Kapitel 18

 

Auf der Burg herrschte schon ein sehr reges Treiben, als Hermann und Maria herannahten. Fräulein Nullinger, die röter aussah denn je und vor Erhitzung förmlich geschwollen, war die erste, die sie erblickte.

»Da sind sie, da ist das reizende Paar«, rief sie. »Bitte, den Herrn Grafen zu betrachten. ›Es ist hold zu sehn, wie die Sonnen seines Herzens ihm im Auge untergehn.‹ Und wie er heute wieder dem Bilde, das wir uns von Held Siegfried machen, ähnlich sieht!«

»Ja, ja, Sie haben nicht unrecht, seine Frau ist aber nicht die Kriemhild, sondern die Isolde«, sagte Fee und lief den Ankommenden entgegen, die sich bald darauf in Gesellschaft ihrer lustigen Gäste befanden und mit ihnen die Großtaten anstaunen konnten, zu denen Willi durch die Gegenwart dreier junger und schöner Damen begeistert wurde.

Er spazierte eben von der Zinne eines Turmes zur anderen auf einem zu deren Stütze angebrachten Sparren. Seine Brüder, angeeifert durch sein Beispiel, kletterten wie Katzen an den alten Mauern empor.

Wilhelm stand unten und ballte die Fäuste. »Alle meine Buben haben den Teufel im Leib, wenn es heißt, sich produzieren vor einem weiblichen Publikum«, sprach er zu Hermann. »Gar nicht gut so was. Aus solchem Holz schnitzt man Schürzenknechte.«

Hermann klopfte ihm auf die Schulter: »Das glaubst du ja selbst nicht, Alter«, und die Wonsheim lächelten und sahen den tollkühnen Unternehmungen der Burschen mit Beschützermienen zu. Betty jammerte, daß sie kein Mann geworden, was doch einzig und allein das richtige sei; Fräulein Nullinger schwelgte in Entzücken, machte sich nichts daraus, daß ihr buntes Musselinkleid bei der »Aszension« sehr gelitten hatte, und baute in Gedanken die ganze Burg wieder auf. Die zerstörten Zingel stiegen aus dem Boden und umfaßten wie einst die Tore, den Zwingolf, die Zugbrücke, den Burhurdierplatz, auf dem geharnischte Ritter Lanzen brachen. Sie stellte die Pforte wieder her und die zum herrlichen Palas hinaufführenden Greden.

Carla und Gustav, denen sie versicherte, die »dames châte-laines« hätten alle ausgesehen wie die blonde Gräfin Wonsheim, hörten ihr aufmerksam zu. Gustav staunte über soviel »Gelahrtheit« und wußte nicht, ob er sie lächerlich finden oder bewundern sollte. Obwohl von der Richtigkeit aller Aussagen Annettens überzeugt, widerstrebte es ihm, das merken zu lassen, und so sprach er zwischen jeder Pause, die sie machte: »Gehen S’ weg!«

»Ach, und diese Luft! dieses Ozon!« schwärmte das Fräulein. »Daß ich mich hier etablieren könnte!«

»Etablieren Sie sich, soviel Sie wollen«, erwiderte Fee, die hinzugetreten war. »Aber rechnen Sie nicht auf mich beim Aufstieg. Sie sind siebenzehnmal ausgerutscht – ich hab’s gezählt. Mein rechter Arm, an den Sie sich angekrampelt haben wie eine Ertrinkende, ist kaputt. – Sie werden fett, mit Respekt zu sagen.«

Fräulein Nullinger zog den Atem ein und streckte sich, um schlanker auszusehen: »Wenn ich Fett ansetze, kann es nur vor Kummer sein. Das geschieht, jawohl – ich bin der lebende Beweis«, sagte sie nicht ohne Bitterkeit.

Fee entschuldigte sich: »Nun, nun, nehmen Sie mir’s nicht übel.«

Die Gesellschaftsdame schwor, daß sie eher sterben als der Frau Gräfin etwas übelnehmen würde, worauf Fee sie umarmte und sprach: »Sie sind halt nicht verwöhnt, Sie gute Haut, Sie liebes, altes Nullerl.«

Clemens war inzwischen auf einen Felsvorsprung getreten und rief, auf die Wiese jenseits des Baches deutend: »Daher kommt’s, da hat man eine schöne Aussicht, auf die Tante Dolph, auf deine Buben, Wilhelm, die dort herumwimmeln, und auf die Jausen.«

»Und auf einen wackeligen Steg«, fiel Hermann ein. »Wie oft habe ich den schon abreißen lassen, immer wird er wieder aufgerichtet, sogar jetzt bei Hochwasser.«

»Das änderst du nicht, solange der Holzschlag dauert oben im Gebirg«, sprach Wilhelm. »Den Umweg von zweihundert Schritten über die Brücke macht dir ein Holzknecht nie.«

»Ich würde ihn auch nicht machen«, rief Fee, »besonders wenn jemand, der mir lieb ist, am anderen Ufer stehen möcht. Aber schauts nur, schauts, die Aussicht ist wirklich der Müh wert. Lassen wir uns unterdessen die Aussicht schmecken.«

Alle umringten sie. Auf der Wiese trafen einige Diener unter der Leitung Helmis Vorbereitungen zu einem ungemein reichlichen five o’clock tea. Die Gefräßigen unter den jungen Herren verfolgten diese Tätigkeit sehr aufmerksam, während die anderen die Seltsamkeiten zu erspähen suchten, welche der Vogelherd barg.

Gräfin Dolph war am schattigen Waldesrand im Wagen sitzengeblieben. Sie freute sich, ihren Liebling Hermann die Läuferkünste ausführen zu sehen, die er ihr bereits angekündigt hatte. Er rannte bis zu den Weiden am Ende der Wiese und wieder zurück, die Kreuz und die Quer, recht wie ein Füllen, das seine junge Kraft austoben will.

Auf einmal blieb er stehen, hob den Kopf, sah zur Burg empor, und als er dort oben auf dem Berge seine Eltern erblickte, streckte er ihnen die Arme entgegen und warf ihnen Küsse zu:

»Ich seh euch, Vater, Mutter, ihr seid kleinwinzig«, er maß an seinem Finger, »so klein!«

Seine Stimme drang nicht bis hinauf; man sah nur die herzigen Gebärden, unter denen er sich dem Ufer näherte, rühmte den »Prachtbuben«, winkte ihm Grüße zu. Clemens machte ein Sprachrohr aus seinen Händen und rief: »Komm her, wenn’s d’ Courage hast.«

Plötzlich stieß Maria einen Ruf des Schreckens aus, und Hermann, über den Abgrund gebeugt, schrie aus allen seinen Kräften: »Fort vom Wasser … Geh zurück!«

Das Kind schien einen raschen Entschluß gefaßt zu haben, es lief dem Stege zu. Die alte Wärterin, die sich in seiner Nähe gehalten hatte, hinter ihm her, stolpernd, keuchend.

Die übrigen Kinder waren aufmerksam geworden. Ein und derselbe Impuls durchzuckte alle. – Dem Hermann nach zum Steg … Und fort stoben sie, Wilhelms siebenjähriger Hansel an ihrer Spitze.

Es dauerte einige Zeit, bevor Helmi mit Hilfe der Bonne und der Diener die Flüchtlinge wieder eingefangen. Eben auch hatte die Wärterin sich Hermanns zu bemächtigen gewußt; der Widerstand, den er ihr entgegensetzte, schien bereits überwunden, als es ihm gelang, sich mit einem heftigen Ruck loszureißen und zu entrinnen.

»Ich hab Courage! Vater, Mutter, ich komm zu euch!« Er lief und lief, und alle, die ihm von der Wiese her nachgeeilt kamen, blieben weit hinter ihm zurück.

Nun schimmerte sein weißes Kleidchen durch die Zweige der Weiden, und nun erschien er auf dem Steg.

Im selben Augenblick stürmte Hermann der Felsentreppe zu und die jähe Steile ihrer verwitterten Stufen hinab.

Lautlos folgte ihm Maria, und rasch wie ein Pfeil war Willi an ihrer Seite.

Aber auch von den übrigen besann sich keiner, den schwindelnden Pfad zu betreten. Keiner dachte an das, was er wagte. Ein Gefühl nur durchzitterte alle, dieselbe Angst, derselbe Wunsch … Sie glitten, sie wankten, fanden das Gleichgewicht wieder und rannten weiter. Eines Pulsschlags Dauer hielten sie inne in ihrem kühnen Beginnen.

Sorglos schreitend war das Kind bis zur Mitte des Steges gelangt, triumphierte laut und forderte seine Verfolger heraus:

»Jetzt fangt mich, jetzt!« sah sich um, beschleunigte seinen Lauf, strauchelte, stürzte – Alle anderen überholend, erreichte Hermann das Ufer. Den Blick unverwandt auf das Kind gerichtet, das, ohne unterzusinken, von der Strömung fortgerissen wurde, warf er den Rock ab, stürzte sich in die Flut und hatte im nächsten Augenblick den Kleinen erfaßt.

Hermann auf dem Fuße waren Wilhelm und Clemens gefolgt. Der erste voll Geistesgegenwart, wissend, was er wollte, der zweite halb wahnsinnig vor Bestürzung über die Folgen seines verhängnisvollen Scherzes.

Wilhelm lief mit Blitzesschnelle der Brücke zu. Neben dieser war ein Kahn ans Land gezogen, junge Baumstämme lagen da aufgeschichtet, zur Herstellung der Vogelhütte bestimmt. Nach einem von denen griff Wilhelm, ließ ihn aber fallen, als Clemens einen Floßhaken entdeckte und an sich nahm, der im Kahn geborgen oder vergessen worden. Rascher, als Worte schildern, eilten beide zurück und langten glücklich an der Stelle an, wo sich Hermann mit übermenschlicher Kraft gegen die andringenden Fluten behauptete.

»Näher! um Gottes willen, näher!« schrien Wilhelm und Clemens ihm zu, und jeder hielt die Stange fest mit beiden Händen, und sie reichten sie ihm hin, soweit sie konnten. Er griff nach ihr – verfehlte sie …

Da sprang Clemens ins Wasser, kämpfte sich vor bis ans äußerste Ende der von Wilhelm allein nur mühsam im Gleichgewicht erhaltenen Stange und wagte einen verzweifelten, einen vergeblichen Rettungsversuch. Schon hatte die Riesenschraube des Wirbels Vater und Sohn umklammert und riß sie hinunter und warf sie mit wildem Toben wieder empor, keuchend, schaumbedeckt … Ein letztes, ein grausiges Ringen. – – Erschöpft, überwunden, erbarmungslos an die Riffe geschleudert, suchte Hermann noch sein Kind mit seinem Leibe zu decken.

An beiden Ufern drängten Leute zur Unglücksstätte heran;diesseits alle, die Hermann nachgeeilt waren, jenseits seine Diener, Kutscher, Lakaien, zufällig vorüberkommende Arbeiter. Nicht einer unter ihnen, der nicht helfen möchte, der es nicht versucht mit leidenschaftlichem Eifer.

Nur Maria, Hermanns Namen auf ihren Lippen, ihm nachstrebend mit rasender Sehnsucht in die Todesgefahr, blieb regungslos. Ihre ganze Seele war in ihren unnatürlich weit geöffneten Augen, in dem Blick, mit dem sie ihm nachstarrte … Auf einmal war ihr, als sei es Nacht geworden – ihre Pulse stockten, sie wankte und lag in zwei fest um sie geschlungenen Armen. – Carla Wonsheim hielt sie aufrecht, Betty lag schluchzend zu ihren Füßen und umklammerte ihre Knie. – Jemand betete laut – aus der Feme drang verworrenes Geräusch von Stimmen.

Dorthin – aus halber Bewußtlosigkeit erwachend – eilte Maria. Menschen, immer mehr Menschen liefen zusammen. Einige trugen eine schwere Last und legten sie hin – – o wie sanft und vorsichtig …

Nun ist’s, als ginge eine freudige Bewegung durch die Menge: »Der Doktor!« schreit ein atemlos daherrennender Diener, »der Heger bringt ihn, er war bei dessen krankem Kinde.«

Beim Nahen Marias tritt lautlose Stille ein. Alle Leute treten stumm vor ihr zurück … Ein einziger, halb entkleidet, triefend, kommt an sie heran, windet sich winselnd und stöhnend. Er faßt den Saum ihres Kleides: »Treten Sie auf mich! Ich hab’s getan, ich hab ihn gerufen, ich Verdammter, dumm wie ein Tier … Zertreten Sie den hohlen Schädel, zertreten Sie mich!« heulte er und grub sein Gesicht in das Gras zu ihren Füßen.

Maria wich ihm aus. Sie hatte die Leblosen erblickt, die klaffende Wunde auf Hermanns Stirn, das fahle Angesicht ihres Knaben. Da bäumte sie sich zurück, hob die gerungenen Hände gen Himmel und sank nieder mit einem entsetzlichen Wehelaut:

»Tot?… Beide tot?«

Niemand gab Antwort, und sie raffte sich zusammen, und über Hermann gebeugt, bedeckte sie seine Brust mit ihren Küssen und rief: »Er lebt, Doktor – sein Herz schlägt, ich hab es gefühlt …«

Der Arzt, der, wenn auch völlig hoffnungslos, noch nicht aufgehört hatte, Wiederbelebungsversuche an dem Kinde vorzunehmen, antwortete mit einer verneinenden Gebärde.

Sie aber drückte ihren Mund auf den des Entseelten und hauchte ihm ihren Atem ein, bis er versagte, ohne die leiseste Regung des seinen zu wecken. Und nun begriff sie, daß sie ihn verloren hatte. Wieder stürzte sie sich über ihn … aber plötzlich, gestemmt auf seine Schulter, hob sie den Kopf empor und schoß einen Blick voll bebender Scheu nach ihrem Sohne … »Der auch?« stöhnte sie mit einer Stimme, in der alles zusammengepreßt schien, was die Menschenseele an Schmerz zu fassen vermag: »Mein Kind auch!«

Dem Wahnsinn nahe, betete sie, bettelte um ein Wunder.

Als sie heimkehrten, die vor wenigen Stunden froh und glücklich das Haus verlassen hatten, funkelten ihnen Hundert-tausende farbige Lämpchen entgegen. In einem Meer von Licht prangend, empfing Schloß Dornach seinen toten Herrn.