Wände eingesperrt. Mir kam der wilde Gedanke, mich auf der Stelle mit ihr zu verheiraten; im nächsten Augenblick wies ich ihn empört zurück. Sie war ja nur ein Kind, sie kannte nicht einmal ihr eigenes Herz; ich hatte ihre Schwäche überrumpelt; niemals durfte ich diesen Überfall ausnutzen; ich mußte nicht nur dafür sorgen, daß sie kein Makel traf, nein, auch daß sie so frei von mir ging, wie sie gekommen war.

Ich setzte mich vor das Feuer und grübelte nach und bereute und zerbrach mir vergeblich den Kopf auf der Suche nach einem Ausweg. Etwa um drei Uhr morgens waren noch drei rotglühende Kohlen übriggeblieben, Haus und Stadt lagen im Schlaf, da hörte ich vom Nebenzimmer her ein leises Weinen. Sie dachte, auch ich schliefe, das arme Kind; sie bereute ihre Schwäche, ihre Fürwitzigkeit (Gott helfe ihr!), wie sie es vielleicht nannte, und suchte sich in der Totenstille der Nacht durch Tränen Erleichterung zu verschaffen. Zärtliche und bittere Gefühle, Liebe, Reue und Mitleid kämpften in meiner Seele einen Kampf; ich schien verpflichtet, jene Tränen zu trösten.

»O, versuche doch, mir zu verzeihen!« rief ich laut, »versuche, versuche, mir zu verzeihen! Wir wollen alles vergessen, wir wollen versuchen, ob wir es nicht vergessen können!« Es kam keine Antwort, aber das Schluchzen hörte auf. Lange Zeit stand ich, immer noch mit verschlungenen Händen, wie im Augenblick, da ich sie gebeten hatte; dann packte mich schaudernd die Kälte der Nacht, und ich glaube, meine Vernunft gelangte wieder zur Herrschaft. »Du wirst aus dieser Sache doch nicht klug, Davie«, dachte ich. »Geh zu Bett wie ein verständiger Junge, und versuche zu schlafen. Morgen wirst du vielleicht wissen, was du zu tun hast.«