Les souvenirs des vieillards a-t-on

sont une part d’héritage qu’ils doi

vent acquitter de leur vivant.

G. Lenôtre

 

Vorwort

Die Geschichte des Erstlingswerkes, die K.E. Franzos vor zwölf Jahren herausgegeben hat, brachte auch einen Beitrag von mir. Alles, was darin ausgesagt ist, unterschreibe ich heute noch, einen Irrtum aber muß ich berichtigen. Meine Erinnerungen an die Kinderzeit, meinte ich damals, sind nicht besonders lebhaft, und erfahre nun, daß sie, um es zu sein, nur geweckt zu werden brauchten. Es unterblieb zu jener Zeit; denn so alt ich schon war, lag doch noch etwas wie Zukunft vor mir, und auf sie, nicht zurück zur Vergangenheit, lenkten sich meine Gedanken.

Nun stehe ich am Ziel, der Ring des Lebens schließt, Anfang und Ende berühren sich. Mit einer Macht des Erinnerns, die nur das hohe Alter kennt, lebt die Kindheit vor mir auf. Aber nicht wie ein kräftig ausgeführtes Gemälde auf hellem Hintergrund, in einzelnen Bildern nur, die deutlich und scharf aus dem Dämmer schweben. Die Phantasie übt ihr unbezwingliches Herrscherrecht und erhellt oder verdüstert, was sie mit ihrem Flügel streift. Sie läßt manches Wort an mein Ohr klingen, das vielleicht nicht genauso gesprochen wurde, wie ich es jetzt vernehme; läßt mich Menschen und Begebenheiten in einem Lichte sehen, das ihnen eine an sich vielleicht zu große, vielleicht zu geringe Bedeutung verleiht. Ihrer über das Kindergemüt, dessen Entfaltung ich darzustellen suchte, ausgeübten Macht wird dadurch nichts genommen. Das Schwergewicht liegt auf dem Eindruck, den sie hinterlassen haben, und ihn bestimmt die Beschaffenheit des Wesens, das ihn empfing. Dieses Wesen ist treu geschildert, buchstäblich und im Geiste.

 

Rom, Januar 1905

 

Unter den Augen der Meinen, unter dem Einfluß ihrer verwöhnenden Liebe sind diese Skizzen entstanden. Ein Reflex der Teilnahme, die sie erweckten, fiel auf sie, und ich dachte: Ihr seid etwas.

Jetzt bin ich allein und bin in Rom, und hierher werden sie mir nachgesandt, wenn auch erst im Negligé der Korrekturbogen, doch schon als »Drucksache« und vorbereitet zur Fahrt in die Fremde. – Meine Kleinen, ihr kommt mir recht armselig vor mit eurem Geplauder von Puppen und Ammenmärchen. Mich beschäftigen andere Dinge als eure Geringfügigkeiten. Die Weltgeschichte spricht zu mir, ich lebe an der Stätte, an der Jahrhunderte hindurch ihr mächtiger Puls geschlagen hat, und bin da, ein dankbarer Gast, fortwährend zu hohen Festen und großartigen Schauspielen geladen … Ich kann durch den Steineichenhain auf die Höhe in der Villa Medici wandeln und die Sonne untergehen sehen hinter dem Janiculus. Majestätisch ist das Tagesgestirn versunken; in den feurigen Himmel ragt die Kuppel von Sankt Peter, und durch die Lüfte gleiten, andachtweckend, auf tönenden Schwingen die silbernen Klänge ihrer Glocken … Der graue Streifen, der links am Horizont emporzusteigen scheint, das ist das Meer, das Tyrrhenische, das auf seiner ruhelos wogenden Brust die Flotten Roms getragen hat, zur Eroberung vergänglicher Reiche und unvergänglicher Kunst … Und bei der Tassoeiche kann ich stehen und ihrem Gestöhn im Winde lauschen. Quercia del Tasso! Der Blitz hat sie getroffen und ihren Stamm zerspellt, der Sturm hat wild in ihrem Geäste gehaust, aber noch begrünt sich alljährlich ihr gelichteter Wipfel. Sie strotzte in Kraft, war jung und reich bekleidet, als der Poet sich todesmatt zu ihr herüberschleppte von Sankt Onofrio, wo er »im Verkehr mit den heiligen Vätern den Verkehr mit dem Himmel begonnen hatte«. Was galten ihm noch seine höchsten Erdenwünsche, die Dichterkrönung auf dem Kapitol, die Huld der angebeteten Frau? … Aber der Mai war nahe, in Duft und in Blüte stand die Welt, und Sehnsucht nach dem herben Glück der letzten Abschiedsgrüße zog ihn hierher in den Schatten seiner Eiche. Seine sterbenden Augen haben auf dem Bilde geruht, das vor uns liegt, und der Gedanke verleiht der traumhaften Schönheit des Anblicks eine wehmütige Verklärung. Ein Hauch ewigen Frühlings weht über den Geländen der holden Berge, aber der Monte Gennaro besinnt sich, daß Winter ist, und trägt seine Tiara aus Schnee … Und in der Tiefe liegt die Stadt, die heute noch keine Fabriken hat mit rauchenden Schlöten und keine berußten Dächer, und selbstleuchtend erscheinen im Abendlichte ihre schimmernden Mauern. Wie tot liegt sie da, die soviel verbrochen und soviel erduldet hat. Kein Laut dringt herauf, vernehmbar nur dem inneren Ohr ist ihre feierliche Sprache des Schweigens.

Mein stilles Fest auf dem Janiculus habe ich gestern begangen und heute auf dem Forum einige Stunden zugebracht, geleitet von einem liebenswürdigen und gar zuverlässigen Führer, dem jüngsten Buche meines verehrten Freundes, Professor Hülsen. Doch was sind einige Stunden auf dem Forum! Nicht mehr als ein eiliges Vorüberwandeln an Stätten, die durch herrliche Taten geweiht, durch entsetzliche Greuel gebrandmarkt worden. Von der Basilika Julia bin ich zum Heiligtum der Juturna gewandert, zu Santa Maria Antiqua, zum Atrium Vestae und hinauf zur Velia, zum schönsten der römischen Triumphbogen. Und dann auf dem Rückweg betrat ich die Sacra Via und meinte den Boden unter meinen Füßen erzittern zu fühlen und dröhnen zu hören vom Marsche der Legionen. Eine Riesenschlange, die Reiche erdrückt hat in ihren gewaltigen Ringen, bewegt sich der Siegeszug zum Kapitol, umbraust vom Zuruf der Menge. Goldene Beutestücke funkeln, die Ketten der Gefangenen klirren. Sie kommen am Tullianum vorbei, und dort, in seine »abschreckende Dunkelheit« hinabgeschleudert, verschwinden Heerführer, Fürsten, Könige. Niemals staut der Zug, unaufhaltsam strebt er vorwärts, dem Triumphwagen nach zur Höhe, auf der Jupiter in seinem Heiligtume thront …

Noch ganz erfüllt von den Eindrücken, die ich Tag für Tag empfange, hier in diesem großen Rom, kehre ich in meine Behausung zurück und sollte meine Skizzen vornehmen, auf die Druckfehlerjagd ausziehen und entgleisten Sätzen auf die Beine helfen. Das wird mir schwer. Mein Glauben an euer Etwas ist mir entschwunden, ihr armen Blätter. Weil ihr aber eure papiernen Flügel schon entfaltet habt, so fliegt denn, so gut ihr könnt. Heimwärts, rate ich euch, dorthin, wo ihr geboren seid und wo immerwache Liebe euch empfängt. Indessen wird Rom den Purpurmantel seiner Rosen umgetan haben, und bei uns zu Hause werden an Bäumen und Sträuchern die Knospen schwellen und Schößlinge in Unzahl hervorsprießen. Das ist dann auch für das grüne Seelchen, dessen Geschichte ihr erzählt, der richtige Augenblick, sich ans Licht zu wagen.

 

Meine Schwester Friederike war vierzehn Monate, ich war vierzehn Tage alt, als unsere Mutter starb. Dennoch hat eine deutliche Vorstellung von ihr uns durch das ganze Dasein begleitet. Ihr lebensgroßes Bild hing im Schlafzimmer der Stadtwohnung unserer Großmutter. Ein Kniestück, gemalt von Agricola. Er hat sie in einem idealen Kostüm dargestellt, einem bis zum Ansatz der Schultern ausgeschnittenen dunkelgrünen Samtgewand mit hellen Schlitzen und langen, weiten Ärmeln. Der Kopf ist leicht gewendet und etwas geneigt; der Hals, die auf der Brust ruhende Hand sind von schimmernder Weiße und gar fein und schön geformt. Das liebliche Gesicht atmet tiefen Frieden; die braunen Augen blicken aufmerksam und klug, und aus ihnen leuchtet das milde Licht eines Geistes so klar wie tief.

Zu diesem äußeren Ebenbilde stimmten die Schilderungen, die uns von dem Wesen, dem Sein und Tun unserer Mutter gemacht wurden. So einhellig wie über sie habe ich nie wieder über irgend jemand urteilen gehört. Wenn die Rede auf sie kam, hatten die verschiedensten Leute nur eine Meinung. Und gern und oft wurde von ihr geredet. Besonders hoch in Ehren stand ihr Gedächtnis auf ihrem väterlichen Gute Zdißlawitz, wo der größte Teil ihres Lebens verflossen war.

Ich glaube, daß meine Liebe zu den Bewohnern meiner engsten Heimat ihren Ursprung hat in der Dankbarkeit für die Anhänglichkeit und Treue, die sie meiner Mutter über das Grab hinaus bewahrten. Die Diener sprachen von ihr, die Beamten, die Dorfleute, die Arbeiter im Garten. Ein alter Gehilfe nannte ihren Namen nie, ohne das Mützlein zu ziehen: »Das war eine Frau, Ihre Mutter! … Gott hab sie selig.« Da wurde mir immer unendlich stolz und sehnsüchtig zumute: »Ich seh ihr ähnlich, nicht wahr? Geh, sag ja!« – Er zwinkerte mit den Augen und schob die Unterlippe vor: »Ähnlich? Ähnlich schon, aber ganz anders.« Es sollte sich niemand mit ihr vergleichen wollen, nicht einmal ihre eigene Tochter. – »Ja«, fuhr er nach einer Pause fort, »blutige Köpfe hat’s gegeben bei ihrem Begräbnis; geschlagen haben sie sich um die Ehre, ihren Sarg zu tragen. – Das war eine Frau!«

Man hatte uns die Überzeugung beigebracht, daß sie vom Himmel aus über uns wache und uns als ein zweiter Schutzengel umschwebe in Stunden der Krankheit oder der Gefahr. Ich vergesse nie, mit welcher Zuversicht und mit welcher geheimnisvollen Glückseligkeit das Bewußtsein ihrer Nähe mich oft erfüllte.

In einem Punkte hatte ich dasselbe Schicksal erfahren wie sie. Auch ihr Leben war um den Preis des Lebens ihrer Mutter erkauft worden, und auch ihr war die auserlesene Schicksalsgunst zuteil geworden, für den schwersten Verlust den denkbar besten Ersatz zu finden – die liebreichste und gütigste Stiefmutter. Die ihre, unsere vortreffliche Großmutter Vockel, erreichte, unserer Kindheit zum Heile, vorgerückte Jahre. Sie blieb bei uns nach dem Tode ihrer Tochter; sie verließ uns auch dann nicht, als unser Vater sich wieder verheiratete.

In Wien bezog sie eine Wohnung im ersten Stock seines Hauses, dem sogenannten »Drei-Raben-Haus«, auf dem damals sogenannten »Haarmarkt«. Wir bewohnten den zweiten Stock. Im Sommer lebte sie mit uns auf dem Lande.

Sie war klein und mager und hatte einen für ihre zarte Gestalt etwas zu großen Kopf. Ihr Gesicht blieb noch im Alter schön. Ein edel und kräftig gebautes Gesicht. Die Stirn von klassischer Bildung, die Nase schlank und leicht gebogen, mit feinen, beweglichen Flügeln. Der Mund schmal und gerade, die Lippen fest geschlossen – so charakteristisch für die vereinsamte, stolze, schweigsame Frau. Ihre großen, tiefdunkeln Augen hatten einen schwermütigen Ausdruck. Ich habe ihn manchmal sich wandeln gesehen in einen schmerzlich-geringschätzigen; zu einem verachtungsvollen, verdammenden wurde er nie. Sie wunderte sich nicht leicht über ein Unrecht, das sie begehen sah; durch eine hochherzige Handlung, deren Zeugin sie war oder von der sie hörte, konnte sie so freudig überrascht werden wie durch ein unerwartetes selbsterlebtes Glück. Ein solches, ein eigenes, war ihr gleichsam nur im Vorübergehen zuteil geworden. Unser Großvater und sie hatten geheiratet aus Liebe – nicht zueinander, sondern zu einem Kinde, zu seinem Kinde. Und in dieser Liebe erst hatten sie sich gefunden, und ihr anfangs geschwisterliches Verhältnis reifte langsam zu einem schönen ehelichen heran.

Der Tod löste den Bund und nahm auch bald darauf der Verwitweten die einzige vielgeliebte Tochter. Diese hatte in ihrem Testamente ihren Gatten zum Herrn auf Zdißlawitz eingesetzt. So war nun unsere Großmutter ein Gast geworden in ihrem ehemaligen Haus und Heim. Sie beschied sich. Sie wünschte nichts mehr, als nur in der Nähe der Kinder ihres Kindes leben zu dürfen.

In der kleinen Erzählung Die erste Beichte habe ich eine Skizze von der herrlichen Frau entworfen. Die eigentümliche Art ist erwähnt, in der sie, die kaum je eine Besorgnis, geschweige denn eine Klage aussprach, Klagen aufnahm. »Alles geht vorüber, alles wird gut«, sagte sie halblaut vor sich hin. Und wenn es in ihrer Macht lag, das Üble und Traurige gutzumachen, dann wurde es gut.

Ausgesprochen hat sie es nicht, im stillen soll sie aber sehr gelitten haben, als unser Vater sich wieder vermählte und an die Stelle unserer Mutter eine jüngere und schönere Frau trat, »Maman Eugénie«, eine geborene Freiin von Bartenstein. Das erste Kind, das sie zur Welt brachte, war ein Knabe und das zweite wieder ein Knabe, während die Verstorbene ihrem Gatten nur Töchter geboren hatte. Nun würden wir nichts mehr gelten, besorgte die Großmutter. Zurückgesetzt würden wir werden und zu fühlen bekommen, daß es eigentlich uns, den Älteren, zugestanden hätte, männlichen Geschlechts zu sein.

Die Besorgnisse der lieben alten Frau erwiesen sich als ganz ungerechtfertigt. Unsere junge Mama schloß uns ebenso innig ins Herz wie ihre eigenen Kinder, die kleinen Brüder und das holde Schwesterlein, das ihnen nachfolgte. Wir ließen es uns sehr wohl sein unter der milden mütterlichen und großmütterlichen Herrschaft, und unser Übermut wäre allmählich stark ins Kraut geschossen, wenn ihn die Hand der temperamentvollen Kinderfrau nicht niedergehalten hätte.

Sei gesegnet noch in deinem Grabe, in dem du seit so langen Jahren ruhst, du brave Josefa Navratil, genannt Pepinka! Du hast dir ein unschätzbares Verdienst um uns erworben. Du hast uns zu einer Zeit, in der die weisesten Vorstellungen keinen Weg zu unserem Verständnis gefunden hätten, durch eine rechtzeitig angebrachte demonstratio directa bewiesen, daß der Schuld unerbittlich die Strafe folgt. Gewiß trifft das auch im Leben ein, aber oft so spät und in so verhüllter Weise, daß menschliche Augen den Zusammenhang nicht mehr entdecken. In unserer Kinderstube ging die Sache rasch und einfach vor sich. Wenn eine Tür heftig zugeworfen wurde, wenn es beim Spiel allzu lautes Geschrei oder arge Streitigkeiten gab, kam Pepi daher auf ihren großen, weichen Schuhen und hielt Gericht. Ohne erst zu fragen, wer der Schuldigste sei, teilte sie – darin ein ganz getreues Bild des Schicksals – ihre Schläge aus. Wir nahmen sie ohne Widerspruch in Empfang und liebten unsere Pflegerin und Richterin. Wir fürchteten sie nicht einmal sehr, so laut sie manchmal auch zankte und so zornig sie uns anfunkeln konnte mit ihren feurigen schwarzen Augen.

 

Hatte eine erziehliche Maßregel unserer Schicksalsgöttin sehr hart getroffen, dann ging man zu Anischa, meiner ehemaligen Amme, und weinte sich bei ihr aus. Sie war der lichte Stern unserer Kinderstube und immer freundlich und gut. Auch bildhübsch war sie und lieblich anzusehen in ihrer heiteren hannakischen Tracht. Sie verwandte viel Sorgfalt auf ihr Äußeres, sie schlang das bunte Tuch mit den langen Fransen kunstvoll um ihren Kopf, trug immer nur schimmernd weiße Halskrausen, seidene, mit Flittern benähte Leibchen und tadellos gesteifte und geplättete Röcke.

Pepinka brummte sie manchmal an: »Was putzen Sie sich so auf? Er kommt heute doch nicht.«

Die arme Anischa wurde jedesmal feuerrot und antwortete leise und demütig: »Heute nicht und morgen nicht.«

Er kam auch nicht. Hingegen erschien alljährlich im Herbste eine ältliche Frau, die wir, dem Beispiel Anischas folgend, »pani kmotrenka« nannten, in Zdißlawitz. Ein derber Junge in schmucker hannakischer Tracht begleitete sie. Er stand im selben Alter wie ich, und Pepi sagte, daß er eine Art Bruder von mir sei. So erwiesen wir ihm denn alle geschwisterlichen Ehren, fütterten ihn, beschenkten ihn, luden ihn ein, an unseren Spielen teilzunehmen. Er aß, was man ihm auftischte, er nahm, was man ihm anbot, aber er dankte nicht, er lächelte nicht; er verhielt sich uns gegenüber trotzig wie ein Bock. Leichten Herzens sagten wir ihm Lebewohl, wenn er sich wieder empfahl. Anischa begleitete ihren Besuch zum Wägelchen, das ihn vor dem Dorfwirtshaus erwartete. Sie hatte rote Augen, wenn sie zurückkam, war aber nicht mehr so bedrückt und befangen wie tagsüber während der Anwesenheit des wortkargen Bäuerleins.

Ein anderes Ereignis wiederholte sich gleichfalls alljährlich, dieses aber im Frühjahr und fast unmittelbar nach der Ankunft auf dem Lande. Da war es gewöhnlich unsere Großmutter, die eines Morgens eintrat und sagte: »Pepi, der Bader ist da«, worauf Pepi ihrem Schranke ein Pack Wäsche entnahm und das Zimmer verließ. An einem solchen Tage sahen wir sie nicht mehr; sie kam erst am folgenden wieder, hatte einen verbundenen Arm und speiste uns mit einer ausweichenden Antwort ab, wenn wir fragten, wo sie gestern gewesen sei und warum sie einen Verband trage.

Einmal aber schlichen Adolf, der ältere der Brüder, und ich ihr nach bis zum ersten Absatz der Treppe, und von dort aus sahen wir sie in eines der sonst immer verschlossenen ebenerdigen Zimmer treten.

Wir schlichen weiter bis zum nächsten Absatz und bis zum dritten und endlich bis zur Tür, hinter der Pepi verschwunden war. Drinnen im Zimmer wurden Sessel gerückt, es wurde Wasser in Gläser und in Lavoirs geschüttet, und eine fremde Männerstimme sprach höhnisch: »Fürchten S’ Ihnen? Recht haben S’. Warten S’ nur, was Ihnen heut geschieht!«

Du lieber Gott, was ging da vor? Von Angst und von Helfedrang ergriffen, warfen wir uns gegen die Tür. Sie war verschlossen. Wir schrien und klopften und hörten Papa klagen: »Jesses, die Kinder!«

»Ruh geben! Draußen bleiben!« wetterte die Männerstimme.

In starrem Entsetzen schwiegen wir eine Weile. Endlich wurde die Tür von innen aufgesperrt, geöffnet, und heraustrat das Stubenmädchen und hielt in der Hand eine große Schale voll Blut. Nun überstieg unsere Bestürzung alle Grenzen. Blut! Blut! Soviel Blut! Von wem das viele Blut?

»Von der Pepi«, antwortete das unbegreifliche Mädchen ganz gleichgültig. »Der Doktor hat ihr zur Ader gelassen. Und jetzt seien Sie still, sonst wird der Doktor auch Ihnen zur Ader lassen.«

»Zur Ader gelassen! Was ist das? Wie ist das? Muß man sterben, wenn man zur Ader gelassen bekommt?«

Sie lachte und riet uns, gleich hinaufzugehen, wenn wir nicht noch gestraft werden wollten für unsere Neugier.

Die Neugier blieb vorläufig ungestillt, aber unsere Seelenruhe wurde uns zurückgegeben, denn drinnen in der Stube erhob die Stimme Pepinkas sich in alter Kraft und befahl den »verdunnerten Kindern«, sogleich zur Anischa zu gehen.

Wir gehorchten und hatten dann noch einen sehr guten Tag fast uneingeschränkter Freiheit, und am Abend erzählte uns Anischa, viel länger als ihr sonst erlaubt wurde, schöne, wundervolle Märchen.

O welch ein Erzählertalent war unsere Anischa! Wie verstand sie zu schildern, zu spannen, ihre Phantasiegebilde klar und lebendig hinzustellen, sie aufsteigen, vorüberschweben, entschwinden zu lassen! Jammervoll nüchtern erscheint mir die Kinderstube, aus der die Märchenerzählerin »grundsätzlich« verbannt ist. Wir haben das Glück genossen, uns nach Herzenslust in einer Wunderwelt ergehen zu dürfen, sowohl als kleine wie später als größere Kinder. Es war uns ein stolzes Vergnügen, eine Menge zu hören und zu sehen, was andere nicht hörten und nicht sahen: im Gurgeln des Brunnens am Ende des Gemüsegartens die Stimme des Wassermanns; im Glanz, der im Hochsommer über die Ähren fliegt, huschende Lichtgeister, und Elfchen im Laube, wenn es leise zu rascheln beginnt. Diese Elfchen, wußte Anischa, sind zu Mittag nicht größer als Libellen. Aber sie wachsen sehr, sehr geschwind, und um Mitternacht sind ihre Flügel wie Adlerflügel, und das Laub stöhnt, wenn sie mit Windeseile hindurchfegen.

»Ja, gewiß! ja, es stöhnt!« Wir alle behaupteten es. Jedes von uns wollte einmal um Mitternacht wach gewesen sein und das Stöhnen vernommen haben. Nur unsere Sophie, die nicht; die wußte noch nichts von Wassermännern, Irrwischen und Elfen. Sie schlief schon lang, diese Kleine, zur Stunde des Märchenerzählens, und Anischa saß neben ihrem Bettchen, und wir saßen auf Schemeln zu ihren Füßen.

Ganz anders arg und grausig als das Stöhnen des Laubes beim Wehen leiser Lüfte waren die schrillen Schmerzenslaute, die sich erhoben, wenn ein heftiger Sturm die Ecke des Hauses, die wir bewohnten, umrauschte. Es brach aus ihm wie Schluchzen, flüsterte wie hastiges Flehen, glitt über die Fensterscheiben mit tastenden Fingern …

»Hört ihr?« fragte dann eines von uns die andern, »das ist Melusine, die ihre Kinder sucht, nach ihnen ruft, um ihre Kinder jammert und weint.« Melusine … Grad ist sie vorbeigeflogen; meine Schwester hat ihren weißen Schleier erblickt und sagt ganz leise: »Lösche das Licht, Anischa, daß sie uns nicht sieht; sie glaubt vielleicht, wir sind ihre Kinder, und holt uns.«

Ein Märchen gab’s, das erzählte Anischa nur mir allein, weil ich so couragiert war. Meine Schwester, die kleinen Brüder durften nichts hören von der »zlá hlava«; sie hätten lang nicht einschlafen können und schwere Träume gehabt.

Diese »hlava«, das war ein Kopf, nichts weiter als ein Kopf, ohne alles Zubehör. Er hatte struppige Haare und einen struppigen, feuerroten Bart, Teufelsaugen und Ohren so groß, daß er sie als Flügel gebrauchen konnte. Aber nicht lange, weil er sehr schwer war und bald wieder zu Boden plumpste. Der Kopf war ein König und hatte ein Heer, und im Kriege rollte er ihm voran, eine fürchterliche Kugel, und biß den Menschen und den Pferden in die Füße, daß sie reihenweise tot hinfielen. Er hatte auch eine Königin, die neben ihm schlafen mußte auf demselben Polster und vor Schrecken über seinen Anblick ganz weiß wurde, immer weißer und endlich selbst ein Gespenst.

Greuliche Untaten beging die »hlava«, und eine ihrer schlimmsten war, daß sie der Großmutter Anischas, als diese einmal des Nachts von einem Botengang heimkehrte, auf der Hutweide nachgerollt kam … Die Großmutter hörte sie pusten, knirschen und schnauben und rannte! rannte! Bis zu ihrem Hause rannte sie; dort aber stürzte sie zusammen und wußte nichts mehr von sich, eine Stunde lang – o länger als eine Stunde! Am nächsten Tag ging der Großvater und mit ihm das halbe Dorf auf die Hutweide, und an der Stelle, wo die Großmutter das Scheuel zuerst pusten, knirschen und schnauben gehört, lag ein großer, runder, weißer Stein, den – man schwor darauf – noch niemand da gesehen hatte. Nur der Hirtenbub behauptete steif und fest, daß der Stein von jeher da gewesen sei. Aber der Hirtenbub war dumm und ein halber Trottel. Der Stein wurde eingegraben, und heute noch machen die Leute einen Umweg, wenn sie an dem Platz, wo er liegt, vorüberkommen.

Ich nahm natürlich Partei gegen den Hirtenbuben. Ich wäre am liebsten gleich nach Trawnik, wo Anischa zu Hause war, gefahren, hätte die Hutweide besucht und den gespenstischen Stein ausgegraben. Und je entsetzter Anischa sich stellte über meine Tollkühnheit, desto mehr fühlte ich sie wachsen und verstieg mich zu den Versicherungen: »Ach, ich möchte, ich möchte, daß die hlava einmal mir nachgerollt käme! Ich würde nicht davonlaufen, o nein! o nein! Ich würde stehenbleiben – ich! Ich würde mich umsehen und der hlava dreimal nacheinander recht ins Gesicht das heilige Zeichen des Kreuzes machen. Da wäre sie gleich weg. O ich fürchte mich nicht – ich weiß nicht, wie das ist, sich fürchten; ich hab eine große Courage!«

 

Es war viel Geflunker bei dieser Behauptung. Ich wußte sehr gut, was Furcht sei, denn in der Furcht vor dem Papa waren meine Schwester und ich aufgewachsen. Man hatte sie uns in der Kinderstube eingeflößt durch eine Drohung, die sich nie erfüllte, stets aber wirksam blieb: »Wartet nur, ich sag’s dem Papa, und dann werdet ihr sehen!«

Was wir sehen würden, blieb in ein Dunkel gehüllt, das unsere Phantasie mit Schrecknissen bevölkerte. Kein Wunder. Den Zorn unseres Vaters zu erfahren wäre entsetzlich gewesen. Nicht nur kleinen, auch erwachsenen Leuten leuchtete das ein. So liebenswürdig Papa in guten Stunden sein konnte, so furchtbar in seinem unbegreiflich leicht gereizten Zorn. Da wurden seine blauen Augen starr und hatten den harten Glanz des Stahls, seine kraftvolle Stimme erhob sich dräuend – und vor diesen Augen, dieser Stimme hätten wir in den Boden versinken mögen, wenn wir uns auch nicht der geringsten Schuld bewußt waren.

Zum Schaden unseres Verhältnisses zu ihm ließ sich Papa in gereizter Stimmung manchmal zu dem unglückseligen Ausspruch hinreißen: »Nicht geliebt will ich sein, sondern gefürchtet!« Wie sehr er sich damit täuschte, lernten wir später einsehen; als Kinder nahmen wir die Sache als ausgemacht an und taten ihm den Willen, weit über seine eigene Erwartung. Wir zwei Schwestern zitterten und bebten vor ihm; die Brüder waren in seiner Nähe viel unbefangener, obwohl Pepi mit ihrer Drohung, sie der Strenge Papas zu überliefern, gegen sie besonders freigebig war.

Ich erinnere mich eines Tages, an dem meine Schwester das Mißgeschick erfuhr, beim Spielen mit dem Balle eine Fensterscheibe einzuschlagen. Nun war uns die peinlichste Sorgfalt für alles Zerbrechliche, das uns umgab, zum Gesetz gemacht worden, und die arme Kleine, die sich so schwer daran vergangen hatte, geriet in sinnlose Verzweiflung.

»Der Papa! Der Papa!« rief sie in Todesangst, kniete auf den Boden nieder, rang die Händchen, faltete sie und schluchzte herzzerreißend.

Wir umstanden sie betroffen und ratlos. Großmama, die neben uns wohnte, war auf Fritzis Geschrei herbeigeeilt, und sie und Pepinka sprachen der Armen Trost zu und bemühten sich, sie zu beruhigen. Ganz umsonst. Sie war schon blau im Gesichte, stoßweise rang sich der Atem aus ihrer Brust, in Bächen rannen die Tränen über ihre Wangen.

Großmama, sehr besorgt, tauschte leise einige Worte mit Pepi. Dann, nach einem neuen, vergeblichen Versuch, ihre kummervolle Enkelin zu beschwichtigen, verließ sie das Zimmer. Bald darauf betrat sie es wieder, und wer kam hinter ihr hergeschritten? Der unbewußte Urheber all dieses Leids und Schreckens – der Papa.

Lautlose Stille empfing ihn. Fritzi verstummte. Keines von uns regte sich. Der Blick des Vaters glitt über die Gruppe seiner bestürzten, angsterfüllten Kinder und blieb auf der kleinen Knienden haften. Sie war wie versteinert. Ihre prachtvollen braunen Augen starrten weitgeöffnet zum Vater empor; nur die Lippen des schmerzverzogenen Mundes zuckten. Und jetzt ließ sich eine überaus sanfte Stimme schmeichelnd, ja bittend vernehmen: »Fritzi, meine Fritzi, weine nicht! Meine Fritzi soll nicht weinen, meine Fritzi ist ja brav. Ich hab ja meine Fritzi lieb!« Und auf einmal sahen wir unsere Älteste hoch über uns erhoben in den Armen Papas und hörten sie wieder schluchzen, aber bei weitem nicht mehr so heftig wie früher.

Der Papa lachte: »Dummheit! Dummheit! Die Fritzi hat ein Fenster zerschlagen; das macht nichts. Der Papa ist ja gar nicht bös – der Papa … Schau her, Fritzi, schau, was der Papa tut!«

Er ließ sich ihren Ball reichen und schleuderte ihn durch das nächste Doppelfenster, dessen beide Scheiben er, wie aus der Pistole geschossen, durchflog. Eine Sekunde schweigender Überraschung, und dann lag an die Schulter des Papas geschmiegt Fritzis selig lächelndes Gesichtchen. Sie weinte noch, aber Tränen heller Freude und Dankbarkeit. Und Papa tanzte mit seinem Töchterchen in den Armen im Zimmer herum, und wir jauchzten und jubelten ihm zu.

Ich indessen, gelehrig wie ich nun einmal war, machte mir eine Nutzanwendung aus dieser Begebenheit.

Unser Frühstück bestand aus Milch und aus Königskerzentee, von uns Himmelbrandtee genannt. Die Blüten, aus denen er bereitet wurde, sammelten wir auf unsern Spaziergängen selbst und fanden das Getränk köstlich. Leider wurde uns der Genuß dieser Delikatesse sehr vergällt durch den Anblick der Kannen, in denen man sie auftrug. Sie gehörten zu den Überbleibseln eines Vieux-Saxe-Käferservices, das heute ein Vermögen wert wäre. Damals hatte der Fluch des Veralteten sie getroffen. Auf der »herrschaftlichen Tafel« prangte modernes englisches Steingutgeschirr; die Tische der Dienerschaft und der Kinder besetzte man mit beschädigtem Vieux-Saxe. Ich fand das unwürdig, ich fand, daß auch wir etwas Modernes haben sollten, ich feindete besonders unsere Teekanne an mit ihrem defekten Schnabel und ihren grauslichen fliegenden Käfern. Der Moment schien mir, nach der Erfahrung, die wir gestern gemacht hatten, äußerst günstig, um ihr den Untergang zu bereiten.

So wartete ich nur, bis unsere Tassen alle gefüllt waren; dann holte ich aus … Ein Schlag – die alte Kanne wankte, stürzte, und die Käfer taten ihren letzten Flug – auf den Boden.

Nun aber gestalteten sich die Folgen ganz anders, als ich es mir ausgedacht hatte. Meine Erwartung, daß Papa geholt werden und daß er sofort auch die Milchkanne zerschlagen würde, erlitt eine bittere Enttäuschung. Es kam unserer Pepinka dieses Mal nicht in den Sinn, eine höhere Instanz anzurufen. Sie wählte zur Bestrafung meines Angriffs auf die Sicherheit des Porzellans – das standrechtliche Verfahren.

 

Den ersten Unterricht im Lesen und Schreiben erteilte uns Herr Volteneck, der Verwalter von Zdißlawitz. Er hatte eine rundliche Gestalt und einen an den Schläfen eingedrückten, länglichen Kopf und nahm sich von weitem aus wie ein Zylinder mit einer kleinen Gurke darauf. Seine Leibfarben waren Braun und Gelb, braun die klugen, sanften Augen, das schlichte Perückchen, die Umgebung der unaufhörlich nach Schnupftabak verlangenden Nase und die Fingerspitzen, die ihr den aromatischen Staub zuführten. Gelb waren die kleinen Hände und das kleine Gesicht.

Die Seelenfarbe dieses Mannes aber kann nur das zarteste Apfelblütenrosa gewesen sein.

Schon unter meinem Großvater hatte er die Stelle der amtierenden Gerichtsperson auf dem Gute redlich und ehrenhaft versehen und genoß allgemeine Hochachtung. Dabei war er das Stichblatt schlechter Witze, die besonders unter den Schloßleuten unkrautmäßig wucherten. Er hatte eine eigene Manier, von Zeit zu Zeit seinen Rock an der Brust mit beiden Händen zu fassen und gegen den Nacken hinzuschieben. Die Gewohnheit, behauptete man, ist ihm vom Kuttentragen geblieben, denn die Kutte hat er getragen, er ist ein entlaufener Kapuziner.

Und nun hätte er seinen ganzen Lebensgang wahrheitsgetreu darstellen, hätte urkundlich nachweisen können, daß er nie einen Tag im Kloster zugebracht, geistliche Kleidung nie getragen hatte – alles umsonst! Sie wären nicht zu erschüttern gewesen in ihrer Überzeugung; er ist und bleibt ein davongelaufener Kapuziner.

Zum Unglück hatte der reizlose, ältliche Mann den Mut gehabt, eine hübsche junge Frau heimzuführen, die nicht gerade pedantisch gewesen sein soll im Festhalten an der ehelichen Treue. Darüber wurde oft gespöttelt, in verhüllter Weise sogar in seiner Gegenwart. Wir wußten natürlich nicht, um was es sich handelte; aber wir sahen, daß er ausgelacht wurde, und unsere Empörung darüber war groß, denn wir liebten diesen guten, alten Menschen und langmütigen Lehrer. Wir liebten ihn schon um seiner herrlichen Schrift willen. Da war keine, von der einfachen Kurrent bis zur Kyriliza, die er nicht hingemalt hätte in unsere Zensurenbüchlein, leicht und schwungvoll, daß die Feder hinschwebte in kleinen und großen Linien, Kreisen und Ovalen, wie durstige Schwalben spielend über dem Wasser schweben.

Im Zensurenbüchlein meiner Schwester wimmelte es von »ausgezeichnet«; ich brachte es selten zu einem »sehr gut«, und auch dieses war meist ganz mager hingehaucht, gleichsam der Schatten eines »sehr gut«. Dabei ging es vollkommen gerecht zu. Meine Schwester konnte schon geläufig lesen, während ich noch die Kunst des Buchstabierens nicht völlig innehatte.

Papa pflegte sich selten und auch dann nur oberflächlich nach dem Fortgang unserer Studien zu erkundigen. Ein kurzes: »Brav sein!« war alles, was er mir sagte, wenn er auf seine Frage »Sind sie fleißig?« die Antwort erhalten hatte: »Fritzi sehr, und Marie wird es auch werden.«

Einmal aber, wie es bei ihm meist geschah, machte etwas, das er oft übersehen und überhört hatte, ganz plötzlich Eindruck auf ihn.

»Werden? Oho, erst werden?« wiederholte er das letzte Wort, das Mama gesprochen hatte, wandte den Kopf und sah mich an.

Es war bei Tische. Obenan saß unsere liebe Mama, unsere Großmutter zu ihrer Rechten, unser Vater zu ihrer Linken. Dann war ein langer Zwischenraum an dem großen ovalen Tische, und dann kamen wir zwei, meine Schwester und ich.

»Kann sie vielleicht noch nicht lesen? Hat im Frühjahr angefangen, lernt jetzt schon den ganzen Sommer und kann noch nicht lesen?« setzte Papa sein Verhör fort, und ein Strafgericht drohte aus seiner Stimme.

Eine Verhandlung zwischen ihm und Mama folgte. Unsere Großmutter schwieg; sie mischte sich nie in eine Beratung der Eltern, die uns betraf.

Es ist mir später klargeworden, daß Papa die »Methode« des Herrn Verwalters angezweifelt und den Besitz einer besseren – sich selbst zugeschrieben hat. Zu meinem Entsetzen, zur – ich bemerkte es wohl! – stillen Unzufriedenheit Großmamas befahl er mir, morgen früh zu ihm zu kommen. »Allein«, schloß er nachdrücklich.

Das war ein Wort!

Wir betraten immer nur in corpore die Zimmer Papas zum Guten-Morgen- und zum Gute-Nacht-Sagen. Damals war nur ein Flügel an das Schloß angebaut; in dem befand sich unsere Wohnung. Die Papas lag am andern Ende der langgestreckten Front. Ihre Zimmer mündeten auf einen geschlossenen Gang, den wir täglich zweimal durchwanderten. Seine Fenster sahen auf den Hof; der Blumenhof hieß er, und er verdiente seinen Namen, denn er war von Blumengruppen und von hohen, mit blühenden Topfpflanzen besetzten Gestellen umschlossen. Aus dem Hofe führte ein breites Tor, das immer weit geöffnet blieb, in eine tiefschattige, von vier Reihen herrlicher Lindenbäume gebildete Allee. Als ich ein Kind war, da strotzte noch ihr Gezweige von Saft, da waren ihre Blätter hellgrün und weich wie Samt und ihre Blüten voll süßen Duftes. Damals prangten sie in ihrer Vollkraft. Aber Höhe ist Wende. Heute wehren ihre Wipfel den Sonnenschein nicht mehr völlig ab. Er dringt durch das dünn gewordene Laub und wirft den dunklen Stämmen goldige Lichter vor die Füße, wie spielend, wie übermütig fragend: Seht ihr? da sind wir nun doch! – Einst, wenn der Wind sich durch die Unzahl der Blätter drängte, da gab’s ein weiches Rauschen, ein sanftes, harmonisches Flüstern. Anders ist das jetzt. Anders als in den jungen spielt der Wind in den alten Bäumen. Die Stimmen sind rauh, die er in ihnen erweckt. Ein Knistern und Knarren durchläuft das Geäst; da und dort zerbricht ein dürrer Zweig und fällt …

Auf dem Wege zu Papa begleitete uns die Kinderfrau und wartete im Vorzimmer auf unsere Rückkehr.

Wenn wir in der Frühe bei unserem Vater eintraten, saß er an seinem Schreibtisch, mit dem Rücken gegen die Tür, hatte große Wirtschaftsbücher vor sich liegen, rechnete und schrieb. Wir wurden meistens freundlich empfangen, küßten ihm eines nach dem andern die Hand, beantworteten seine Frage: »Seid’s brav?« immer bejahend und so auch bald die darauffolgende: »Ist die Pepi da? Gut also, also geht.«

Manchmal durfte er in seiner Arbeit nicht unterbrochen werden. Da hieß es: »Seid ruhig, wartet.« Man wartete, rührte sich nicht und hatte Zeit, sich mit schüchterner Neugier im Zimmer umzusehen. Es kam mir größer vor als alle anderen im Hause, und jeder Gegenstand darin hatte etwas Eigentümliches und erregte mein ganz besonderes Interesse. Wie merkwürdig war schon der Lüster, der an vergoldeten Ketten von der Decke niederhing! Eine flache, mattgrüne, mit Arabesken aus Bronze geschmückte Schale. Aus ihr heraus streckten sich sechs magere, sehnsüchtige Arme und trugen in ihren Händen tulpenförmige kleine Urnen, aus denen vergilbte Wachskerzen emporragten. Einen sehr ernsten Eindruck machten die schwarzen Möbelgestelle, der umfangreiche, schwarze Schreibtisch und die Schwärze der ganzen Gesellschaft von Schränken und Etageren.

Über dem Kanapee, das rechts an der Längswand stand, hing ein Bild, das ich mit dem Blick eben nur zu streifen wagte, weil mir sonst heiße Tränen in die Augen schossen.

Es war eine schöne Radierung und stellte einen Invaliden der Grande Armée vor, einen alten Mann in verbrauchter Uniform. Er saß auf einem Bänkchen vor einer niedrigen Hütte. Sein kahles Haupt war gebeugt, seine Arme lagen auf den ausgespreizten Knien; er hielt sein Taschentuch in den Händen und ruhte aus von einer traurigen Arbeit. An der Wand neben ihm lehnte die Schaufel, mit der er eine Grube gegraben hatte für einen treuen Gefährten – seinen Hund. Der lag zu seinen Füßen, das gebrochene Auge noch auf den Herrn gerichtet. – Ich habe dich schwer verlassen, schien es zu sagen, aber ich mußte fort; es war ja hohe Zeit. Sieh mich nur an, lieber Herr. Bin ich nicht zum Kinderspott geworden, so alt und abgezehrt und häßlich? Mut, lieber Herr, steh auf und lege mich in die Grube, die du für mich gegraben hast. Ich werde da schlafen, und – Hunde träumen ja, weißt du – träumen, daß wir wieder jung sind, wir zwei, und schön und gesund. Entschließ dich, lieber Herr …

Endlich wird der Invalide doch aufstehen, nach der Schaufel greifen und den guten Hund begraben und dann keinen Freund und keinen Kameraden mehr haben und nichts mehr auf der Welt …

Noch andere Bilder hingen an den Wänden, Radierungen und Kupferstiche, lauter Erinnerungen an die Feldzüge gegen Frankreich, die unser Vater mitgemacht hatte, an Erzherzog Karl und an Napoleon. Und auf dem Schreibtisch befand sich ein Aquarellbildchen und stellte drei hübsche Offiziere in Uniform, drei junge Hauptleute, dar: unseren Vater und seine zwei Brüder, und diese seine zwei Brüder waren vor dem Feinde geblieben.

»Vor dem Feinde geblieben.« Ich hörte das sagen und fragte mich, was es bedeuten sollte. Es schien etwas Trauriges und Schönes zu sein. Papa sprach es immer in sehr ernstem und sehr stolzem Tone aus. Und auch das wirkte ergreifend auf mich und trug dazu bei, die ehrfürchtige Scheu zu erhöhen, mit der ich in seinem Zimmer stand.

 

Und nun galt’s, wie Papa gestern befohlen hatte, mich allein in sein imponierendes Bereich zu begeben. Mama begleitete mich bis zur Schwelle des Eingangszimmers, blieb dort stehen und machte mir, als ich mich nach einigen Schritten umwandte und ihr Lebewohl zuwinkte, ein Zeichen, vorwärts zu gehen und dann anzuklopfen. Ich tat’s, und: »Herein!« tönte es mir laut und barsch entgegen.

Ein ermutigender Empfang wurde mir nicht zuteil. Papa reichte mir zwar die Hand zum Kusse, ließ aber vom Moment meines Eintretens an fortwährend seinen Blick forschend und streng auf mir ruhen und fragte endlich: »Was ist dir denn? Was machst du für ein Gesicht? Mir scheint, du fürchtest dich. Du hast ein schlechtes Gewissen. Wer kein schlechtes Gewissen hat, fürchtet sich nicht.«

Nun war das Unglück fertig.

Nun mußte ich ja überzeugt sein, daß ich ein ganz elendes Gewissen hatte, denn wahrhaftig, ich zitterte vor Angst.

Ach, es war danach! Alles war danach. Was lag auf dem großen, schwarzen Schreibtisch, auf dem Platze, den sonst die Wirtschaftsbücher einnahmen? Eine Fleißarbeit Papas. Bewunderungswürdig im Grunde. Viereckige Blättchen von gleicher Größe aus Kartenpapier. Man sah ihnen die Sorgfalt und militärische Pünktlichkeit an, mit der sie zugeschnitten und reihenweise in gleichen Abständen voneinander geordnet worden waren. Jedes einzelne von ihnen trug ein dick und deutlich ausgeführtes Zeichen. Ein gut gekanntes und gut gehaßtes Zeichen – einen Buchstaben.

»Was ist das?« fragte Papa und wies, nicht ohne Wohlgefallen, auf das kleine papierne Pikett vor ihm.

Ich meinte, es seien Buchstaben.

»Ja, ja, Buchstaben, natürlich. Aber das Ganze da – das Ganze!«

»Buchstaben … viele Buchstaben …« Bei den Buchstaben blieb ich. Wie die Familie heißt, wenn sie vollzählig versammelt ist, wußte ich nicht. Ich wußte überhaupt bald gar nichts mehr, nicht einmal ein A von einem I zu unterscheiden und auch nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, als Papa ein geringschätziges: »I! A!« ausstieß.

Der einzelnen Vorgänge bei diesem denkwürdigen Examen kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur einer großen Verwirrung, die in den Reihen der schnurgerade aufmarschierten Kärtchen eintrat, entsinne ich mich: sie wanden sich wie Schlangen, sie tanzten, bildeten Gruppen, stoben davon nach allen Richtungen. Und dabei deutete Papas Finger unbeweglich auf eine Stelle, die für mich abwechselnd von einem A, einem B, einem C besetzt war. Einen Buchstaben um den andern nannte ich, riet und riet und erriet nicht. Die Qual dauerte lang. Mein armer Papa, der Selbstbeherrschung doch so ungewohnt, nahm sich zusammen, wiederholte dieselbe Frage mehrmals, ohne die Stimme allzusehr zu erheben. Die meine aber wird wohl zuletzt gar keinen Laut mehr gehabt haben. Ich vermochte trotz aller Anstrengung nicht, auch nur ein vernehmliches Wort über die Lippen zu bringen, und nahm in hilfloser Bestürzung das Urteil entgegen, daß ich – ein großes Mädel von fünf Jahren – mich mit Schande beladen habe. Der kurze Spruch Papas schloß mit dem Befehl: »Hinaus!«

Ich besorge sehr, ihn mit unanständiger Geschwindigkeit und ohne Abschiedsgruß erfüllt zu haben.

Noch hatte ich auf meinem Rückzug das Eingangszimmer nicht durcheilt, als Papa mir nachkam, die Tür vor mir öffnete, mich hinausschob und mit einem raschen Wurf das ganze Alphabet über mich ausstreute. Dann flog die Tür hinter ihm zu, und ich kauerte auf dem Boden, sammelte hastig die Kartenblättchen in meine Schürze und lief, so rasch ich konnte, davon.

Und nun muß ich sagen: Dieser Buchstabensprühregen, den mein Vater mir damals nachschickte, ist die einzige »Gewalttat« gewesen, die ich je durch ihn erfuhr. Seine Hand hat mich nie unsanft berührt, er hat seine Stimme nie laut gegen mich erhoben, dieser fürchterliche, liebe, gute Papa.

 

Wie oft höre ich junge Leute und Kinder sogar behaupten: »Bei mir richtet man nur mit Güte etwas aus, aber mit Strenge nichts.« Das kommt mir vor, wie wenn eins sagte: »Vom schmeichelnden Lüftchen lasse ich mich allenfalls dirigieren, dem Orkan trotze ich.«

Du armes Reislein!

Ein Zornesausbruch unseres im Grund der Seele so guten Vaters schloß jeden Gedanken an Widerstand aus. Ob sich ein solcher Ausbruch zu dem, was ihn veranlaßt hatte, in einem halbwegs erklärlichen Verhältnis befand, die Frage stellten wir uns nicht. Wir meinten, daß man an der Handlungsweise seines Vaters Kritik nicht üben kann. In späteren Jahren verwandelte das »kann« sich in ein »darf«. – Einem jungen Menschen von heute muß es schwerfallen, unsere Empfindungsweise zu begreifen. Es gibt ja kaum etwas, das sich in einer Zeit, die ich zu überdenken vermag, so verändert hätte wie die Art des Verkehrs zwischen Eltern und Kindern.

Wenn unsere Großmutter von ihrer Mutter sprach, sagte sie »unsere Allergnädigste« und neigte leise das Haupt. Unsere Mutter sagte »Sie« zu ihrem Vater. Er war ihr geistiger Führer, ihr alleiniger Lehrer. Von ihrer Hand beschriebene Hefte, die sich bei uns zu Hause in der Bibliothek erhalten haben, geben Zeugnis von dem Ernst und der Gründlichkeit der Studien, die er sie treiben ließ. Aus jeder Zeile ihrer auch noch vorhandenen Briefe an ihn spricht unbegrenzte Ehrfurcht. Wir standen mit unserem Vater auf dem Duzfuße; er war aber ungefähr von der Sorte, auf dem sich das russische Bäuerlein mit dem Väterchen in Petersburg befindet. Von einer Seite ein unbeschränktes Machtgefühl, von der anderen Unterwürfigkeit. Heute ist das anders. Die Jugend steht obenan; sie wertet und entwertet. Das Alter sieht bewundernd oder grollend zu. Ich staune nur, wie rasch es abdiziert hat. Komisch fast ist die Eilfertigkeit, mit der es sich in die Ecke drückt, um dem vorbeibrausenden Zug der Jugend nur ja nicht im Wege zu sein. Dankbarkeit erhellt die Gesichter der Eltern, wenn ihre Söhne oder ihre Töchter auf der Jagd nach Brot, nach Glück, nach Ruhm einen Augenblick haltmachen, um den Alten einen Lappen ihrer kostbaren Zeit zu schenken. Und auch gute moderne Kinder haben dabei doch das Gefühl eines Zugeständnisses, das sie den unmodernen Eltern machen.

Es ist so, und je tiefer ins Greisenalter ich hineingerate, um so mehr Hochachtung bekomme ich vor dem, was ist. Mein Vater hätte sich zu ihr nie bequemt; was in seinen Tagen für das einzig Rechte und Gehörige galt, sollte in allen Tagen dafür gelten. Er hatte von Kind auf Subordination geleistet, hatte sie von seinem Jünglingsalter an pflichtgemäß zu fordern gehabt. Gehorsam! Wie ferner Donner rollte das R am Schluß der zweiten Silbe, wenn er dieses Wort befehlend aussprach.

Wie seine beiden Brüder, Josef und Fritz, war unser Vater Zögling der Theresianischen Ritterakademie gewesen und hatte sie verlassen, um Kriegsdienste zu nehmen. Josef, den Ältesten, traf bei Dresden 1813 die tödliche Kugel. Der Jüngste, Fritz, fand vor Parma 1814 einen Heldentod. Unser Vater, bei einer glänzenden Waffentat in der Nähe von Cléry an der Loire schwer verwundet, geriet in französische Gefangenschaft. Im Jahre 1816 trat er, noch nicht völlig hergestellt, in den Ruhestand. Das militärische Wesen, die gerade Haltung, den strammen Gang behielt er bis ins höchste Alter bei. Mit einem großen Vorrat an positivem Wissen hatte er sich nicht beladen und lebte in dieser Beziehung sozusagen von der Hand in den Mund. Doch litt er dabei keinen Mangel. Sein guter, klarer Verstand, sein Schönheitssinn, seine Schlagfertigkeit und Beobachtungsgabe ließen ihn nie im Stiche. Er verzichtete gern auf vieles, das sich erlernen läßt, weil er reich war an vielem, das sich nicht erlernen läßt. Er hatte Sinn für Poesie und war ein Freund der Musik; nur durfte sie nicht zu ernst sein. Vor allem aber war er ein Freund des Theaters, und für ihn wie für so viele ist das Burgtheater ein mächtiges Bildungsmittel gewesen. Bis kurz vor seinem Tode blieb er ein treuer Besucher des geliebten alten Hauses. Die Aufführung eines klassischen Stückes »in der Burg« versäumte er nie und verließ seine Loge nicht, bevor das letzte Wort gesprochen und der Vorhang gefallen war. Dabei schämte er sich aber durchaus nicht, zu gestehen, daß kein noch so großes »Vergnügen an tragischen Gegenständen« ihm die Wonne aufwog, ein Theaterstück Raimunds aufführen zu sehen. Raimund stand von allen Dramatikern seinem Herzen am nächsten. Und wieviel von seiner liebe- und verständnisvollen Sympathie für das Wesen, für das Schaffen, für den ergreifend wehmütigen Humor unseres altösterreichischen Dichters hat er uns vererbt! Lange bevor wir ins Theater geführt wurden, hatten wir die Bekanntschaft des Verschwenders, des Herrn Rappelkopf, des Barometermachers auf der Zauberinsel gemacht und verdankten sie den Erzählungen unseres Vaters, die er so gern und so oft wiederholte. Sein Reichtum an Geschichten und Anekdoten war unerschöpflich. Es gab ihrer von allen Sorten, lustige und traurige. Es gab auch lange komische Gedichte, von denen wir nie mehr als den Anfang zu hören bekamen. Das Schönste, uns Liebste blieben aber doch immer die Erzählungen Papas von seinen Erlebnissen während der Kriegsjahre. Schlicht, einfach und klar brachte er sie vor, mit edler Bescheidenheit. Der Ausdruck seines Gesichtes wurde mild und weich, und seine Augen, die er fest auf einen Punkt in der Ferne richtete, trübten sich, wenn er seiner Brüder gedachte. Ich habe im Ohr noch den Klang der Stimme, mit dem er von dem letzten Zusammentreffen mit ihnen sprach, das ihm beschieden gewesen war. Der nächste Morgen trennte sie; in wenigen Tagen standen sie alle vor dem Feinde. Josef, schon mehrmals verwundet und nur notdürftig geheilt, hatte Todesahnungen. Fritz sprach übermütig: »Die Kugel, die mich trifft, ist noch nicht gegossen!« Mein Vater forderte beide zu einem feierlichen Gelöbnis auf: »Der zuerst fällt, gibt den Überlebenden ein Zeichen. Wenn eine Möglichkeit dazu vorhanden ist, geschieht’s.« Sie schworen es sich zu: Der fällt, grüßt die Überlebenden. Aus dem Jenseits grüßt eine Liebe, die stärker ist als der Tod.

Zwei der Brüder waren hinübergegangen, und der dritte hatte gehofft und geharrt und sich nach dem verheißenen Zeichen gesehnt. Es kam nicht – es konnte nicht gegeben werden … Den Behauptungen eines Verkehrs mit Verstorbenen setzte mein Vater den schroffsten Unglauben entgegen: »Es führt kein Weg von drüben zu uns, sonst hätten meine Brüder ihn gefunden«, sagte er.

Unter den vielen »Geschichtchen«, an denen wir uns nicht satt hören konnten, zeichnete sich besonders das von dem kleinen französischen Herrn mit dem blauen Mantel aus. Sein Schauplatz war Troyes. Dort hielt an einem kalten Märzmorgen der Zug der Gefangenen, die man nach der Normandie brachte, eine kurze Rast. Viele Leute eilten herbei, um ihn zu sehen; die Verwundeten erregten besondere Aufmerksamkeit. Der Leiterwagen, in dem man meinen Vater mit anderen Blessierten auf Stroh gebettet hatte, wurde umdrängt; Neugierige kamen herbei, Männer und Frauen – auch junge, hübsche. Peinlich für einen, der gewöhnt war, jungen Frauen ganz andere als mitleidige Gefühle einzuflößen. Und gerade er sah wohl unter allen Leidensgefährten am bedauernswürdigsten aus. Marodeure hatten ihn ausgeplündert, als er bewußtlos auf dem Schlachtfelde lag. Seine Wunden schmerzten, Fieberfröste schüttelten ihn, mühsam richtete er sich auf. Sein Blick wandte sich von den Leuten, die ihn umgaben, ab und begegnete dem eines kleinen alten Herrn, der in einiger Entfernung am Eingang eines Hausflurs stand. Er trug einen blauen Mantel mit schwarzem Kastorkragen, der am Halse mit einem Kettchen aus Stahl geschlossen war. Langsam löste der kleine alte Herr das Kettchen, schritt auf meinen Vater zu, nahm den Mantel von den Schultern und reichte ihn dem freudig Überraschten mit dem einzigen Worte: »Tenez!«

Er wartete den Dank nicht ab, er war gleich wieder in seinem Hausflur verschwunden.

Das war eine Wohltat, dieser fadenscheinige Mantel, dessen Eigentümer nicht danach aussah, als hätte er viele überflüssige Kleidungsstücke zu verschenken. –

Lieber kleiner alter Herr aus Troyes, dein Geschenk war königlich, deine ärmliche Spende so reich! Im Lichte bleibt dein Andenken für uns, die wir als Kinder dich verehren lernten.

Die Gefangenen kamen am Hauptquartier Napoleons vorbei. Sie sahen den Imperator. Er war zu Pferde, sehr blaß, prachtvoll sein Cäsarengesicht, die Gestalt schwer und aufgedunsen. Mit einigen der Unglücklichen im Zuge sprach er und ließ ihnen Geld reichen. Mein Vater erhielt dreihundert Francs, die ihm sehr zugute kamen während seiner Internierung in Caen. Dort fand er sich vortrefflich aufgehoben bei einem braven alten Ehepaare. Auch für diese beiden Leute hegte er eine unaussprechliche Dankbarkeit und konnte die soupe à l’oignon nicht genug loben, die zu kochen seine Hausfrau verstand. Als seine Wiederherstellung fortschritt und er auch feste Nahrung zu sich nehmen durfte, kaufte er ein Messer, mit dem er Brot in die Suppe einschnitt, ein großes Taschenmesser mit grauer Hornschale und mehreren Klingen. Es hat immer auf seinem Schreibtisch gelegen, und man brauchte es nur mit der Fingerspitze leise anzutippen und zu sagen: »Nicht wahr, Papa, das hast du in der Normandie gekauft?« Alsbald waren die alten Erinnerungen alle geweckt, und er ließ sie vor uns aufsteigen in deutlichen, farbigen Bildern. Wir sahen den Hauptmann Dubsky für tot auf dem Kampfplatz bei Cléry liegen, sahen die Marodeure herankommen, die ihn ausplünderten und ihn ganz tot gemacht hätten, wenn er nicht auf einige Worte, die sie an ihn richteten, in ihrer Sprache geantwortet hätte. »Laisse le vivre, il parle français«, sagte einer zum andern. Dann wurde er auf einen Wagen gehoben und fortgeführt in Feindesland. – Oh, wie litten wir mit ihm und sorgten jedesmal von neuem, daß es ihm nun schlecht ergehen werde! Aber bald kam trostreich der blaue Mantel zum Vorschein und imponierend der Anblick des Kaisers Napoleon und endlich zur Erquickung die soupe à l’oignon.

Wie unser Vater hielten auch wir seine Erinnerungen hoch in Ehren und stimmten ihm von Herzen bei, wenn er eine summarische Verurteilung der Franzosen nicht duldete. Er sprach immer mit der größten Anerkennung von ihnen, gegen die er jahrelang im Felde gestanden hatte. Es war damals allgemein so üblich: man schoß den Feind tot, aber man verleumdete ihn nicht.

 

Mein Vater besaß in hohem Grade die männliche Tugend der Gerechtigkeit. Eigensinn kannte er nicht. Wenn er, hingerissen von seinem leidenschaftlichen Temperament, ein zu hartes Urteil gefällt, eine zu strenge Strafe diktiert hatte, ruhte er nicht, bevor es ihm gelungen war, seine Schuld glänzend gutzumachen. Die Lüge verabscheute er, und daß man feig sein könne, begriff er nicht. Nicht einmal den Frauen verzieh er Furchtsamkeit, und was andere in Schrecken versetzt, löste bei ihm eine Wallung des Zornes aus. Viele starke und überzeugende Beispiele wüßte ich davon zu geben, doch will ich nur ein kleines anführen, weil es so charakteristisch ist.

In Zdißlawitz wurde das Eintreffen eines Trupps ungarischer Ochsen erwartet, die zur Mast eingestellt werden sollten. Wir Kinder hatten uns im Meierhof eingefunden, um ihren Einzug mit anzusehen. Papa beorderte uns auf die Rampe den Stallungen gegenüber und blieb mit den Beamten in der Nähe des breiten Hoftores stehen. Eine Staubwolke kündigte das Herannahen der Fußreisenden an. Sie kamen, geleitet von ihren Treibern, wegmüde, die ganze Herde mit den riesigen, spitzen Hörnern, den breiten Köpfen, mageren Leibern, eingefallenen Flanken. Der Burggraf, ein großer, stattlicher Mann, trat an die Tiere heran, rief den Treibern, den Stalleuten Befehle zu. Auf einmal hörte man ihn ein Angstgebrüll ausstoßen und sah ihn entfliehen … Die übrigen Beamten stoben auseinander wie Spreu, in die ein Windstoß fährt. Ein Ochse war wild geworden und stürzte schnaubend, den Kopf gesenkt, den Schwanz emporgereckt, auf den Platz zu, den sie früher eingenommen hatten und auf dem mein Vater jetzt allein stand. – Er aber, empört über die Frechheit des Gastes, sprang ihm entgegen, schwang das Spazierstöckchen und rief mit drohender Stimme: »Na – du!«

Uns stockte der Atem. Die erschrockenen Treiber schrien und ließen ihre Peitschen knallen. Der aufgeregte Sohn der Steppe besann sich, bog aus und schloß sich wieder seinen Gefährten an.

Noch eine Eigenschaft darf ich meinem Vater nachrühmen: die Treue. Wer seine Liebe errungen hatte, dem blieb sie ein unverlierbarer Besitz. Seine Frau war für ihn die einzige in der Welt. Leicht mochte er freilich auch der geliebtesten das Leben nicht gemacht haben; dazu war er zu sehr Kampfnatur, dem raschen Wechsel seiner Stimmungen zu sehr unterworfen. Die Ausgeglichenheit fehlte und auch der feine Blick für die Vorgänge im Gemütsleben selbst derer, die ihm am nächsten standen. Aber – nehmt alles nur in allem – er war ein Mann mit warmem Herzen, stark an Leib und Seele.

Im Jahre 1825 verheiratete sich mein Vater mit der verwaisten Tochter des in Österreich unvergessenen, um unsere Kunstindustrie hochverdienten Freiherrn von Sorgenthal. Die Ehe war von kurzer Dauer. Seine anmutige kleine Frau verließ ihn bald.

Er hat sie, dankbar für die schwärmerische Liebe, die sie ihm entgegenbrachte, innig betrauert, ein volles Glück aber doch erst in der Verbindung mit seiner zweiten Frau, meiner Mutter, gefunden. Liebreich und sorgsam hat sie alles Gute und Edle in ihm gehütet und entfaltet, hat mit kluger, sanfter Hand die Mängel seines Wesens in den Schatten gedrängt und seine Rauhigkeiten zu mildern gesucht. Die Jahre, in denen sie an seiner Seite gestanden, bildeten die Krone seines Lebens, und er hat die Erinnerung an sie heilig gehalten.

Nach ihrem Tode, der völlig unerwartet eintrat, rang er mit der Verzweiflung und wollte dem Leben ein Ende machen, das ihm fortan unerträglich erschien. Ein Zufall, die Dazwischenkunft eines Verwandten, der ihm die schon geladene Pistole entwand, vereitelte den unseligen Entschluß. Einige Wochen nach dem furchtbaren Verluste schrieb mein Vater an seine Schwester nach Wien: »Wie überglücklich bin ich gewesen! Sichtbarlich vom Himmel begünstigt, hatte ich alle Ursache zu fragen: Gibt es wohl einen glücklicheren Menschen auf dieser weiten Erde denn mich? Anders sieht es nun in mir aus. Aus allen meinen Himmeln geworfen, kann ich nun fragen: Wo ist wohl mehr Schmerz, Kummer und Leiden zu finden als in meinem Herzen, welches statt des ihren hätte aufhören sollen zu schlagen, da für meine armen Kinder der Verlust des Vaters gegen jenen einer solchen Mutter, wie meine Marie war, sowohl in der Gegenwart wie in der Zukunft bei weitem weniger empfindlich gewesen wäre!«

Die Zeit verging und übte ihre unwiderstehliche Macht aus. Der Daseinswille, die Sehnsucht nach einer Häuslichkeit erwachten von neuem; er kam zu dem Schlusse: »Wenn der Himmel mir mein Haus niederreißt, muß ich es mir wieder aufbauen.« So hat er denn auch das seine wieder aufgebaut, und abermals wurde es ihm nach kurzer Zeit zerstört. Erst seinem vierten Ehebunde war eine lange Dauer beschieden.

Er stand in hohem Greisenalter, als ihm sein Daheim mit grausamer Raschheit noch einmal verödet wurde. Und wenn dieser letzte schmerzvolle Schlag ihn auch in allen Seelentiefen erschütterte, fand der schwer Heimgesuchte allmählich doch seine Fassung und seine Kraft wieder. Sie wankte keinen Augenblick, als die Anzeichen des herannahenden Endes sich einstellten. Er hatte dem Tod in Jünglings- und in Mannesjahren so oft ins Auge geblickt; mit großer Ruhe, in tiefem Frieden sah er ihm nun entgegen. Als treuer Hausvater nahm er mit guten Worten Abschied von jedem einzelnen seiner Angehörigen und von jedem seiner Diener.

Der Priester, der ihm die letzte Wegzehrung gereicht hatte, wandte sich vom Sterbebette zu uns und sprach: »Ihr Vater stirbt wie ein braver Soldat.«

 

Von diesem, in wenigen Zügen nur entworfenen Bilde eines Starken wende ich mich wieder den kleinen Erlebnissen seiner Kinder zu.

Als meine Schwester ihre Wanderung ins sechste und ich die meine ins fünfte Lebensjahr zurückgelegt hatte, sollten wir eine Gouvernante bekommen.

Es war Spätherbst, und wir waren in Wien, und schon seit längerer Zeit hatte Pepinka ihre Drohungen mit den Strafgerichten Papas in Drohungen vor den Strafgerichten der Gouvernante umgesetzt.

»Wartet nur, was euch die Gubernante tun wird!« hieß es jetzt beim geringsten Anlaß zur Unzufriedenheit, den wir ihr gaben.

Kein Wunder, daß wir der Ankunft der neuen Machthaberin ohne Begeisterung entgegensahen.

Zu dem großen Ereignis wurden geziemende Vorbereitungen getroffen.

Unser wartete eine Art Proserpina-Schicksal. Schlafen sollten wir nach wie vor bei der Kinderfrau, tagsüber jedoch bei der Gouvernante bleiben in ihrem eigens für sie eingerichteten Zimmer. Es war kein Prachtgemach! Es hatte die Aussicht auf einen mit Glasfenstern versehenen Gang, der das Haus auf der Hofseite umlief. Nicht der geringste Ausblick ins Freie bot sich dem Fräulein; Zerstreuung konnte ihr nur die Betrachtung ihrer neuen Möbel bieten. Unter ihnen zeichnete sich ein großes Kanapee aus, das durch eine kunstreiche und zu jener Zeit noch ungewöhnliche Einrichtung spielend leicht in ein bequemes Bett umgewandelt werden konnte.

Ach, du lieber Gott! Auf diesem Kanapee werden wir neben der »Gubernante« sitzen müssen den ganzen Tag. Und den ganzen Tag wird sie uns erziehen, und wir werden von allem, was sie zu uns sagt, kein Wort verstehen, denn sie spricht nur Französisch, so eine »Gubernante«. Das alles sagte Pepinka, um uns recht angenehm vorzubereiten zum Empfang ihrer Nachfolgerin.

Sie kam, und als Mama uns zur Begrüßung zu ihr führen wollte, machte ich eine Szene, schrie und heulte und mußte über die kleine Stiege, die aus der Kinderstube ins Gouvernantenzimmer führte, getragen werden.

 

Wie freudig bin ich seitdem alle Morgen die fünf Stufen derselben kleinen Treppe hinabgehüpft, um gleich nach dem Frühstück zu Mademoiselle Hélène zu eilen! Wie bald haben wir sie liebgewonnen, diese Dritte im Bunde der Vortrefflichen, die unsere Kindheit schön und glücklich gemacht haben. Einige Jahre unserer Kindheit, sollte ich sagen, denn gar bald haben zwei von ihnen uns verlassen.

Mademoiselle Hélène Hallé war unsern Eltern durch die Gräfin Saint-Aulaire, die damalige französische Botschafterin, empfohlen worden. Sie stammte aus gutem Hause und war eine äußerst sympathische Erscheinung. Eine große junge Dame mit durchsichtigem, rosigem Teint, rötlich-blonden Haaren und sanften blauen Augen. Sanft und ruhig war auch ihre liebe Art und Weise. Sie gewann, ohne im geringsten darum zu buhlen, das Wohlwollen aller Hausgenossen, sogar das unserer eifersüchtigen Pepinka. Reinste Freude bot uns der Umgang mit ihr; eine »leçon« war helle Unterhaltung. Nach kurzer Zeit konnten meine Schwester und ich Französisch reden und lesen. Im Herbste noch, noch in Zdißlawitz, war es mir plötzlich und fast mit Leichtigkeit gelungen, den Inhalt deutscher Bücher zu enträtseln. Die Unterrichtsstunde bei Papa hatte doch wunderbar rasch gute Früchte getragen, und so standen nun geöffnet vor mir die Pforten zweier Weltliteraturen.

Aber nicht bloß Gelehrsamkeit galt es zu erwerben – auch mit »weiblichen Handarbeiten« sollte ich mich befassen: ich sollte stricken lernen. Warum mir das als eine Schmach erschien, ist mir heute noch unerklärlich. Ich wehrte mich heftig und lange, doch wurde mein Widerstand endlich besiegt. Der Abscheu, den ich vor der Strickkunst empfand, endete mit der Herstellung von Strumpfbändern für meine geliebte Mama. Sie waren das Mißratenste, was je auf diesem Gebiete geleistet worden; aber die größten Meisterwerke hätten nicht freudiger empfangen werden können als das klägliche Paar. Mit welcher Zärtlichkeit schloß mich Mama in ihre Arme und wischte mir die Tränen ab, die ich vergoß, indem ich ihr das Zeichen meiner Unterwerfung auf den Schoß legte!

Das Weihnachtsfest war nahe, wir konnten die Tage bis zum 24. Dezember schon an den Fingern abzählen, als sich etwas begab, das uns in die größte Aufregung versetzte. Vor unsern Nasen gleichsam verschwanden unsere Puppen. Auf einmal waren alle fort. Eine vollständige Puppenauswanderung hatte stattgefunden.

Das Bett, in das Fritzi gestern noch ihre älteste Tochter, die große Christine, schlafen gelegt hatte – leer. Die Angehörigen Christinens hinweggefegt, als ob sie nie dagewesen wären. Meine blonde Fanchette, die freilich von der Blondheit nur noch den Ruf besaß – denn eine geduldige Friseurin war ich nicht –, ebenfalls unauffindbar. Wir kramten vergeblich nach ihr in unsern Laden, durchforschten alle Schränke und Winkel. Wir liefen ins Kinderzimmer und klagten die armen kleinen Brüder des Raubes unserer Puppen an. Daß wir auch im vorigen Jahre kurze Zeit vor Weihnachten denselben Jammer erlebt und dann unter dem Christbaum ebenso viele Puppen, als wir vermißt hatten, mit glänzend lackierten Gesichtern, reichem Gelock und schön gekleidet sitzen sahen, fiel uns nicht ein. Oh, wir waren dumme Kinder! Ich glaube nicht, daß es heutzutage noch so dumme Kinder gibt.

Pepinka, ärgerlich über die Nachgrabungen, die wir nun auch in dem von ihr beherrschten Reiche zu unternehmen begannen, ließ sich zu einem unvorsichtigen Worte hinreißen. »Geht, geht! sucht eure Puppen dort, wo sie sind.«

»Weißt du, wo sie sind? … Ja, ja, du weißt es! Wo sind sie?« Wir ließen nicht nach, gaben ihr keine Ruhe, bis sie endlich, um uns loszuwerden, sagte: »Die kleine Greislerin hat sie gestohlen. Grad ist sie mit der Christine über die Gasse gelaufen.«

Gestohlen also! unsere Kinder gestohlen! durch die kleine Greislerin – oh, das leuchtete uns ein. Der konnte man alles Schlechte zutrauen. Ihre Mutter hatte einen Laden, gerade unter einem der Fenster des Kinderzimmers. Wir kauften dort die Glas- und Steinkugeln, mit denen wir eine Art Kriegsspiel spielten. Von der Mutter erhielten wir immer fünf Stück für einen Kreuzer, von der Tochter nur drei. Genügte das nicht, um uns ein Licht aufzustecken über das ganze Wesen dieser Person? Sie, natürlich, war die Puppenentführerin, sie lief herum mit der Christine, an ihr mußte Rache genommen werden. Es mußte! Ich war Feuer und Flamme dafür, und es gelang mir, meine Schwester davon zu überzeugen. Auch die sanfteste Mutter kann grausam werden, wenn es Kindesraub zu bestrafen gilt. Am liebsten würden wir die Missetäterin durchgeprügelt haben – woher aber die Gelegenheit dazu nehmen? Sie bei der Frau Greislerin verklagen? Ach, die tut ihr nichts, die fürchtet sich selbst vor ihr. Was also soll geschehen? Was für ein Gesicht soll unsere Rache haben? Ein schwarzes! machten wir endlich aus. Es war beschlossen, was der Diebin geschehen soll: Wir werden ihr Tinte auf den Kopf gießen.

Pepi war ins Nebenzimmer zu den Kleinen gegangen und hatte die Tür geschlossen; wir glaubten unser nichtsnutziges Vorhaben ungestört ausführen zu können. Ich holte eilends das Fläschchen herbei, das unsern Tintenvorrat enthielt; wir schoben in das Fenster, unter dem der Greislerladen sich befand, einen Schemel und bestiegen ihn. Fritzi öffnete den inneren Fensterflügel und mit Mühe nur ein wenig den äußeren, und ich steckte den mit der Tintenflasche bewaffneten Arm durch den Spalt. Jetzt – hinunter mit dem Guß! Hinunter auf die Greislerin, die natürlich nichts Besseres zu tun hat, als dazustehen und ihm ihr schuldiges Haupt darzubieten.

Die spanische Armada war einst nicht siegesgewisser ausgezogen als wir zu unserer Unternehmung – und ihr Schicksal teilten wir. Die Elemente erhoben sich wider uns. Es stürmte an dem Tage im Rotgäßchen wie anno 1588 auf dem Atlantischen Ozean, und noch dazu gab’s ein Gestöber von weichem Schnee. Ein Windstoß entriß meiner Schwester den Fensterflügel und schlug ihn gleich darauf so schnell wieder zu, daß ich kaum Zeit hatte, meinen ausgestreckten Arm zurückzuziehen und das Tintenfläschchen vor dem Sturze zu retten. Sein Inhalt übersprühte die Glasscheibe, tropfte, mit Schnee und Regen vermischt, vom Fenstersimse herab, umhüllte meine Finger mit der Farbe der Trauer.

Laut und lebendig gestaltete sich der Schluß des ganzen Abenteuers. Pepinka mußte etwas von unserm Treiben vernommen haben, denn plötzlich stürzte sie herbei. Ihr Antlitz glich dem rot aufgehenden Monde, ihre Haubenbänder flogen – ich weiß noch recht gut, daß sie eidottergelb waren.

»Ihr Verdunnerten!« rief sie. »Jesus, Maria und Josef! Fenster aufreißen, mitten im Winter! Was fällt euch ein, ihr, ihr …« Der Rest sei Schweigen. Mögen die Ehrentitel, mit denen sie uns ausstattete, der Vergessenheit anheimfallen. Sie bildeten eine relativ milde Einleitung zu den in prophetischem Tone ausgesprochenen Worten: »Ihr könnt euch freuen. Gleich wird die Polizei über euch kommen!«

Da war mit einemmal alles erloschen, jeder Funke des Hasses gegen die Greislerin und bis aufs letzte Flämmchen unsere lodernde Racheglut. Nur noch einen heißen Wunsch hatten wir, nur mit einer Bitte bestürmten wir Pepinka: Nur die Polizei nicht hereinlassen! Nur der Polizei nicht erlauben, daß sie komme, uns »einzuführen«!

 

Der Winter verrann, das Frühjahr war nahe; wir begrüßten die ersten wärmeren Tage mit Freude und hofften auf unsere baldige Abreise nach Zdißlawitz. Sehr angenehm und wie ein Gruß aus der Heimat mutete es uns an, als wir eines Morgens einen schönen Hannaken im blauen Mantel auf dem Gange stehen sahen. Er schien zu warten, und bald kam denn auch Papas Jäger, von dem er sich vermutlich hatte anmelden lassen, und holte ihn ab. Wir liefen eiligst ins Kinderzimmer, um dort zu verkünden, daß der Franz soeben einen Hannaken zu Papa geführt habe. Pepi empfing unsere Nachricht ohne Überraschung. Anischa saß auf einer Fußbank neben dem Tischchen, an dem unsere kleinen Brüder spielten, und hatte die Augen voll Tränen. Als wir auf sie zutraten, nahm sie unsere Hände und küßte sie mit innigster Zärtlichkeit; aber unsere Frage, warum sie geweint habe, wollte sie nicht beantworten. Pepi schaffte uns bald und auffallend gebieterisch fort. Auch war die Zeit zur Unterrichtsstunde da. Nachher wurde der gewohnte Spaziergang auf die Bastei unternommen, dann Toilette gemacht und Schlag vier Uhr zu Tisch gegangen. Am Nachmittag, als wir mit Mademoiselle Hélène »die Kleinen« besuchen kamen, was sahen wir? – Sophiederl auf dem Arme eines fremden Mädchens, das mit ihr herumtanzte, während Pepi mit den Buben Verstecken spielte. Das tat sie sonst nie, das war Anischas Amt.

»Wo ist Anischa?« riefen meine Schwester und ich, von einer bösen Ahnung ergriffen. Pepi machte zuerst Ausflüchte, vertröstete uns, versicherte, Anischa sei nur für kurze Zeit weggegangen und würde bald wiederkommen. Wir brachten ihren Versicherungen den größten Unglauben entgegen. »Weggegangen?« – Anischa ging nie weg, ging nur am Sonntag in die Kirche, und heute war gar nicht Sonntag.

Auf einmal durchblitzte es mich … Wie pflegte Pepi, wenn sie ein wenig böse war, zu sagen? »Er kommt heute nicht.« Und wie pflegte Anischa zu antworten? – »Heute nicht und morgen nicht.«

Jetzt aber, ganz gewiß, jetzt war »er« gekommen und hatte sie hinweggeführt; denn »er«, das war kein anderer als der Hannak, den wir am Morgen gesehen hatten. Gern war sie nicht mit ihm gegangen; sie hätte sonst nicht so arm und verweint auf dem Fußschemel gesessen bei den Brüdern, sie hätte uns nicht so inbrünstig die Hände geküßt … Die Liebe! die Geliebte! Da hatte sie Abschied von uns genommen … Und wir nicht von ihr … warum hat man uns nicht Abschied nehmen lassen von ihr? Warum? fragte ich und wollte doch die Gründe nicht hören, die Pepinka dafür angab. Ich wollte auch nicht glauben, daß Anischa wiederkommen werde … Belogen und betrogen fühlte ich mich. Nein, nein! sie würde nicht wiederkommen, nie! Der grausliche Hannak würde sie nie mehr hergeben. Entrüstet klagte ich ihn an und Pepi, die ihm Anischa überliefert hatte, und benahm mich recht wie ein Unband beim Einzug des ersten bitteren Schmerzes in mein Leben.

 

Im Laufe des Sommers erkannte ich dann mit freudiger Beschämung, wie unrecht es von mir gewesen war, an einem Wiedersehen mit Anischa zu verzweifeln. Die schwer Entbehrte besuchte uns und brachte allerlei Eßwaren mit, die uns vortrefflich schmeckten. Sie lobte ihren Mann, ihren Sohn, ihre zwei braven Kühe und sah gut und zufrieden aus. Nur waren ihre Hände sehr abgearbeitet.

Manches Jahr hindurch ist sie so gekommen zur Sommerszeit, und bis zu ihrem Tode bin ich mit ihr im Verkehr geblieben. Meinerseits im schriftlichen; ihre Antworten auf meine Briefe bestanden in einigen Zeilen, die sie dem Herrn Pfarrer diktierte. Sie setzte nur ein kleines, meist recht schiefes Kreuz darunter, denn schreiben konnte die vortreffliche Erzählerin nicht.

Auf dem letzten Zettel, den ich von dem geistlichen Herrn bekommen habe, fehlte Anischas kleines Kreuz. Dafür stand ein anderes, ein größeres, auf einem Hügel des Friedhofs ihres Dorfes, und unter ihm ruhte die Getreue.

Mademoiselle Hélène hatte kaum zwei Jahre bei uns zugebracht, als es auch von ihr scheiden hieß. Ihre Familie rief sie nach Frankreich zurück. Sie trennte sich nicht leicht von uns Kindern; am schwersten aber, wir konnten uns darüber nicht täuschen, trennte sie sich von Mama. Sie schien von einer großen Besorgnis erfüllt und bat dringend und wiederholt, ihr nur gewiß in einiger Zeit Nachricht geben zu lassen … nur ganz gewiß! … Mama versprach’s, umarmte sie, und beide hatten feuchte Augen.

Der Wagen war schon angemeldet worden, der Mademoiselle Hélène zum Postgebäude auf dem Alten Fleischmarkt bringen sollte. Von dort aus setzte sich die Diligence in Bewegung. Wöchentlich ein paarmal kam sie dick und gelb herbeigerasselt und fuhr über den Haarmarkt dahin, mit Reisenden besetzt, die sich auf dem Wege nach fremden, fernen Ländern befanden.

Heute trug sie uns einen köstlichen Besitz davon. Fritzi und ich knieten auf Stühlen am offenen Fenster. Mama stand zwisdien uns und hatte ihre Arme um uns gelegt. In höchster Spannung blickten wir auf die Straße hinab, und leise begann in mir die Hoffnung sich zu regen: Vielleicht kann Mademoiselle Hélène sich doch nicht entschließen, von uns fortzugehen … Vielleicht kommt sie wieder zurück …

Nun rollte er heran, im Trabe zweier kräftiger Pferde, der breite, schwere Kasten, ein rosiges Gesicht neigte sich aus dem Schlage … und wir hatten die letzten Grüße getauscht mit unserer guten Hélène Hallé.

Als wir zurückkehrten in ihr verlassenes Zimmer, fiel eine große Traurigkeit uns aufs Herz. Die Möbel hatten ihre imposante Feierlichkeit für uns verloren, und wir meinten auch ihnen die Bekümmernis darüber anzusehen, daß sie der besten Mademoiselle nicht mehr dienen sollten. Auch die kleinen Brüder fragten betrübt nach ihr; von allen wurde sie schwer vermißt.

Was wir an ihr verloren hatten, die uns den Gehorsam zur Freude, das Lernen zum Genuß, das Leben leicht und heiter gemacht hatte, das ermaßen wir aber erst völlig, nachdem ihre Nachfolgerin eingetroffen war. Grausamer für uns hätte ein Tausch kaum ausfallen können.

Wer Mademoiselle Henriette unsern Eltern empfohlen hatte, wußten wir nicht, doch davon waren wir überzeugt: Beim Jüngsten Gericht wird er darüber zur Rechenschaft gezogen werden.

In seinem Zorne hatte Gott Mademoiselle Henriette zur Gouvernante geschaffen. Sie war schön und jung; darin bestand die einzige Ähnlichkeit, die sie mit Hélène Hallé hatte. In allem übrigen war sie ihr Widerspiel.

Äußerlich eine mittelgroße, schlanke Brünette, mächtiges Dunkel im Haar, Feuer in den Augen. Innerlich – ein Drache. Eine treue Anhängerin der Moral, die unsere Modernen erfunden zu haben glauben, eine Dienerin der Pflicht, »sich auszuleben«. Sehr unwillkürlich bildeten ihre Zöglinge dabei doch einige Hindernisse, und als solche hat sie uns herzlich gehaßt. Es regnete Strafen. Die ärgste diktierte sie mir, als ich einmal in offenen Aufruhr gegen sie geriet, weil sie statt les Autrichiens »les autres chiens« gesagt hatte. Hoch angerechnet soll übrigens der leidenschaftlichen Dame eines werden, und ihr zum Ruhme muß ich es besonders hervorheben: wohl hat sie uns hungern, hat uns bis zur Erschöpfung im Winkel stehen, viele Seiten aus Noël et Chapsal auswendig lernen lassen, von denen wir kein Wort verstanden – geschlagen hat sie uns nicht. Die Note fehlte in der Symphonie ihres Erziehungsprogramms. Trotzdem lernten wir durch sie aufs gründlichste erfahren, wie tief unglücklich Kinder sein können, die sich wehrlos einer böswilligen Macht überantwortet fühlen.

 

Wir würden nicht lange unter den Launen der Tyrannin gelitten haben, wenn Mama sich damals um uns hätte kümmern können. Aber sie konnte nicht, sie war krank und unsere Trennung von ihr durch mehrere Wochen eine vollständige.

Im Vorfrühling gab sie einem Kindlein das Leben, das sich sehr beeilte, auf alle Vorteile dieses Geschenks zu verzichten. Es brauchte keine Wiege, nur einen Sarg. Einige Wochen verflossen, und endlich durften wir zwei Großen zuerst, die drei Kleinen nach uns die arme, kranke Mama wieder besuchen und täglich ein bißchen länger, wenn auch nicht stundenlang wie sonst, bei ihr bleiben.

Und einmal wurde mir eine große, unaussprechlich große Freude zuteil. Mamas treue Pflegerin, Tante Helene, die Schwester unseres Vaters, brachte eine wundervolle Nachricht: Doktor Wierer hatte der Mama erlaubt auszufahren, und sie ließ sagen, daß ich, ich, die Marie, sie begleiten werde. Das war mir ein Glück, vom Himmel gefallen, das war mir die pure Seligkeit. Mich wollte sie mitnehmen bei ihrer ersten Ausfahrt, keines von meinen Geschwistern, nur mich, mich allein! So hat sie mich denn, machte ich sofort aus, am liebsten von uns allen. Günstlingsgefühle erfüllten mich. Daß Fritzi erstaunt und betrübt dreinsah, daß die Brüder schrien: »Auch ausfahren mit der Mama!« ließ mich ganz gleichgültig. Mochten sie nur Spazierengehen auf der Bastei, ich fuhr mit Mama, denn ich – ich war ihr Liebling. Oh, sehr oft war es mir schon so vorgekommen. Jetzt wußte ich’s.

Wir fuhren zum Belvedere. Papa hatte die noch schwache Rekonvaleszentin über die Stiege getragen und in den Wagen gehoben; er war unter der Einfahrt stehengeblieben, als der Schlag geschlossen worden, und hatte mir lächelnd zugerufen: »Achtgeben auf die Mama!«

Im Garten des Belvederes machte sie nur einige Schritte bis zur ersten Bank des großen Parterres und blieb dort sitzen und sprach nicht. Ich lief vor ihr hin und her, ich ahmte, entschlossen, sie zu zerstreuen, das Summen und Brummen der Mücken und der Fliegen nach, ich setzte mich zu ihr und schwatzte ihr allerlei vor und besaß doch sonst das Geheimnis, sie lachen zu machen. Heute versagten alle meine Unterhaltungskünste. Wohl nickte sie mir liebreich zu, blieb aber schweigsam und traurig, schlug den pelzverbrämten Mantel fester um ihre schmale Gestalt und fröstelte, obwohl die Sonne, die im Scheitel stand, so glühende Strahlen niedersandte, daß die Blumen ihre Köpfchen verdrießlich neigten und das junge Gras förmlich versengt aussah.

Am Abend, als wir durch das Kinder – in unser Schlafzimmer gingen, fanden wir dort Tante Helene im Gespräch mit Pepi, beide sehr aufgeregt. Pepi perorierte in ihrer heftigen Weise: »Ich hab’s ja gesagt … … Ausfahren lassen … Jetzt schon ausfahren! Gleich umbringen wäre gescheiter.« Sie schimpfte über Doktor Wierer, und als wir wissen wollten, was denn geschehen sei, bestand ihre Antwort in einem neuen heftigen Ausfall gegen den Arzt.

Und nun war’s, wie es schon wochenlang gewesen: Mama war wieder krank. Der Eingang, durch den man aus dem Gouvernantendepartement zu ihr gelangte, blieb wieder verschlossen, das Speisezimmer blieb wieder unbenutzt. Es stieß an ihr Schlafgemach und befand sich wie dieses an der Vorderseite des Hauses. Ebenso der Salon und die Wohnung Papas.

Wenn unser Drache am Morgen Billette schrieb auf rosenfarbigem Papier, mit einem Blümchen in der Ecke, schlichen meine Schwester und ich uns davon, leise und gebückt über den Gang an den Fenstern Mademoiselles vorbei und weiter ans Ziel unserer Wünsche, in die Nähe Mamas, ins Speisezimmer.

Auf zweien der Stühle, die dort in langer Reihe an der Wand links vom Eingang standen, nahmen wir Platz und – warteten.

Worauf? Nun, daß Mama uns rufen lasse. Sie würde uns doch gewiß einmal rufen lassen, und da wollten wir gleich bei der Hand sein. Wir saßen ganz still und rührten uns nicht, aus Furcht, weggeschickt zu werden.

Manchmal ging Papa an uns vorbei mit unhörbaren Schritten und mit gesenktem Haupte. Er öffnete vorsichtig die Tür des Krankenzimmers und trat auf ein Zeichen, das ihm von dort gegeben wurde, ein oder kehrte wieder zurück in seine Gemächer, ebenso lautlos, wie er gekommen war. Oder er trat an ein Fenster, lehnte die Stirn an die Scheiben und blieb so stehen, lang, lang, endlos schien es uns.

Regelmäßig zur selben Morgenstunde kam Doktor Wierer, den Pepi von jeher angefeindet hatte und den auch wir nicht liebten, weil er uns beim geringsten Unwohlsein auf schmale Kost setzte, auf »einen Spinat und eine Ponade«.

Unsere Großmutter Vockel war auch täglich da und holte Erkundigungen nach der Kranken ein. Und »Grandmaman« Bartenstein, Mamas Mutter! – Wenn sie erschien, brachte sie Trost und Zuversicht. Sie sprach nie eine Besorgnis, immer eine Hoffnung aus. Immer lag der Widerschein heldenmütig bewahrten Seelenfriedens auf ihrem durchsichtig blassen Gesichte, dem das ihrer Tochter so ähnlich war. Immer schritt sie gerade aufgerichtet, schmal wie eine Gerte, in ihrer tiefen Witwentrauer dahin, und keiner vermochte wahrzunehmen, welch eine schwere Sorgenlast auf ihren zarten Schultern ruhte.

Voll Angst, weggeschickt zu werden, lehnten wir uns zurück auf unsern Stühlen, sooft jemand eintrat, mucksten nicht und spielten uns auf die Unsichtbaren hinaus. Wenn aber eine unserer Großmütter kam, standen wir auf und küßten ihre Hände. Sie würden uns nicht fortwinken, diese lieben, alten Hände, das wußten wir. Auch die gute Tante Helene hatte nichts gegen unser Dableiben einzuwenden; sie brachte uns manchmal sogar einen Gruß von Mama. Eines unvergeßlichen Tages kam sie aus dem Krankenzimmer sorgenvoller und bekümmerter denn je. Mama sandte meiner Schwester eine zärtliche Umarmung, und mich – es kam merkwürdig zögernd heraus –, mich ließ sie zu sich rufen. Ich jauchzte auf, ich wollte zu ihr stürzen. Die Tante hielt mich an beiden Schultern fest. Merkwürdig ernst und fast feierlich sprach sie zu mir. Sie stellte mir vor, daß Mama das Fieber habe und sich infolgedessen manches einbilde, das gar nicht sei. So bilde zum Beispiel die arme Mama sich jetzt ein, daß ich ein großes Unrecht begangen habe. Dafür wolle sie mir einen Verweis erteilen, und was sie wolle, müsse geschehen; sie dürfte um keinen Preis durch einen Widerspruch aufgeregt werden. Der Doktor habe es strengstens verboten. Und so müsse ich, weil sie durchaus darauf bestand, zu ihr kommen, müsse die Vorwürfe, die sie mir machen würde, schweigend anhören, um Verzeihung bitten und dann sogleich fortgehen. Dringend legte mir die Tante das alles ans Herz, und ich versprach gern, es zu tun. Ach, unsagbar gern! Was lag mir daran, von Mama ausgezankt zu werden, wenn ich sie nur wiedersehen durfte!

Zitternd vor Glückseligkeit betrat ich ihr Zimmer und wollte auf sie zueilen. Da streckte sie den Arm abwehrend aus.

 

Sie lag auf dem Ruhebette, in einen Schal gehüllt, eine Decke über den Knien. Ihr Kopf war in die Kissen zurückgelehnt, und mit Schrecken sah ich, daß ihr schönes, ihr geliebtes Gesicht ganz klein und auch seltsam verändert, fast fremd geworden war. Ihre weichen braunen Haare, die sich sonst in weichen Locken an die Schläfen schmiegten und die Wangen umspielten, waren glatt gescheitelt und von einer kleinen, weißen Haube bedeckt.

Am ungewohntesten aber war der Ausdruck der Augen, die mich mit unruhig gequälten Blicken ansahen. Sie sprach mühsam, mit klangloser Stimme, und – klagte mich einer Lüge an. Einer Lüge, des, wie man uns immer sagte, Schimpflichsten? … Das war ja gar nicht möglich, das war ein grausamer Scherz, und wenn mir nicht ein Schluchzen die Kehle zugeschnürt hätte – ich hätte gelacht.

Ein Wort stieß ich heraus, oder vielmehr, es kam von selbst, es drängte sich auf meine Lippen: »Mama!« und obwohl Tante Helene, die hinter das Ruhebett getreten war, mir Zeichen machte zu schweigen, wiederholte ich doch immer: »Mama«, als wäre sie es nicht, neben der ich da stand, als müsse ich sie herbeirufen können. Mich zu verteidigen fiel mir nicht ein; ich dachte nicht einmal daran, daß mir unrecht geschah. Ich fühlte einen dumpfen Schmerz, eine grenzenlose Betroffenheit und hatte zugleich die Empfindung: Es muß ausgehalten werden, es geht vorbei. Auf einmal wird meine Mama mich in ihre Arme nehmen, und alles wird gut sein.

Immer wieder rief ich sie an, mit dem einen angstvoll ausgestoßenen Worte. Sie wollte nicht hören, sie wies mich zurück, sooft ich nähertrat und ihre Hand zu fassen suchte.

Ohne Erbarmen wurde ich zuletzt fortgeschickt.

Ich bin damals im siebenten Jahre gewesen und bin heute im fünfundsiebzigsten. Wenn aber die Erinnerung an jene Stunde lebhaft vor mir aufsteigt, erwacht noch ein Reflex der Qual, die damals mein Kinderherz zerriß. Damals, als ich, nach der Ausweisung aus dem Zimmer Mamas, mich nicht entschließen konnte, seine Schwelle zu verlassen, nicht zu rufen, nicht zu pochen wagte, nur den Mund an den Türspalt preßte, an dem meine Tränen herunterliefen, und hineinhauchte, leise und jammervoll: »Verzeih! Verzeih!«

Dieses Wiedersehen mit meiner viel-, vielgeliebten Mama blieb das letzte.

Von Tag zu Tag stiegen die Besorgnisse um sie. Der furchtbare Ausspruch: »Keine Hoffnung mehr!« wurde getan, und eines Morgens kamen Großmama Vockel und Tante Helene verweint und übernächtigt zu uns und brachten die Trauerbotschaft.

In der Nacht, während wir schliefen, hatte Mama uns für immer verlassen … Für immer? – das ließ sich nicht begreifen. Wie hatte sie uns für immer verlassen können, die uns so liebgehabt?

Unser Vater ließ sagen, daß er uns sehen wolle, und wir gingen zu ihm.

Im Speisezimmer trafen wir »Grandmaman« Bartenstein. Sie trat aus dem Gemach ihrer entschlafenen Tochter uns entgegen. Wir blieben stehen. Ich erinnere mich der fast scheuen Ehrfurcht, die mich bei ihrem Anblick ergriff. Auf den Mienen meiner Geschwister malte sich, bewußt und unbewußt, dasselbe Gefühl. Es lag in dem Augenblick etwas Überirdisches in der Erscheinung dieser Frau. Ein so großartiges Bild der Resignation hat sich mir nie wieder dargeboten.

Man sagte uns, sie sei am Morgen gekommen, einige Stunden, nachdem sie die Meldung vom Tode Mamas erhalten hatte. Sie sei niedergekniet am Bette und habe gebetet, das Gesicht in den Händen, lautlos, tränenlos. Kein Beben durchlief ihre Glieder, kein Schluchzen hob ihre Brust, aber allen Anwesenden war, als wohnten sie einer feierlich ergreifenden Andachtsübung bei. Endlich hatte sie sich erhoben, hatte einen langen Kuß auf die Stirn der Toten gedrückt und war hinweggeschritten, aufrecht wie immer.

Jener fernen Vergangenheit mußte ich gedenken, als diese stille Heldin vor nun auch schon vierzig Jahren nach Zdißlawitz kam zur Hochzeit ihrer Enkelin, unsrer Sophie. Da besuchte sie zum erstenmal das Grab ihrer Tochter. »Laßt mich dort allein!« sprach sie mit einer Bestimmtheit, der niemand entgegenzutreten wagte. Nicht einmal auf dem Wege zur Gruft wollte sie begleitet sein. –

 

Unser Vater hemmte nicht den Ausbruch seines Schmerzes. Der starke Mann war völlig gebrochen, seine Stimme versagte, als er mit uns sprechen wollte, und er weinte mit seinen Kindern wie ein Kind.

Wir aber – wie bald stellte sich die Reaktion ein gegen alle die dunkeln und herzzerreißenden Eindrücke, die wir an diesem Tage empfangen hatten! – Wir spielten am Abend ganz vergnügt in den Zimmern der Kleinen. Plötzlich entsann ich mich dessen, was geschehen war, und sagte zu meiner Schwester: »Jetzt ist diese beste Mama gestorben, wir werden sie nie wiedersehen – warum sind wir denn nicht traurig?«

»Warte nur«, erwiderte sie, »wenn erst die schwarzen Kleider kommen, dann werden wir schon traurig sein.«

So spät wie noch nie traten wir die Reise nach Zdißlawitz an. Sie nimmt heute sechs Stunden in Anspruch; damals dauerte sie anderthalb, und wenn das Wetter schlecht war, zwei Tage. Im Reisewagen, uns gegenüber, auf dem Platze, den sonst Mama an der Seite unseres Vaters eingenommen hatte, saß Tante Helene. Schwermütiger Ernst an der Stelle erquickender Heiterkeit. Die traurige Jugend, die sie durchkämpft und durchduldet hatte in Mühsal und Leid, warf einen Schatten über ihr ganzes Leben.

Es war kein geringes Opfer, das sie ihrem Bruder brachte, als sie sich entschloß, die Leitung seines Hauses und der Erziehung seiner Kinder zu übernehmen. Sie gab damit ihre Unabhängigkeit auf und den Frieden ihres kleinen, mit kunstvoller Sorgfalt geführten Haushalts, um an die Spitze eines großen zu treten, in dem die verschiedensten Elemente sich geltend machen wollten und dessen Herr ein unglücklicher, schwerlebiger Mann war.

Als ein langes Fest war uns sonst die Reise erschienen, und die Vorbereitungen zu ihr schon so angenehm. Das Einpacken, besonders das der Unterrichtsgegenstände, die immer zuerst in den Koffern verschwanden, welch ein Genuß! Und die Fahrt selbst, das Rollen über die Landstraße, an den Pappelbäumen vorbei, durch Ortschaften und Dörfer. Das Wechseln der Pferde auf den Poststationen, das lustige Trompetengeschmetter, mit dem die Postillone uns gern ergötzten, denn sie wußten: »fürs Blasen« gibt’s ein Extra-Trinkgeld.

Zuletzt dann, die Krone des Ganzen, die Ankunft in Zdißlawitz. War das ein Drängen im Schloßhof, wenn unsere Wagen hereinfuhren! War das ein Willkommenrufen und Versichern, man hätte die Stunde, die uns wiederbringen sollte, kaum erwarten können! Nicht minder herzlichen Willkomm als die Menschen bot die traute heimische Natur, boten die Felder, die Wiesen, die blütenüberschneiten Bäume am Rande der Wege und im Garten jeder Halm und jeder Strauch. Kein schöneres Wiedersehen aber als das mit unserer Lindenallee, unserem liebsten Spielplatz an heißen Sommertagen – o wie herzlich habe ich oft gewünscht, ein Riese zu sein mit ungeheuern Armen, um alle diese Wipfel umfassen und an mein Herz drücken zu können!

 

Nicht heiter wie sonst gestaltete sich nach dem Tode Mamas unsere Ankunft auf dem Lande. Nur ernste Mienen, nur Kundgebungen der Teilnahme empfingen uns. Unser erster Weg führte in die Gruft, wo eine Nische mehr zugemauert worden war. Wir kannten diese Stätte des Friedens gar gut. Sie lag jenseits der Straße in einem schattigen Parke, den wir Kinder täglich besuchten. Meine Schwester und ich traten oft in den stillen, kühlen Raum, um dort andächtig unserer Toten zu gedenken. Nun kamen auch die »Kleinen« mit uns, und wir beteten zusammen, denn neben unserer unbekannten-wohlbekannten Mutter schlief jetzt auch die ihre: unser aller vielgeliebte Mama.

Unsere Unterrichtsstunden beim Herrn Verwalter wurden nicht wieder aufgenommen. Meine Schwester und ich waren nun des Lesens und – wie man so sagt – des Schreibens kundig. Auch einige Begriffe vom Rechnen und von der Geographie hatte im Laufe des Winters ein mit Geduld reichlich ausgestatteter Lehrer uns in Wien beigebracht. Mademoiselle Henriette gewährte sich und ihren Schülerinnen spärliche Einblicke in die Geheimnisse der französischen Grammatik und gab uns täglich eine Anzahl Verse und eine halbe Seite Prosa zum Auswendiglernen auf.

Die Grammatik hätte unsertwegen ihre Geheimnisse für sich behalten können. Das allmähliche Auswendiglernen einer Anthologie, die Fabeln von Lafontaine und viele hübsche Gedichte enthielt, machte uns Vergnügen.

Eine sprudelnde Quelle des Glückes aber wurde mir die Histoire universelle von Louis Richard dit Bressel. Es gibt nicht viele Menschen, deren Umgang mich erfreut und bereichert hat wie mein Umgang mit diesem Buche. Dickleibig, großoktav, eng bedruckt auf dünnem Papier, in blau und grün marmoriertem Pappendeckel – so präsentierte es sich. Aber welchen Schatz barg das Innere dieser schlichten Erscheinung: eine Wünschelrute, die mich auf einen Wink in Sagenwelten versetzte, in dunkle, in sonnighelle, die ältesten Zeiten in rätselhafter Ferne vor mir auftauchen, mich die alten miterleben ließ. Bis zum Untergang des römischen Kaiserreichs führte sie, und ich folgte ihr, ob leidend, schmerz- und haßerfüllt, ob in jubelnder Bewunderung – immer voll brennender Spannung.

Es gab eine Zeit, da konnte man das Werk meines Historikers wo immer aufschlagen, mir einen Satz vorlesen und mich auffordern, weiter fortzufahren, ich versagte nicht. Und bis heute ist so manche Stelle dieses lieben Buches meinem Gedächtnis eingeprägt geblieben.

Felsenfest stand meine Freundschaft mit dem biederen Bressel, als ein Wundermann sich unserem Bunde anschloß.

Er hieß Perrault.

Nach der Sage und der Geschichte fand eine neue Bereicherung meines Daseins, das holde Märchen, sich ein. Und auch dieses reizumflossene Wesen ließ allen seinen Schimmer und all seine Pracht einem ärmlichen Schreine entsteigen. Die jetzigen Kinder denken’s nicht, wie kümmerlich die Hüllen gewesen sind, in denen unsere größten Reichtumsspender sich uns darstellten. Perraults Märchenhort, von Madame Foa für kindliche Leser eingerichtet, bildete den Inhalt von einigen unscheinbaren gelben Bändchen. Hie und da erschien im Texte ein schwarzer Fleck, und wenn man recht aufmerksam hinsah, ließen Konturen sich erblicken. Ein Kopf kam zum Vorschein, eine Gestalt, die man als zu ihm gehörend vermuten durfte, und – o welches Entzücken, wenn man in ihr einen winzigen, aber ganzen Prinzen Percinet entdeckte! Ein paar Seiten weiter, und da stand eine Dame im Schleppkleid, hatte die Form einer Stangenbohne und statt des Gesichts einen Patzen Druckerschwärze, war aber in unseren Augen die Prinzessin mit den goldenen Haaren und schön wie das Morgenrot.

Ja, damals war er noch ein ganz junges Bübchen, saß auf dem Schoße seiner Mutter, und sie erzählte ihm die Märchen, die er später versinnbildlichen sollte mit seinem begnadeten Griffel, der Genius Gustave Doré.

Wir hatten ihn noch nicht zum Führer und Lenker. In vollster Freiheit waltete unsere Phantasie und wurde da schöpferisch, wo sie heute nur eine Nachempfinderin zu sein braucht. Meine Illustrationen zu Bressel und Perrault malte ich mir selbst in die Lüfte.

Es waren schöne Stunden der Kunstbetätigung, und sie schlugen mir in der Zeit, die ich an Sonn- und Feiertagen bei meiner Großmutter nach ihrer Rückkehr aus der Kirche zubrachte.

Die Fenster ihres Zimmers sahen links auf den Gruftgarten und rechts über die Felder und die Wiesen. Weit gedehnt auf hügeligem Boden, senkten und hoben sie sich wie mit müdem, sachtem Schwunge der fernen Bergkette zu, aus der, nur bei ganz klarem Himmel wahrnehmbar, der Hostein majestätisch emporragt.

In der Vertiefung des einen Fensters stand auf zarten geschwungenen Beinen der Arbeitstisch unserer Großmutter und davor ihr Stühlchen, eine ganz eigentümliche Sitzgelegenheit mit niedrigen Seitenlehnen und ohne Rückenlehne. Über dem Arbeitstische hing das Bild der verstorbenen Levrette. Als sie noch ein schmales Hündlein gewesen war, hatte sie ihren Ruheplatz auf dem Stühlchen hinter ihrer Herrin erhalten und das Recht, sich dort breitzumachen, im Sinne des Wortes rücksichtslos ausgeübt. Sie betätigte ihre Ausdehnungskraft zuletzt derart, daß unsere arme Großmutter sich dos-à-dos mit ihr nur noch halb im Schwebesitz behaupten konnte. Jetzt hatte Dame Levrette das Irdische längst gesegnet und saß, in Öl »auf Leinwand verewigt«, ihrer ehemaligen Lagerstelle gegenüber.

Immer fleißig, häkelte und strickte die Großmutter schöne Bettdecken, feine Strümpfe für uns, warme, dauerhafte Kleidungsstücke für die Armen im Dorfe. An Sonn- und Feiertagen arbeitete sie nicht. Da holte sie einen Band der Stunden der Andacht von Zschokke aus dem Schranke und vertiefte sich in dieses Lebenswerk des schweizerischen Schulmannes und Dichters. Es stammte von unserem Großvater, der Protestant gewesen war, und seine gut katholische Witwe erbaute sich daran.

Während sie ihre sonntägliche Feier abhielt, war ich abgereist nach dem Land der Träume.

In der Ecke neben dem zweiten Fenster befand sich ein großer Fauteuil. Vor ihn stellte ich zwei fausthohe Pferdchen aus Pappe, türmte alle Polster des Diwans auf ihn, erklomm den hohen Sitz, und nun – leb wohl, Vaterhaus, leb wohl, Heimat! Meine Pferde werden lebendig, ihnen wachsen schimmernde, rauschende Flügel, der alte Fauteuil wird eine goldene Muschel mit weißen weichen Seidenkissen und breiten Schleiersegeln, und ich fliege schneller als die schnellste Schwalbe über die Berge und über ein weites Meer in mein himmlisch lichtes Märchenland.

Von den Abenteuern, die ich dort bestand, von den Wundertaten, die ich dort ausführte, habe ich viele Jahre später – es ist nun auch schon lange her – einem kleinen Neffen erzählt, von mir dabei in der dritten Person. So stark sein Glaube auch war – daß die kleine, alte Tante selbst die Heldin all der Märchenromane gewesen, bei denen ihn oft gruselte, hätte er vielleicht doch bezweifelt.

Manchmal, wenn es besonders lang still geblieben war in meiner Ecke, wandte die Großmutter sich nach mir um und fragte: »Bist du noch da? Was tust du?«

Scheinbar tat ich nichts. In Wirklichkeit hatte ich eben einen Drachen getötet oder die greuliche Stiefmutter Grognon in ein Faß voll giftiger Schlangen geschleudert.

 

Der Sommer und der Herbst vergingen. Wir fuhren wieder nach Wien, und dort wurden zwei neue Lehrkräfte für uns bestellt. Ihre Aufgabe war, bei meiner Schwester und mir Talente auszubilden, von denen ich keines besaß. Während Fritzi bald zu den besten Schülerinnen des Tanzmeisters Monsieur Minetti gehörte, erlebte er keine Freude an mir. Jaleo de Xeres! du Kind des stolzen Spaniens, welch ein Schmerzenskind warst du für mich! Deine Posen und Pas studierten wir ein beim Geklapper unserer Kastagnetten und bei den Mißklängen der Gitarre, die am Halse Herrn Minettis an einem Bande hing, das einst himmelblau gewesen war. Am 24. Februar, dem Geburtstage Papas, sollten wir ihn und eine kleine gebetene Gesellschaft mit der Aufführung des iberischen Tanzes ergötzen. Aber schon im Jänner raufte Minetti seine grauen Lockenhaare und bombardierte den Plafond mit grimmigen Blicken. Ein Fiasko prophezeite er mir und sich statt eines »Divertissements«, das wir darbieten sollten. Dabei fuhr er mit dem breiten Daumen so wild über die Saiten seines armen Klimperkastens, daß er dröhnte. Manchmal stampfte er auch mit dem Fuße, doch nicht ohne Zierlichkeit.

Nur der Mühe, die meine Schwester sich mit mir gab, nur der unerschöpflichen Geduld, mit der sie mich anhielt, den unseligen Jaleo immer von neuem mit ihr einzuüben, dankte ich den kleinen Erfolg, den ich schließlich im Schatten ihres großen Erfolges errang.

Indessen – meine Leiden beim Tanzunterricht zählten nicht im Vergleich zu denen bei den Klavierstunden, die eine Frau Krähmer uns erteilte. Eine strenge Lehrerin und nicht bloß gegen mich, die musikalisch völlig Unbegabte, sondern auch gegen meine Schwester, die, talentvoll und fleißig, eine freundliche Behandlung verdient hätte. Doch erlitten auch ihre Finger harte Zurechtweisungen mittels eines Stabes aus Elfenbein, den Frau Krähmer immer bei sich führte und meisterhaft zu gebrauchen verstand. Seine Aufgabe war, die Noten anzuzeigen, auf die man eben seine Aufmerksamkeit zu richten hatte, aber er trieb mit Eifer eine Nebenbeschäftigung. Er sauste mit einer Sicherheit, die nie verfehlte, und einer Kraft, die nie versagte, auf den Finger nieder, der sich einer Abirrung von der richtigen Taste schuldig machte. Er traf den Knöchel so hart, daß es klapperte, und flog gleich wieder zu den Noten empor, und die hätte man genau unterscheiden sollen, wenn einem die Augen in Tränen schwammen? Einen Einwand zu erheben, wagten wir nicht; dazu war Frau Krähmer viel zu imposant. Nur eine der anderen vertrauten wir an, daß wir doch recht arme Kinder wären mit einem Drachen als Gouvernante und einer mitleidslosen Klaviermeisterin.

Ganz regelmäßig schloß mein Morgengebet mit dem dringenden Flehen: »Lieber Gott, mache, daß Frau Krähmer heute nicht kommt!« Daran fügte ich ein Direktiv für unseren lieben Herrgott. Nicht etwa weil ein Unglück sie getroffen hat, weil sie vielleicht auf der Straße überfahren worden ist. Nein, nichts Böses soll ihr geschehen sein, im Gegenteil, etwas sehr Angenehmes, aber nur etwas, das sie abhält, heute zu kommen. Wie ein richtiger Bettler sorgte ich nicht über das Heute hinaus.

Mein Gebet wurde nie erhört. Jeden Morgen mit dem Glockenschlag der zehnten Stunde sahen wir von unserem Fenster aus die Gefürchtete pflichttreu und pünktlich auf den Gang treten. Sie trug einen großen schwarzen Hut mit weit ausladendem Schirm, der unter dem Kinn festgebunden war und den sie nie ablegte. Ihr edles, schmales Gesicht sah aus seinem Hintergrunde hervor wie aus der Tiefe einer sehr schattigen Laube. Auch von ihren unförmlich großen und dicken grauen Handschuhen trennte sie sich nicht. Nur den dunkeln Tuchmantel, der mehrere Kragen hatte, wie zu jener Zeit die Mäntel der Fiakerkutscher, zog sie aus. Seltsam war’s, wenn sich aus dieser weitläufigen Umhüllung eine mittelgroße, feine Gestalt herausschälte, der man die Kraft nicht zugetraut hätte, eine so schwere Last zu schleppen. Mit augendienerischer Beflissenheit suchten wir uns dabei unserer Lehrerin nützlich zu machen. Dann nahm eine von uns beiden Platz am Klavier, die andere setzte sich ans Fenster, faltete ein Blatt ihres Grammaireheftes vierfach zusammen und trug in die so hergestellten Abteilungen die Conjugaison eines Verbes gedankenlos und mechanisch ein.

Beim Fortgehen ermahnte uns Frau Krähmer, fleißig zu üben, und trabte fort auf Stiefeln, in ihrer Art ebenso wuchtig wie der Mantel. Mademoiselle spöttelte ihr nach, sie trage die Kleider ihres verstorbenen Gatten zum Andenken an ihn. Dieser unwürdigen Zuhörerin hatte sie erzählt, daß ihr Mann ein ausgezeichneter Musiker gewesen, vom Unglück aber immer verfolgt worden war. Seine Familie blieb, als er starb, in Armut zurück. Seitdem erwarb die Mutter das tägliche Brot für sich und für ihre fünf Kinder. Um auch nur zu ahnen, was das heißt, waren wir nicht gescheit genug. Zwei ihrer Söhne wollten auch Musiker werden. »Der ältere ist ein Genie«, sagt Madame Krähmer, »und wird ein großer Künstler und sehr berühmt und reich werden.« Bis dahin muß sie aber »courir le cachet« und Unterricht geben im Klavier, das noch dazu gar nicht »son instrument« ist. Ihre Meisterschaft übt sie aus auf der – man denke! –, auf der Klarinette! Mademoiselle fand kein Ende mit Witzeleien über diese Klarinette. Es war ja doch »le comble du ridicule«, daß eine Frau sich’s einfallen ließ, anders als zum Spaße mit gespitzten Lippen in ein hölzernes Rohr hineinzublasen. Wirklich, einer solchen Geschmacklosigkeit war nur eine Deutsche fähig! Wir in unserer Abneigung gegen Frau Krähmer gingen gern auf diese Scherze ein und freuten uns wie auf eine große Ergötzlichkeit, als Großmama uns eines Tages ankündigte: »Frau Krähmer gibt ein Konzert im Musikvereinssaale, und ihr dürft mich dahin begleiten.«

Viel zu früh kamen wir; unsere Ungeduld hatte sich nicht bändigen lassen. Fast noch leer gähnte der Saal uns an, als wir eintraten, und füllte sich nur langsam. Kleine Füße kamen angetrippelt; die Schüler und Schülerinnen der Konzertgeberin erschienen unter der Obhut ihrer Eltern oder des Erziehungspersonales. Ehrenplätze nahmen einige ältere Herren ein, die von vielen jungen Männern und jungen Fräulein respektvoll begrüßt wurden.

»Das sind die Professoren«, sagte die Großmama.

Du lieber Gott, wenn man vor so einem spielen sollte!

Von den Darbietungen derer, die bei diesem Konzerte aus Gefälligkeit mitgewirkt haben, weiß ich nichts mehr. Aber vor mir schwebt deutlich, unvergeßlich ein ergreifendes Bild: Frau Krähmer zwischen ihren beiden Söhnen. Der jüngere, ein Jüngling von etwa fünfzehn Jahren, handhabte seine Viola mit Ruhe und erstaunlicher Sicherheit, stillvergnügt in der Ausübung seiner Kunst. Der ältere, der Violinspieler, war hoch aufgeschossen, hager und hatte auffallend rote Flecke auf den Wangen. Er wandte die leuchtenden dunkeln Augen nicht von seiner Mutter. Fragend, erratend ruhten sie auf ihr, und aus ihnen sprach Vergötterung. Ja, ich habe das gesehen! – oder vielmehr damals nur geahnt. Die größte Zärtlichkeit, die ein Menschenherz empfinden kann, die hervorgeht halb aus Begeisterung, halb aus Erbarmen, leuchtete aus diesem Sohnesblick.

Und sie, seine Mutter … Schüchtern fast war die gefürchtete Meisterin vor ihre Schüler getreten und stand da, eng umschlossen von einem schwarzen Seidenkleide, das in spärlichen Falten an ihr niederhing. O gewiß! wenn Kleider sprechen könnten, das ihre hätte gesagt: Was zerrt ihr mich aus meiner Dunkelheit ans Tageslicht, das zum Verräter wird an meinem Gebrechen? Eine ähnliche Sprache hätte wohl das kleine Spitzentuch geführt, das über der Brust Frau Krähmers gekreuzt war. Auf dem Kopf trug sie eine weiße unter dem Kinn gebundene Haube, und jetzt sah man erst, wie schön braun ihre glatt gescheitelten Haare noch waren und wie rein das Oval ihrer Wangen sich erhalten hatte. Und ihre Hände, die wir heute zum erstenmal ohne Hülle erblickten, mußte man bewundern. Schlanke Hände mit seelenvollen Fingern. Ihre Spitzen berührten abwechselnd eine oder die andere der blanken Klappen des Instruments, aus dem die Meisterin wie mit leisen Küssen liebliche Töne hervorlockte.

Heitere Melodien erklangen; manchmal glaubte man das silberne Lachen eines Kindes zu hören. Es hob sich hell ab von dämmeriger Begleitung. Die Stimmen der Viola und der Violine schmiegten sich ihr an, trugen sie, blieben immer voll Hingebung dienend und untertan, ob ihr tiefernster Gesang in breitem Strome flutete und brauste, ob er kristallklar dahinglitt mit seidiger Geschmeidigkeit.

Es war traumhaft schön. Man konnte eine Landschaft vor sich hinzaubern unter grauem Himmel mit weitem Ausblick in die Ferne; alle Umrisse unbestimmt, die Farben ineinander verschmolzen. Aber verborgen in den Zweigen eines Baumes hatte sich ein Vogel – der sang. Sang Licht und Duft und Farbe in die graue Landschaft hinein … O du gebenedeites Kehlchen! Gebenedeit vor allem, die uns von seinen Wundertönen träumen läßt – die Klarinette Frau Krähmers.

Mit fanatischer Bewunderung sah ich zu der genialen Künstlerin im dürftigen Gewand empor, mit derselben Empfindung, meine ich, mit der ihr Sohn sie ansah. Auch in meine Bewunderung mischte sich ein namenloses Mitgefühl. Ich bin ja damals nur ein unwissendes Kind gewesen, aber davon hatte ich gehört: Todesrosen nennt man die roten Flecke, die auf den eingefallenen Wangen junger, hagerer Menschen brennen. Sah die Mutter die Rosen auf den Wangen ihres Lieblings, ihrer Hoffnung, ihres Stolzes, nicht?

Beim Nachhausekommen wurden wir von Fräulein Henriette mit Gespöttel über den Genuß, den wir gehabt hatten, empfangen. Sie schrieb unsere Versicherungen, daß es herrlich gewesen sei, einem esprit de contradiction zu, den sie versprach uns auszutreiben. Meine Schwester schwieg und bat auch mich zu schweigen. An dem Tage schluckte ich denn meinen Ärger hinunter; als Mademoiselle aber am nächsten wieder anfing, sich über das Konzert Frau Krähmers lustig zu machen, brach ich los. All mein Groll und Haß gegen sie machte sich Luft, ich tobte, ich ließ mich durch ihre Drohungen nicht einschüchtern. Schwören möchte ich nicht darauf, fürchte aber sehr, daß ich ihr eine Ohrfeige angetragen haben dürfte. Und als sie, nicht minder zornig als ich, zu Papa zu gehen und mich bei ihm zu verklagen drohte, riß ich, tollkühn vor Wut, die Tür auf und rief: »Gehen Sie! Gehen Sie!«

Sie machte von meiner Einladung keinen Gebrauch; sie fühlte sich doch nicht so ganz im Rechte; aber eine Reihe von Strafen kündigte sie mir an, die damit anfing, daß ich in die Ecke treten und dort stehen mußte, bis Frau Krähmer zur Stunde kam.

Wir hatten ausgemacht, meine Schwester und ich, daß wir auf sie zugehen und ihr die Hand küssen würden. Doch verging uns bei ihrem Anblick der Mut dazu. Wir brachten nur stammelnd heraus, daß es gestern so schön gewesen wäre – so schön. Sie wies uns kurz ab; sie war nicht mehr die herzbezwingende Künstlerin, sie war wieder die strenge Lehrerin. Emsig wie immer flog der Elfenbeinstab vom Notenblatt herunter auf die Knöchel meiner Finger. Indessen – das große Mitleid ist eine große Kraft, eine, die doppelt wirkt. Sie beschützt den, der sie erregt, sie macht den unverletzlich, der sie empfindet. Die Klapse taten nicht mehr weh.

Diese Unterrichtsstunde war eine der letzten, die Frau Krähmer in unserem Hause erteilt hat. Der Frühling brach an, und wir verließen Wien. Nach unserer Wiederkehr sollten die Klavierlektionen wieder aufgenommen werden. Die Lehrerin wurde berufen. Sie kam nicht. Sie war, sagten ihre Hausleute, nach dem Tode ihres älteren Sohnes verreist. Wohin wußten sie nicht, vermuteten nur: nach Deutschland. Einige ihrer Schüler hatten schon Erkundigungen eingeholt, aber nichts von ihr erfahren können.

Weil sie tot ist, weil sie ganz gewiß tot ist, bildete ich mir ein und malte mir aus, wie traurig ihr Sterben gewesen sein mußte, in der Fremde, in Armut und Einsamkeit. Ich dachte oft an sie, träumte von ihr, sah sie vor mir stehen im Konzertsaale auf dem Podium zwischen ihren Söhnen. Und die Erinnerung an diesen ergreifend wehmütigen Anblick ist zum Ereignis geworden in meinem Leben. Sie hat dazu beigetragen, es auf die Tonart zu stimmen, in der es sich abspielen sollte. Ein Begriff war mir aufgegangen von dem Leiden, das in der Welt ist und neben uns hergeht mit erhobenem Haupte und geschlossenen Lippen, von einer Armut, die darbt und ringt, ohne je zu sagen: Gib! Hilf! Ganz unbestimmt noch, eben nur als leises Vorgefühl, war ein trotziges und selbstsüchtiges Mitleid in mir erwacht, ein Wille zum Leiden. Nicht weil die anderen etwas davon haben, sondern weil mein Leiden mir das ihre erleichtert.

 

Im Frühjahr 1839 begleitete ein neuer Hausgenosse uns auf das Land: Just Dufoulon, ein neunzehnjähriger bildhübscher Franzose – ein Erzieher für unsere Brüder in Gestalt eines guten Kameraden. Seine Mutter war mit ihm von Paris nach Wien gekommen und dort unser täglicher Gast gewesen. Sie wünschte die Familie kennenzulernen, an die sie den einzigen Sohn hingab. Es bestand eine Ähnlichkeit zwischen ihrem Schicksal und dem der Frau Krähmer; auch Madame Dufoulon war Witwe, auch sie setzte auf das Haupt eines geliebten Kindes alle ihre Hoffnungen – und ebenso schmerzvoll sollten sie getäuscht werden.

Vom ersten Tage an erschien »Monsieur Just« uns Kindern wie ein älterer Bruder. Der Respekt war da, aber die Liebe überwog.

An Liebe hat es ihm überhaupt bei uns nicht gefehlt, und nur allzu heiße brachte ihm ein Herz im Sturme dar, denn es war ein gar feuriges, es war das Herz seiner Kompatriotin.

Monsieur Just wurde der Anführer aller unserer Spiele und mein besonderer Freund, obwohl meine Eitelkeit oft schwer durch ihn litt. Er behauptete regelmäßig den Sieg beim jeu de barre und beim Wettlauf, und schlug er mich einmal nicht, dann war meine Demütigung erst recht groß. Dann fühlte ich mich von ihm als ein albernes Kind behandelt, das man gewinnen läßt, und dann strafte ihn mein entrüstetes: »Monsieur, vous trichez!«

Ich hatte im Garten einen Umkreis ausgemittelt, den ich in zehn Minuten zu umlaufen vermochte. Ich allein, niemand sonst, nicht einmal Mademoiselle. Doch mußte ich meinen Ruhm mit Seitenstechen bezahlen, die sich nach vollbrachter Heldentat einstellten.

Und nun begab es sich, daß Monsieur Just, dem ich eine Wette angeboten hatte, denselben Weg in fünf Minuten zurücklegte.

Tief betrübt und beschämt sah ich ihn an. Er war sehr rot, und auf eine kleine Genugtuung hoffte ich doch noch und fragte: »Monsieur, avez vous des picotements?«

Er lachte nur, er war herrlich bei Atem, und meine Brüder, diese miserablen Kleinen, bejubelten ihn, bejubelten den Sieg ihres jungen Galliers über die hannakische Atalante.

Bald danach war aber Monsieur Just in Gefahr, sein Ansehen bei ihnen einzubüßen.

In dem kleinen Park, wo die Gruftkapelle sich erhebt, breitet ein üppiger Wiesengrund, von prachtvollen Kastanienbäumen und dichten Gebüschen umsäumt, seinen blumendurchwirkten Teppich aus. Dorthin hatten wir an einem heißen Sommernachmittag unsern Spielplatz verlegt. Ein »Cinquante et un« war eben im besten Gange, als plötzlich in dem Geäste und Gezweige über uns kreischendes Vogelgezwitscher laut wurde. Todesbang und kriegerisch zugleich, ein verzweifelter Schlachtruf, pflanzte es sich weit und weiter fort. Hunderte von kleinen Stimmen waren laut, piepsten, pfiffen, kleine Flügel rauschten, das gefiederte Völkchen schoß umher wie toll. Man kennt den Grund eines solchen Aufruhrs. »Ein Raubvogel! Ein Raubvogel!« riefen wir und rannten ins Freie, auf die Wiese hinaus.

Und richtig, wir sahen ihn. Ruhig und majestätisch und scheinbar regungslos schwebte auf ausgebreiteten Schwingen der Gefürchtete, der Gehaßte, der den jungen Vögeln im Neste die Mutter raubt, Wachteln würgt und Rebhühner und unsere armen Tauben … ein riesiger Geier. Monsieur Just, die Brüder wurden wie von einem Fieber ergriffen. – Ein Gewehr … O Gott, wer eines hätte und den Übeltäter herunterschießen könnte! Ein Gewehr … Ach, der Papa hat so viele Gewehre – aber niemand würde wagen, eines nur anzurühren ohne seine Erlaubnis …

Monsieur Just, Adolf, der schöne, starke, rotwangige Junge, sind ratlos; dem kleinen Viktor kommt ein Gedanke. Im Bedientenzimmer, da hängt an der Wand ein altes Geschütz, ein Tromblon, und ist immer geladen. Er weiß das. Also vorwärts! Her damit! Monsieur Just rennt, stürzt dem Schlosse zu, die beiden Büblein ihm nach … Sie kommen nicht weit, er ist schon hinter der Kapelle verschwunden, während sie kaum die Mitte der Wiese erreicht haben. Dort stehen sie und warten und »fippern« vor Spannung und Ungeduld, und wir stehen bei ihnen und warten und »fippern« auch. Der Geier hat einen Stoß nach abwärts gemacht, spreizt sich völlig herausfordernd: Zielt nur, trefft! Die Aufregung der Brüder ist unbeschreiblich. Adolf glüht vor Blutdurst, Viktors bis zur Pein gesteigerte Spannung gibt ihm einen Stich ins Gelbe; er möchte seine schmächtige Gestalt bis zum Geier hinaufdehnen können, er streckt sich, er hüpft ratlos bald auf der einen, bald auf der anderen Fußspitze. Mademoiselle ist dieses Mal eines Sinnes mit uns und verkündet jubelnd die Rückkehr Monsieur Justs … sie hat ihn zuerst erblickt auf dem Wege vom Schlosse her. Nur unsere Älteste will nicht, daß geschossen werde, und verstopft sich die Ohren. Aber da hilft nichts mehr, der Schütze kommt gestoben, rennt wie ein Verfolgter und ist es auch – es sind Leute hinter ihm her, sie schreien ihm nach, sie drohen … Mademoiselle Henriette versteht etwas Deutsch, etwas Böhmisch, sie ist auf die Warnungen aufmerksam geworden, die Monsieur Just zugerufen werden. Wir haben ihn mit Ausbrüchen der Begeisterung empfangen. Er steht da, den unförmigen Schießprügel in den Händen, sieht sieghaft empor, legt an … Da fällt Mademoiselle ihm in den Arm und schreit: »Au nom du Ciel, ne tirez pas!«

»Halt!« lassen sich nun schon aus der Nähe die Stimmen des Zimmerwärters und anderer Diener vernehmen. »Nicht schießen! Das alte Zeug platzt Ihnen in der Hand!«

Voll Entsetzen erklärt Mademoiselle dem jungen Mann, an den sie sich herandrängt, die Bedeutung dieser Worte. Er wehrt sie ab, zögert aber doch …

Und nun stürzt der kleine Viktor vor Monsieur Just auf die Knie. Er hebt die Arme zu ihm empor, er verschlingt krampfhaft die Finger und keucht und fleht: »Tirez! Je vous aimerai! je vous adorerai! Tirez! tirez!«

Der heiße Wunsch seines Kinderherzens blieb unerfüllt. Monsieur Just ließ sich überzeugen, daß es Unsinn wäre, die Muskete in Gebrauch zu nehmen, die soviel Neigung zeigte, aus Ärger darüber, daß man ihr eine Anstrengung zugemutet hatte – zu bersten.

»Aber der Geier! der Geier!« schreien die Buben. Die Leute beruhigen sie: »Geduld! Der Franz« – das war Papas Büchsenspanner – »kommt schon, wird gleich dasein, der holt ihn herunter.«

Der Franz! … Nun stehen alle unsere Hoffnungen auf dem Franz. Zum größten Glück läßt er nicht auf sich warten. Meine Brüder und ich, wir laufen ihm entgegen. »Hierher! da, sehen Sie, da!« Wir rufen alle durcheinander, jedes weiß den Platz am besten, auf dem Franz sich aufstellen soll. – »Da?«

Franz schaut in die Höhe, schaut und schaut und murmelt etwas, das einem Fluch zum Verwechseln ähnlich ist.

Der stolze Vogel hatte seine Feindesschar mit einem leichten Flügelschlag gegrüßt, in ruhiger Majestät einen großartigen Kreis umschrieben und war dann plötzlich wie ein abgeschossener Riesenpfeil am Himmel hingeflogen und verschwunden.

Viktor ballte sein Fäustchen gegen Monsieur Just. »Poitron, va!« sagte er.

Und noch von einem an Gemütsbewegung nicht minder reichen Erlebnis aus jener Zeit weiß ich zu berichten; von einer Begegnung mit einer Katze.

Von klein auf hatte ich einen Abscheu gegen das ganze Geschlecht dieser samtpfötigen Raubtiere, dieser Vogelmörder mit dem unhörbaren Schritt, den widerwärtig weichen Bewegungen, den falschen phosphoreszierenden Augen. Mich überlief’s bei ihrem Anblick, Hände und Füße wurden mir eiskalt, ich zitterte am ganzen Leibe, wenn meine Geschwister ein Kätzchen ins Zimmer brachten. Das kam übrigens selten vor, auch mein Vater liebte diese Tiere nicht, man hielt sie nicht im Hause und verjagte sie aus dem Garten.

Eines Tages ging ich über den Hof, der Lindenallee entgegen an den hohen Blumengestellen vorbei. Zwischen einem von ihnen und den Gebüschen, die seine Rückwand verdecken, befand sich ein Bottich mit Wasser zum Begießen der Blumen. Da, wie gesagt, ging ich vorbei und vernahm plötzlich ein Kratzen und Plätschern, wie wenn sich etwas aus dem Wasser herausarbeiten wollte und immer wieder hineinplumpste; dazwischen, dünn und schrill, ein angstvolles, hilfeheischendes Miauen. Es durchblitzte mich … Eine Katze! Eine Katze ist ins Wasser gefallen – oder hineingeworfen worden … Es gibt böse Menschen, die so etwas tun, die grausam sein können gegen Tiere … Haben wir nicht unlängst eine Fledermaus gesehen, eine jämmerliche! Der Sohn des Gärtners hatte ihre Flügel an ein Brett genagelt … Wie sie pfiff, wie ihr kleiner Körper bebte, wie sie rang … Oh, herzzerreißend! – und dort die Katze, die krallt und miaut, ringt auch um ihr Leben … und das muß qualvoll anzusehen sein … Ich wandte mich und eilte vorbei. Aber bald regte sich das Gewissen und auch – die Eitelkeit. Soll ich sie zugrund gehen lassen, weil sie mir zuwider ist? Es wäre schlecht, es wäre feig! … Ich werde doch nicht feig sein – ich!

Also zurück durchs Gebüsch und mutig hinzugetreten an die Stätte des Grauens … Mutig, ja, das war ich im Vorsatz, in der Tat elend vor Angst. Es wurde schlimmer, je näher ich dem Bottich trat, es wurde Entsetzen, als ich, mich auf die Fußspitzen stellend, ein scheußliches Ding gewahrte, ein mit dunklem, struppigem Fell überzogenes Skelett … Es haut um sich mit langen, dürren Beinen, es krümmt einen fürchterlichen Rücken … Wie Knoten in einem Stricke stehen die Knorpel hervor … Und danach die Hand ausstrecken, es anrühren, das sollst du, das willst du? … Ich tu’s! … Vom Fieber des Abscheus geschüttelt, ergreife ich das Ding und hebe es in die Höhe. – Aber da ringelt sich sein fadendünner Schwanz, da faucht es mich an, setzt an zum Sprung in mein Gesicht … Oh, du Miserables! Empört und schaudernd werfe ich es auf den Boden und laufe davon und bilde mir ein, daß es mir nachläuft … ja, ja, ich höre es, es faucht, es ist schon nahe, es wird mich erreichen, an mir hinaufspringen … Und ich renne mit klopfendem Herzen, mit versagendem Atem, ich Heldin, vor einem eingebildeten Verfolger durch Gartengänge, über Wege und Wiesen, bis meine Füße versagen und ich in Angstschweiß gebadet niederstürze …

Ich weiß die Stelle gar gut, und wenn ich an ihr vorbeikomme, gedenke ich noch oft lächelnd jener Schreckensstunde.

Am nächsten Tage fragte ich den alten Gartengehilfen: »Sag mir, wer wirft denn da bei uns Katzen ins Wasser?«

Ob ich das Vieh in dem Bottich meine? Ja, das hatte er hineingeworfen. Aber es krabbelte sich heraus, und da schlug er es tot.

Totgeschlagen hatte er’s! Und womit denn? – »Ja, mit der Schaufel; mit der da. Was eine Katze ist, wird nicht geduldet im Garten. Und das war nicht einmal eine rechte, war so was Halbes.«

»Und was war denn die andere Hälfte? vielleicht ein Ratz?«

Er gab darüber keine Auskunft, und ich war im stillen ganz zufrieden mit dieser Lösung der Dinge, betrachtete aber doch das Mordinstrument mit Gruseln und auch ihn, der etwas erschlagen hatte.

Wie zur Rechtfertigung wiederholte er, daß Katzen im Garten durchaus nicht geduldet werden dürfen.

»Nicht einmal halbe?«

»Oh, die schon gar nicht!«

 

In dem Gedichte in Prosa Schattenleben gab ich Rechenschaft von einer eigentümlichen Vorstellung, mit der ich meine ganze Kindheit hindurch gespielt habe.

Da hat es mich denn sehr überrascht, als ich kürzlich in einer von Tolstoi erzählten Geschichte seiner Jugend die Schilderung der ganz gleichen Erscheinung fand. Auch er hat unter ihrem Banne gestanden, und ich habe seitdem gehört, daß es sich damit nicht um etwas Exzeptionelles bei Kindern handelt. So manche sollen von dem Zweifel an der Wirklichkeit dessen, was sie umgibt, heimgesucht sein. Bei mir hatte der Zweifel sich allmählich zur Überzeugung herangebildet.

Der Himmel, zu dem ich emporsah, die Sonne, der Mond, die Sterne und die Landschaft, die mich umgab, und was sie belebte oder vielmehr zu beleben schien, das alles war nicht. Meine Augen nur zauberten es hin. Wohin mein Blick fiel, wölbte sich das Firmament, breitete ein Stück Erdenwelt sich aus. Wohin aber mein Blick nicht drang, da war das Nichts, die Leere. Vor mir die Welt, hinter mir das schreckliche Nichts, grau, stumm, tot. Oh, wie brannte ich darauf, ihm einmal auf die Spur zu kommen, diesem Nichts! Unheimlich war’s und häßlich, sich immer sagen zu müssen: Es gähnt hinter dir her, macht sich breit in seiner grenzenlosen Armut und unaussprechlichen Langweiligkeit.

Nein, ich wollte mich nicht beständig von ihm narren lassen, ich wollte es entlarven und ihm auf sein schnödes Geheimnis kommen.

Und ich rannte, so schnell ich nur konnte, in den Garten tief hinein bis an den Zaun, und dort, rasch wie ein Blitz, sah ich mich um … Aber da war schon wieder alles aufgestellt, die Gesträuche, die Bäume, Blumenbeete und Wiesen. Meine Augen waren immer zu langsam gewesen, kamen immer zu spät.

Manchmal faßte ich kühne Entschlüsse. Wenn die Menschen nicht sind, wenn ich sie mir nur einbilde, will ich sie mir so einbilden, wie sie sein müßten, um mir bequem und angenehm zu sein. Ich will mir einen Papa einbilden, den ich nicht fürchte, und eine Gouvernante, die mich nicht quält. Und einem in dieser Weise umgestalteten Papa, einer Mademoiselle Henriette, die eitel Liebe und Güte war, begegnete ich dann mit einer unbefangenen Vertraulichkeit, die äußerst mißfälliges Staunen erregte und mir manche Strafe zuzog. Das war gleichsam der stimmende Akkord zu der Erfahrung, die ich im späteren Leben so oft machen sollte. Über keines der Wesen, die ihre Existenz wirklich nur unserer Einbildungskraft verdanken, haben wir unumschränkte Macht. Wir können sie ins Leben rufen, sie aber nicht handeln lassen nach unserm bloßen Gefallen. Sind es Menschen, die den Namen verdienen, dann haben sie ihre eigenen Gesetze, müssen tun nach ihrer eigenen Natur und sich aus diesem Tun ihr Schicksal bereiten.

Zu jener Zeit, in der die irdische Welt mir zu einer Sinnestäuschung herabgesunken war, hatte ich mir eine andere, eine so schöne hergestellt, wie eine Kinderphantasie sie nur jemals erschuf. Sie befand sich weit drüben jenseits der Berge und eines großen Meeres. An heißen Sommertagen, wenn die Sonne im Scheitel stand und die Sonnenstäubchen glitzerten wie Diamanten – wenn ich da recht lang zum Himmel hinaufblickte, da glaubte ich in der leuchtenden Bläue mein Land sich spiegeln zu sehen. Seine Wälder blieben immer dicht, immer blühten seine Blumen und reiften seine Früchte. Die Männer waren hohe Göttergestalten, die Frauen alle wie Feenköniginnen. Die Hauptsache aber waren die unzähligen Kinder, von denen mein Land wimmelte. Sehr verschiedene Kinder und durchaus nicht alle gut und schön, aber alle so vollkommen frei wie junge Füllen auf unabsehbaren Weiden. Ich malte mir ihr buntes Treiben, ihre Spiele und ihre Kämpfe aus, ich dachte mich in sie hinein, ich war sie. Einmal die, einmal der, einmal das mit allen Tugenden geschmückte opferdurstige kleine Mädchen, einmal ein übermütiger, wilder Junge. Nicht immer konnte ich dann die Gestalt, in der ich eben einhergewandelt war, sofort ablegen. Es blieben Überreste von ihr an mir haften. Und wieder überraschte ich meine Umgebung durch ein Gebaren von ganz besonderer Art. Gewöhnlich holte meine Schwester mich herab von einem Gipfel der Vollkommenheit oder strafte mein keckes und bubenhaftes Benehmen, indem sie ein sehr trauriges Gesicht machte, mich mit schmerzlicher Mißbilligung ansah und sagte: »Du bist aber heute wieder so kurios!«

Damit brachte sie mich augenblicklich zu mir, denn »kurios« sein wollte ich um keinen Preis. Es erschien mir, ohne daß ich einen Grund dafür hätte anführen können, sehr schimpflich.

Allmählich genügte es mir nicht mehr, nur in Gedanken in meinem Lande zu weilen, und ich eröffnete eine Korrespondenz mit seinen Bewohnern. Ich schrieb kleine Briefe auf das feinste Papier, das ich auftreiben konnte, und übergab es den Lüften zur Besorgung. So wurde Uhlands guter Rat: »Gib ein fliegend Blatt den Winden« von mir befolgt, bevor er mir zur Kenntnis kam.

Glückwünsche zu dem beseligten Leben, das meine fernen Freunde führten, Ausbrüche der Sehnsucht und Grüße bildeten den Inhalt meiner Briefe. Ich schrieb jeden mehrmals ab, bevor er mir endlich würdig schien, seine Reise anzutreten. Wenn er aber so weit gebracht war, dann kannte meine Ungeduld, ihn abzuschicken, keine Grenzen. Da gab’s nur noch einen Wunsch: den günstigsten Augenblick erspähen, in dem ich ihn seinen Flug unbemerkt antreten lassen konnte. Eine Stelle war dazu auserwählt; sie befand sich in der südöstlich gelegenen Ecke, die der Garten gegen die Fahrstraße und die Felder bildet. Ein Erdhügel ist dort aufgeschichtet, der einem Gartenhause zum Postament diente, einem hölzernen, weiß angestrichenen Rundbau mit rotem Kuppeldache. Die kleine Anhöhe bietet an sonnigen Sommertagen eine freundliche Aussicht auf die wellige, fruchtbare Landschaft, auf das in weichen, warmen Tönen schimmernde Marsgebirge, auf den abgestumpften Kegel des Klum, der jetzt bewaldet ist, auf dem aber damals nur ein paar einzelne Bäume standen.

Für uns knüpft sich an ihn eine Erinnerung, die mir etwas Ergreifendes hat.