Kapitel 1

Die Vorstellung des »Fidelio« war zu Ende; das Publikum strömte aus dem Opernhause und zerstreute sich rasch nach allen Richtungen. Seit vierundzwanzig Stunden fiel Schnee, emsig, unablässig, in großen Flocken; er lag schwer auf den Dächern, verschleierte die Lichter in den Lampen, machte die Mühe der Wege ausschaufelnden Arbeiter fast vergeblich. Geräuschlos rollten die Equipagen vor; in Pelze gehüllte Männer und Frauen stiegen in weich gepolsterte Wagen. Ein paar Ladendiener hoben ihre sommerlich gekleideten Schönen in einen Komfortable mit zerbrochenen Fenstern. Wie der Wind sauste ein Fiaker nach dem anderen davon. Den Hut auf dem Ohr, den Schnurrbart gewichst, saßen die Eigentümer des »feschen Zeugels« etwas vorgebeugt auf ihrem Bock, in jeder Hand einen Zügel; und die Pferde griffen aus und gaben her an Lebenskraft, was sie geben konnten, um grüne Majoratsherrchen, hochgeborene Reiteroffiziere und Sportsleute so geschwind als möglich zum Spiel in den Jockeiklub zu bringen. An den Rand der Straße gedrängt, rumpelten dichtbesetzte Gesellschaftswagen, von abgejagten Mähren geschleppt, von schlaftrunkenen Kutschern regiert, den Vororten zu. Solide Bürgersfamilien gingen wohlverwahrt, mit geschärftem Appetit – man wird so hungrig im Theater – nach Hause, wo ein kräftiges Abendessen sie erwartete, oder begaben sich in eine Restauration.

Gemächlich, trotz des bösen Wetters, schlenderten einige Infanterieoffiziere dem nächsten Kaffeehause zu. Ein kleines Fähnlein, aber tatendurstig und eroberungssicher. Sie sprachen von den eleganten Damen in den Logen und von den Tänzerinnen und den Pferden anderer. Ein »Einjahrig-Freiwilliger«, der Sohn eines geadelten Bankiers, der sich ihnen angeschlossen hatte, sagte mit Vorliebe: »Wir Kavaliere« und »wir vom Turf«. Daß sein Sessel im väterlichen Kontor das einzige Rößlein war, auf dessen Rücken er es je zu einem Gefühl der Sicherheit gebracht, verschwieg er.

Die Herren wurden von einer jungen Lehrerin überholt, die eiligen Schrittes die Wanderung nach ihrer Wohnung angetreten hatte. Ihr Mantel war fadenscheinig, aber sie fror nicht; ihr Weg war weit und einsam, doch ihr bangte nicht. Sie schwelgte im Nachgenuß der Wonne, die ihrem kunstverständigen Sinn eben geboten worden. Es gab doch auch in ihrem schweren, harten Dasein Stunden der herrlichsten Erhebung. Die Kraft, die sie aus ihnen geschöpft, sollte lange vorhalten. Wer das Manna für die Seele auf Kosten des täglichen Brotes erwerben muß, kann sich dieser holden Labung nicht oft erfreuen.

In der Opernstraße war eine Arbeiterabteilung mit dem Aufrichten einer Schneepyramide beschäftigt, als ein Brougham, mit Rassepferden bespannt, im feierlichen Trabe vorbeikam. Die Flammen eines Gaskandelabers erleuchteten einen Augenblick das Innere des Wagens. Zwei Damen saßen darin, die eine alt und von kränklichem Aussehen, in dunklem Capuchon und Überwurfe, die andere sehr jung, sehr schön, barhäuptig, mit klassischem Profil, ihre Gefährtin um Kopfeshöhe überragend.

»Ho!« rief der dicke Pferdelenker in lässig warnendem Tone den Straßenkehrern zu, und alle zogen sich zurück – nur einer nicht. Der sprang vor, sah mit spöttischer Vertraulichkeit zu dem Kutscher hinauf und zwang ihn auszuweichen, was dieser tat, ohne den Kopf zu wenden, während der Diener neben ihm murmelte: »Wieder zurück aus Amerika und – Gassenkehrer? Gibt’s denn dort keine solche Anstellung?«

»Gibt’s gewiß«, lautete die Antwort, »damit is ihm aber nit gedient. Will uns hier aufpassen und Skandal machen, der Lump.« – Diese Bezeichnung galt einem schlank- und hochgewachsenen Burschen mit blassem Gesicht, eingefallenen Wangen und großen dunkelbraunen Augen. Er trug zerlumpte Kleider; ein kleiner, durchlöcherter Hut, den er ins Genick zurückgeschoben hatte, ließ die Stirn und die trotz der Verkommenheit, die sie ausdrückten, noch hübschen Züge frei. Mit frechem Behagen pflanzte er sich im Lampenscheine auf, und die junge Dame, die den Kopf ans Wagenfenster neigte, unverschämt anstarrend, präsentierte er vor ihr den Besen wie ein Gewehr.

Die Equipage fuhr davon, die Arbeiter lachten: »Schaut’s den Wolfi an!« und Wolfi, den Zornigen spielend, rief: »Dumme Bagage, was lacht’s? – Was hab ich getan?… Militärische Ehren erwiesen. Wem? – der Gräfin Maria Wolfsberg, meiner – meiner lieben Verwandten.«

Die so Bezeichnete hatte bei der Gebärde des Taglöhners keine Miene verzogen, doch verfärbte sie sich ein wenig und sagte mit beklommener Stimme zu ihrer Begleiterin: »Tante Dolph, hast du den Menschen gesehen? Im zerrissenen Sommerrock, mit geplatzten Schuhen bei dieser Kälte …«

»Oh, meine Liebe, der hat seinen Schnaps im Leibe, dem ist wärmer als mir«, erwiderte die Tante fröstelnd.

»Hast du auch gesehen, was er getan hat?«

»Ja, ja – ein Spaßvogel.«

»Das ist kein Spaßvogel – das ist ein Feind, der uns haßt.«

Der Gräfin unterbrach sie: »Hör auf. Du bist nervös. Dazu hat man in deinem Alter noch kein Recht. Ein Betrunkener erlaubt sich einen Scherz – was weiter? Man sieht es, wenn es einen unterhält, sieht es nicht, wenn es einen verdrießt – darüber nachdenken ist krankhaft.«

Maria schwieg. Sie ließ sich nicht gern in einen Streit mit ihrer Tante ein, weil sie regelmäßig den kürzeren zog. Die Tante war klug und schlagfertig; ihr Bruder, Graf Wolfsberg, nannte sie sogar weise und verehrte in der um viele Jahre älteren Schwester seine Vertraute, Ratgeberin und Freundin. Sie hingegen liebte auf Erden nichts als ihn. Kränklich von Jugend auf und sehr unabhängigen Sinnes, hatte sie niemals einen Beruf zur Ehe in sich verspürt und die zahlreichen Bewerber um ihre unscheinbare Persönlichkeit und um ihr glänzendes Vermögen einen nach dem anderen ohne Seelenkampf abgewiesen. Gräfin Adolphine oder Dolph, wie sie in der Familie genannt wurde, lebte seit langem auf ihrem Gute der Pflege ihrer Rheumatismen und ihres Vermögens, das sie, bedeutend vermehrt, ihrem Bruder zu hinterlassen gedachte. Als dieser Witwer wurde, brachte sie ihm, seiner Bitte nachgebend, ein großes Opfer. Sie verzichtete auf ihre Selbständigkeit im eigenen Haushalte und machte sich zur Leiterin des seinen. Da die Zeit kam, Maria in die Welt zu führen, tat sie noch mehr: sie entsagte der ihr notwendigen Bequemlichkeit und Ruhe und durchwachte manche Nacht auf dem Balle, den schmerzenden Kopf mit Diamanten bedeckt und so unvorteilhaft aussehend im großen Staat, daß nicht einmal ihre Kammerfrau es wagte, sie zu bewundern. Dabei langweilte sie sich grausam, langweilte sich sogar, wenn sie die anderen durch ihren scharfen und sprudelnden Witz vortrefflich unterhielt. »Glücklicher Bertrand de Born«, sagte sie, »dem doch die Hälfte seines Geistes nötig war. Ich wäre froh, wenn ich nur für ein Zehntel des meinen Abnehmer fände!«

Zu Hause angelangt, zog sich die Gräfin in ihre Gemächer zurück, während Maria in den Salon ihrer Wohnung trat. Jeden Abend erwartete sie hier einen verehrten Gast – ihren Vater. Es geschah fast nie umsonst. So wenig Zeit das hohe Staatsamt, das er bekleidete, und die Genußsucht, der nachzugeben er selbstverständlich fand, ihm übrigließen: die Stunde, mit der Maria ihren Tag beschloß, wußte er für sie freizuhalten.

Sie ließ sich jetzt den Theatermantel von ihrer Kammerzofe abnehmen und begann sogleich den Tee zu bereiten, zu dem alle Anstalten auf einem Tischchen neben dem Etablissement getroffen waren.

Maria widmete ihrer Beschäftigung die größte Sorgfalt. Mit dem Vorsetzen einer Tasse Tees hatte sie alle kindlichen Pflichten, die ihr Vater ihr auferlegte, erfüllt. Es wäre ihr heißer Wunsch gewesen, etwas für ihn tun, ihm etwas sein zu können; aber sie fühlte wohl, daß die Ahnung eines solchen Ehrgeizes im Herzen seiner Tochter ihn lachen gemacht hätte. Er wollte sie heiter und glücklich sehen, und wenn sie seine Fragen: »Hast du dich unterhalten? – Freut dich dies? – Freut dich jenes?« mit Ja beantwortet hatte, dann wich der strenge Ernst, der gewöhnlich auf seinem Antlitz lag. Dank seiner Großmut hatte sie ihre Wohnung in ein kleines Museum verwandeln können; fiel es ihr aber ein, bei der Betrachtung eines Bildes, einer Bronze etwas von ihren neuerworbenen Kenntnissen in der Kunstgeschichte durchblicken zu lassen, dann wurde seine Miene so spöttisch, daß Maria verwirrt schwieg und sich beschämend albern vorkam. Und der kostbare Blüthner, mit dem er sie jüngst überrascht und der dort in der Ecke stand, eingehüllt in weiche, indische Gewebe, noch hatte sie seinem Spender nichts anderes darauf vorspielen dürfen als Operettenarien und Tanzmusik. Sie war nicht leicht abzuschrecken gewesen, hatte immer einen Übergang gefunden aus dem Trivialen ins Schöne, aus dem Zerstreuenden ins Erhebende – aber nach den ersten Takten schon wurde das gefürchtete »Gute Nacht, Maria« gesprochen, und der Graf war aus dem Zimmer verschwunden. In solchen Fällen pflegte sie sich nicht zu unterbrechen; es hätte ihn, der sich in seinem Hause gegen Rücksichtnahme wehrte wie ein anderer gegen Rücksichtslosigkeit, sehr verdrossen. Nun blieb Maria in seiner Gegenwart bei dem Vortrage von Arietten und Walzern. Die Musik, die ihrem Geschmack entsprach, übte sie aus vor dem Bilde ihrer Mutter, das lebensgroß an der Wand über dem Piano hing. Du hättest deine Freude an mir gehabt, sprach sie in Gedanken zu ihr. Du hättest gewußt, daß ich nur zu wollen brauche, um eine Künstlerin zu werden. Aber ich werde nicht wollen, ich darf nicht. Unsereins darf so etwas nicht. Hättest du das auch gefunden, Mutter?

Ihr Blick haftete voll inniger Begeisterung auf dem edlen Angesicht, dem das ihre so ähnlich sah. Es war dasselbe reine Oval, dieselbe von kleinen Locken der reichen, aschblonden Haare beschatteten Stirn. Sie bildete zwei kaum sichtbare Hügel über den feinen Brauen, den etwas tiefliegenden blaugrauen Augen. Es war derselbe Schnitt der schlanken Nase, der leicht geschwellten Lippen und dieselbe wahrhaft königliche Gestalt. Aber ein anderer Geist offenbarte sich in jedem der beiden schönen Wesen. Marias ganze Erscheinung bekundete Entschlossenheit, Seelenstärke, Klarheit. Die Verstorbene hingegen hatte einen Ausdruck von eigentümlicher Schwermut und hilfloser Schüchternheit. Das Bild, aus dem sie unvergänglich jung und lieblich herabsah, war in ihrem achtzehnten Jahre, dem ersten Jahre ihrer Ehe, gemalt worden. Es stellte sie dar in einem weißen Spitzenkleide, mit bloßem Halse, mit nachlässig herabhängenden Armen, eine weiße, kaum aufgeblühte Rose in der Hand. Den Kopf leicht vorgeneigt, schien sie traumverloren zu lauschen. Maria besann sich noch, sie so gesehen zu haben im Konzert, in der Oper, und auch wenn der Vater oder sie zu ihr sprachen.

Aber diese freudigen Erinnerungen an die Mutter lagen fern, und die, die sich an eine spätere Zeit knüpften, waren unsäglich traurig. Die Gräfin, von einer Gemütskrankheit ergriffen, war langsam hingesiecht. Immer teilnahmsloser, immer schattenhafter wandelte sie stundenlang im Sommer durch den Garten, im Winter durch die Zimmer und durch die Gänge, blieb manchmal horchend an einer Tür stehen, machte eine Gebärde des Entsetzens und trat ihre Wanderungen stumm und rastlos wieder an.

Die ersten Symptome des Leidens sollten durch einen heftigen Schrecken hervorgerufen worden sein, dessen Veranlassung niemand in Marias Umgebung kennen wollte. Sie zweifelte nicht, daß ein Geheimnis da verborgen liege, und ließ nicht nach in ihrem leidenschaftlichen Eifer, es zu entdecken. Ganz besonders wurde ihre ehemalige Kinderfrau, die mit unbegrenzter und sklavischer Liebe an ihr hing, mit Fragen von ihr bestürmt.

»Sag es mir, Lisette, geh, sag es mir«, hatte sie einst gefleht und, so geizig sie mit ihren Zärtlichkeiten war, ihren Arm um den Hals der Getreuen geschlungen. »Wenn du mich liebhast, sagst du’s gleich, in dieser Minute … Wenn du es nicht sagst, dann weiß ich, daß dir nichts an mir liegt.«

Lisette sank in sich zusammen. Ratlos und verzweifelt starrten ihre grauen Augen ins Leere, ihre Wangen wurden fahl, und ihre Lippen bebten. »Wär ich doch tot«, jammerte sie, »daß mich das Kind nicht mehr fragen könnt.«

– Tot? – Maria trat weg von ihr und senkte den Kopf.

Lisette hatte sich den Tod gewünscht. Sie, die nicht von ihm reden hören konnte, die in jedem, der ihn nur nannte, ihren Feind sah, die das Leben als das höchste aller Güter schätzte, noch soviel von ihm erwartete, die tanzen wollte auf der Hochzeit Marias und Kinder des Kindes heranziehen, alle – und wenn ihrer zwölfe wären!… Lisette hatte sich den Tod gewünscht!

Das junge Mädchen war tief ergriffen und mußte Tränen niederkämpfen, um laut und vernehmlich sagen zu können: »Ich werde dich nie wieder fragen.«

Maria hatte Wort gehalten. – Seitdem waren sechs Jahre vergangen.