Kapitel 14

 

Die Tage vergingen einförmig. Lotti führte ihr stilles Leben fort. Die einzige Veränderung darin brachten die Besuche des Advokaten Schweitzer hervor. Er kam sehr oft, zu Gottfrieds großer Befriedigung. Dieser hatte für ihn eine Liebe gefaßt, kaum minder plötzlich wie die Romeos zu Julien, und äußerte dieselbe in seiner beredten Weise: »Der ja! – ja der – das ist einer!«

Der Doktor brachte Nachrichten von Halwigs. Das junge Paar befand sich auf dem Gute; die Schwiegereltern waren nach England abgesegelt. Schweitzer beschäftigte sich mit dem Ordnen ihrer Angelegenheiten. Sobald er damit fertiggeworden, wollte er eine Reise nach dem Norden unternehmen, die heißen Sommermonate in Norwegen oder gar in Island zubringen. Er sagte, seine Nerven bedürften der Stärkung.

»Ich bin nervenkrank wie alle Leute: Sie allein ausgenommen und Gottfried, und vielleicht Ihre alte Agnes.«

»Nun, ich weiß nicht«, meinte Lotti und ließ ihre Augen von ihm auf Gottfried hinübergleiten.

Mit dessen Nerven, dachte sie, stände es auch nicht zum besten. Er war so eigen, schien oft selbst nicht zu wissen, was er wollte. Mehrmals schon hatte ihm Lotti Briefe von Halwig und Agathe vorgelegt, in welchen Fräulein Feßler beschworen wurde, zu ihnen zu kommen und einige Tage bei ihnen zuzubringen.

Gottfried hatte nie etwas anderes dazu gesagt als: »Ja, sie sind sehr höflich«, und: »Wann gehst du?« Aber dies geschah, in so gepreßtem Tone, daß Lotti immer wieder statt: »Morgen«, wie sie gewollt: »Ich weiß es noch nicht«, antwortete.

Endlich kam ein so herzliches und warmes Einladungsschreiben, von den beiden Gatten unterzeichnet, daß Lotti, entschlossen, sich nicht länger bitten zu lassen, noch am selben Abend zu ihrer Dienerin sprach: »Agnes, morgen fahre ich um 8 Uhr mit dem Frühzuge fort. Wenn Gottfried vormittags nach mir fragt, sagst du ihm, ich sei bei Halwigs und käme um sechs Uhr abends zurück. Wenn er mich auf dem Bahnhof erwarten will, so wird mich das sehr freuen.«

Agnes war überaus zufrieden mit diesem Auftrage. In ihrer Einbildung schwelgte sie schon im Genusse des Erstaunens, mit dem Gottfried ihre Botschaft vernehmen, und der Fragen, die er an sie stellen werde. Sie bereitete sich sogleich auf die Künste vor, mit denen sie dasselbe noch erhöhen wollte, und schlief mit dem heißen Wunsche ein, daß ihr nur das Wetter keinen Strich durch die Rechnung machen möge.

Dieser Wunsch erfüllte sich vollständig. Der schönste Tag, welchen der junge Sommer dieses Jahres noch gespendet, brach am nächsten, einem Sonntagmorgen, an. Die herrlichste Junisonne glänzte, der reinste Himmel blaute über dem schnaubenden, dampfenden Eisenbahnzuge, der Lotti aus der Stadt entführte.

Nach zweistündiger Fahrt war sie an der kleinen Station angelangt, in deren Nähe das Gut Halwigs sich befand. Dahin, wie Lotti durch Schweitzer wußte, führte ein bequemer Feldweg, und sie hatte sich vorgenommen, die kurze Strecke zu Fuße zurückzulegen. Irrezugehen war unmöglich. Die Villa lag in dem grünen Wiesenland weithin sichtbar, wie eine Perle im offenen Schreine.

Munter begab sich Lotti auf die Wanderung. Sie fühlte sich erquickt durch die rasche Bewegung und auch ein wenig berauscht durch die ungewohnte kräftige Luft. Sie war allmählich in die gehobene Stimmung geraten, die beinahe jedes Stadtkind erfaßt, wenn es plötzlich aus seiner ummauerten in die unbegrenzte Welt versetzt wird. Die atmet Frische und Freudigkeit und teilt einem empfänglichen Gemüt schon etwas davon mit. Alles so freundlich und üppig bewachsen oder bewaldet, die Weiden, die Auen und der Gürtel von wellenförmigen Hügeln, der die liebliche Gegend umschloß. Das Schönste aber, das war die gewaltige Bergkette im fernen Hintergrund. Kaum zu unterscheiden von den Wolkengebilden am Horizont lag sie in silberner Dämmerung wie ein Wunder da, und wie ein Wunder schien von ihr ein sehnsuchtweckender Zauber auszugehen. Lotti näherte sich der Villa. Zwei Fahnen wehten von ihren schlanken Türmchen und verkündeten, daß Herr und Frau vom Hause anwesend seien. Der Weg führte an der Umzäunung des Gartens, einem feinen Drahtgitter auf niederem Mauersockel, vorbei. Lotti schritt denselben entlang und kam bei dem geöffneten Tor zugleich mit einem Reiter an, der sich vom Hause her genähert hatte. Dieser, ein kleines, dürres Männchen, hielt seinen langhalsigen Braunen, welcher schnob, als ob er Feuer geschluckt hätte, ein wenig an, um Lotti eintreten zu lassen. Ohne die Kappe zu rücken, aber mit gutmütiger Herablassung beantwortete er die Fragen der Fremden. Die »Herrschaften« waren ins nächste Dorf zur Kirche gegangen und dürften in einer Stunde zurückkehren. Länger bleiben sie schwerlich fort, denn um zwölf Uhr wird gefrühstückt.

Eine Stunde warten also! – das ist im Grunde so schlimm nicht. Man kann die Zeit benützen, um den Garten anzusehen, und nebenbei um ein wenig auszuruhen.

Von dem breiten Kieswege der Avenue lenkte Lotti in einen schmaleren ein. Kein Mensch war sichtbar, soweit sie blickte, ringsumher herrschte die echte, ländliche Sonntagseinsamkeit. Lotti kam an einem herrlichen Tulpenbaum vorüber und betrat einen Fichtenhain, dessen kühler Schatten sie lockte. Unter den Bäumen stand eine eiserne Bank, auf diese ließ sie sich nieder.

Es ist doch ein gutes Ding, das Land! dachte sie und atmete tief und sah sich mit Entzücken in ihrer stillen Raststätte um. Die Fichten waren der unteren Äste schon beraubt, aber junger Nachwuchs bildete von außen einen Halbkreis um den Hain, exotische Topfpflanzen füllten die kahlen Stellen zwischen den Stämmen der alten Bäume. Zarte, südländische Palmen, Ficus, Daphnen, Begonien ließen sich’s wohl sein im Schutze der nordischen Riesen. Die Königin der Araucarien, die Excelsia, breitete ihre farrenkrautähnlichen Zweige in majestätischer Anmut aus. Harzgeruch erfüllte die Luft, die Vögel sangen, im Grase schwirrte und summte es. Mit reichgefülltem Gurt kehrten emsige Bienen vom Besuche der blühenden Sommerlinden heim. Alles eifrig, alles beschäftigt, alles, was da schwebte, flog und kroch, sich selber so wichtig und so kühn in seiner Schwäche, so unverdrossen in der Ausübung seiner kleinen Kräfte.

Lotti schaute und lauschte und gab sich völlig dem Gefühl der süßesten Ruhe hin. Still genoß sie die köstliche Stunde, dieses bewegte, rastlose und doch so friedvolle Leben und Weben um sie her … halb unbewußt, gedankenlos … da plötzlich erklang aus der Ferne das Geläute eines Glöckleins.

Zwölf Uhr. – In zwei Stunden muß sie fort, Gottfried erwartet sie, und das darf nicht umsonst geschehen. Er hat eine herbe Enttäuschung gehabt, als er kam und sie nicht zu Hause traf. Er wird die Zeit sehr lang finden und sich gewiß mit der Vorstellung quälen, daß sie nicht kommt. Aber sie wird kommen! und wenn sie scheiden müßte, ohne diejenigen gesehen zu haben, denen zuliebe sie eine Art von Flucht unternommen hat. Diese sind übrigens vielleicht schon längst von ihrem Kirchgang zurück, warum bildet Lotti sich denn ein, daß sie gerade hier vorüberkommen müssen? Sie erhob sich, um den Hain zu verlassen, und im selben Augenblick vernahm sie das Gleiten langsamer Schritte über den Kies und sah ein weißes Kleid durch die Zweige der kleinen Bäume schimmern.

Halwig und Agathe näherten sich, schon waren ihre Stimmen deutlich zu unterscheiden. Lotti eilte ihnen entgegen, war aber noch nicht auf dem Wege angelangt, als sie zögernd stehenblieb.

Die beiden Menschen, die da einherwandelten, boten den seltensten Anblick, der auf Erden zu finden ist: den des vollkommenen Glückes. Sie hielten einander umschlungen. Sein Kopf war leicht geneigt, der ihre leicht erhoben, sie sahen einander in die Augen und flüsterten sich lächelnd und leise einzelne Worte zu. Sie schienen sich in Ausdrücken der Zärtlichkeit überbieten zu wollen, allein ihr Wetteifer hatte nichts Unruhiges, nichts Stürmisches. In diesem Kampf zu siegen oder zu unterliegen mußte gleich süß sein. Da war kein Ringen, kein Sehnen, kein banger Zweifel, da war Erfüllung mit ihrem himmlischen Frieden.

Sie kamen näher, ganz nah. Lotti meinte, von ihnen bemerkt worden zu sein … doch irrte sie. Hermann und Agathe gingen vorbei, jedes blind für alles, was nicht das andere war, jedes dem andern eine ganze Welt. Nun waren sie am Ende des Weges angelangt, schritten über den Vorplan – verschwanden im Hause.

Lotti folgte ihnen nicht.

Was soll ich bei euch, dachte sie, ihr braucht keinen Dritten.

Einige Zeit verweilte sie noch, sinnend und träumend, in dem Haine, der ihr zuerst eine traute Gastfreundschaft und später, ohne daß sie es gewollt und gesucht, ein sicheres Versteck geboten hatte, dann trat sie ruhig den Rückweg an.

Die Hitze war drückend geworden. Lotti schlich mehr, als sie ging, sie hatte ja keine Eile; kam immer noch zu dem ausbündigen Vergnügen zurecht, ein paar Stunden lang vor dem Stationshäuschen auf und ab zu wandeln. Weit und breit kein Schatten, nur Wiesen und Felder. Nichts als schon in ziemlicher Nähe der Station, neben dem Grenzpfahl des Halwigschen Besitzes, ein steinernes Kreuz, von vier jungen Pappeln umgeben. Dort ließ sich ebenfalls ein wenig rasten, aber nicht im Schatten: davon war nicht die Rede, die Sonne stand ja noch im Scheitel. Gleichviel. Eine Landstreicherin, wie Lotti nachgerade geworden, dankt Gott auch für die Wohltat, auf steinerne Stufen gelagert, die Zeit, deren sie zuviel hat, an sich vorüberziehen zu lassen.

Sie trat an das Kreuz heran und bemerkte bald, daß sie keinen besseren Punkt hätte finden können, um Villa Halwig noch einmal recht nach Herzenslust zu betrachten. Das tat sie lange, und das innigste Gebet für die Erhaltung fremden Glückes, das einer Menschenbrust entsteigen kann, wurde zu Füßen des steinernen Kreuzes gesprochen.

Sodann setzte Lotti ihren Weg fort.

Sie begann ihre ganze Ausfahrt höchst drollig zu finden. Die Einladungen Halwigs und Agathens hatten sie mit dem Gefühl einer Verpflichtung belastet, dem sie gemeint durchaus genugtun zu müssen. So hatte sie sich denn aufgemacht, war gekommen und hatte, statt der sehnsüchtig ihrer wartenden Freunde, ein Liebespärchen gefunden, das verspätete Honigwochen beging und dem man keinen größeren Gefallen erzeigen konnte, als es allein zu lassen.

Sie kam sich ein wenig lächerlich vor, die gute Lotti, aber was schadet das einer so anspruchslosen Persönlichkeit wie ihr? – Nicht das geringste; und sie lachte im stillen und fühlte sich seelenvergnügt, obwohl von einem gewissen Unbehagen ergriffen, das – ein klägliches Ende ihrer poetischen Pilgerfahrt – durch ganz prosaischen Hunger hervorgerufen wurde.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Ihre Absicht war, an der Tür des Stationshäuschens zu pochen und von seinen Einwohnern für Geld und gute Worte eine kleine Stärkung zu erlangen.

Das Pochen blieb ihr erspart. Die Frau des Bahnwächters, ein stämmiges, dunkeläugiges Weib, stand am Zaun ihres kleinen Gartens und nahm hier das Ersuchen der Fremden entgegen. Ihr Benehmen war anfangs nicht sehr ermutigend für den hergelaufenen Gast, wurde aber bald so zutraulich, daß Lotti sich fragte, ob dieses leutselige Wesen etwa der Freimaurerei, die nach Schweitzers Meinung zwischen ehrlichen Leuten besteht, zuzuschreiben sei.

Eine Stunde später saß sie so gemütlich, als ob sie zur Familie gehörte, in der Bahnwächterstube. Der Mann rauchte ihr gegenüber seinen schlechten Tabak aus einer hölzernen Pfeife, das Weib, an einer groben Jacke flickend, hatte neben ihr Platz genommen auf der Bank und der pausbäckige Sprößling des Ehepaares sich’s auf Lottis Schöße bequem gemacht. Sie fand, er habe Ähnlichkeit mit einem ihrer Horatier, und das hatte sie sofort für ihn gewonnen.

Die Frau war bereits mit der Erzählung ihrer ganzen Lebensgeschichte fertiggeworden und schien nicht übel Lust zu haben, wieder von vorn anzufangen. Einleitende Betrachtungen wurden schon vorausgeschickt.

Ja, sie stand in ihrem zweiundvierzigsten Jahre, und ihr Bub hatte kürzlich erst sein drittes erreicht.

»Arme Leut kommen halt spät zum Heiraten. Auch darin, auch in so einer Sach haben’s die Reichen besser.«

Da erhob sich der Mann, der Schnellzug mußte bald auf die Strecke kommen, in einigen Minuten wurde es Zeit, den Signalflügel aufzuziehen.

Nachdem er die Stube verlassen hatte – er war ein alter Mensch und sah recht mürrisch aus – begann seine Gattin, ihn zu loben. »Er« war brav. »Er« war allgemein geachtet. Wunder wie viele Unglücksfälle hatte »er« durch seine Wachsamkeit verhütet. Sein Bub gerät ihm nach, ist wirklich schon jetzt der ganze Vater. Sie zog den Jungen an sich, gab ihm einen schallenden Kuß und fuhr mit allen fünf Fingern durch seinen zerzausten Schöpf. Ein rührender Ausdruck von Zärtlichkeit milderte und verschönerte die harten Züge ihres sonnverbrannten Gesichts, während sie ihrem Kinde diese derben Liebkosungen erteilte.

»Heute ist ein rechter Sonntag«, sagte Lotti zu ihr, »heute habe ich zwei glückliche Ehepaare gesehen.«

Die Frau blickte sie befremdet an.

»Und Sie?… Sind doch auch glücklich?«

»Ich bin auch glücklich.«

»So? und –« sie neigte den Kopf mit neugieriger Vertraulichkeit, »und was ist denn Ihr Herr?«

»Ich habe keinen; ich bin eine alte Jungfer.«

»So?… eine alte Jungfer«, wiederholte die Frau, sichtlich erkaltet und enttäuscht. Und als der Mann nun ans Fenster klopfte, um der Reisenden zu bedeuten, daß es Zeit war aufzubrechen, stach der gleichgültige Abschied, den die Wirtin von ihrem Gaste nahm, von deren früherer Freundlichkeit merklich ab. Sie hätte sich nicht anders benehmen können, wenn sie mit einem Male von Reue ergriffen worden wäre über ein übel angebrachtes Vertrauen.

Lächelnd über den Mißkredit, in welchen sie plötzlich bei ihrer neuen Freundin geraten, stieg Lotti in den Waggon.

Nur noch ein Platz war in demselben frei, und sie nahm ihn ein, zum offenbaren Verdruß einer geschlossenen Gesellschaft, die das Coupé besetzt hatte. Diese, ein übermütiges Völkchen, ließ sich, nachdem ihr erster Unwillen über den Eindringling verraucht war, in ihrer Unterhaltung nicht stören. Lotti verbrachte zwei unangenehme Stunden in dem lauten und lustigen Kreise. Ein Gefühl der Vereinsamung ergriff sie, das wegzuspotten sie sich vergeblich bemühte.

Endlich brauste die Lokomotive in den Bahnhof, und das erste, was Lotti erblickte, war Gottfrieds lange Gestalt. Er stand an die Mauer gelehnt – ein Bild der Hoffnungslosigkeit – starrte die Leute an, die dem Zuge entstiegen, und: Sie kommt nicht! Sie kommt nicht! klagte es in seinem Herzen.

Aber nun fuhr er zusammen … Sie war da – ihre Hand lag auf seinem Arme.

»Das hätt ich nicht gedacht … daß sie dich fortlassen … daß du ihnen widerstehen kannst.«

Wie ein Verzückter blickte er sie an. »Ich hab einen Wagen.«

Nein, für den dankte sie; sie war froh, dem Waggon entronnen zu sein, wollte zu Fuß mit Gottfried nach Hause gehen und ihm unterwegs ihre Erlebnisse erzählen.

Also geschah es. Er hörte ihr mit äußerster Spannung zu und ging schweigend neben ihr her. Erst als sie von der Empfindung der Überflüssigkeit sprach, von der sie beim Anblick Halwigs und seiner Frau überkommen worden, bot er ihr plötzlich seinen Arm und drückte den ihren fest an sich.

»Hier bedarf man deiner«, sagte er. »Du warst dir dort zuviel, ich – war mir hier zuwenig.«

Die letzten Worte sollten in scherzhaftem Tone gesprochen sein, kamen aber sehr wehmütig heraus.

»Und was hast du getan den ganzen langen Tag?« fragte Lotti.

Gottfried räusperte sich: »Hm – gewartet.«

»Sonst nichts?«

»Oh, es war genug! Ich weiß keine schwerere Arbeit.«

Er ergriff ihre Hand, und sie wurde ihm nicht entzogen; darüber geriet er in eine Begeisterung, die zu schildern keine noch so hinreißende Beredsamkeit imstande gewesen wäre. Die seine beschränkte sich auf den leisen Ausruf: »Liebe Lotti!«

Der Druck seiner Hand wurde erwidert, und »Guter Gottfried!« sprach sie, die er im Herzen trug von seiner Jugend und von ihrer Kindheit an.

Ein Schauer der Wonne durchrieselte ihn. Wär’s denkbar? Wär’s möglich?… Sollte er am Ende doch noch das Ziel und den Inbegriff aller seiner Wünsche erreichen?…

Ja, ja, antworteten die milden Augen, in die er fragend blickte, und der Mund, den er liebte, sprach: »Guter Gottfried, nicht erst seit heute weiß ich, daß du mir das Liebste auf der Welt bist.«

Da hätte er beinahe laut aufgejauchzt. Es war ein Glück, daß sie vor Lottis Hause angelangt waren. Getreulich und jahrelang hatte er das Geheimnis seiner tiefsten Sehnsucht in sich verschlossen, der Jubel wollte ihm die Brust zersprengen. Ein seliger Mann, faßte er seine Braut in seine Arme, und sie mußte abwehren, sonst hätte er sie wahrhaftig die Treppe hinaufgetragen. Oben angelangt, stürmte er derart an der Glocke, daß Agnes in voller Empörung herbeieilte: »Wie kann man so anreißen?« rief die Alte.

»Ihretwegen, Agnes!« antwortete er, »ich kann es nicht erwarten, Ihnen zu sagen – Sie sind die erste, die’s erfährt … Sehen Sie uns an! Wir sind Brautleute!«

 

In aller Stille wurde einige Wochen später der Bund geschlossen, der Gottfried und Lotti für immer vereinigte. Mitten im lärmenden Treiben der Stadt spann sich ihr Dasein im seligen Frieden ab. Eine kaum noch erhoffte Erhöhung ihres Glückes wurde ihnen zuteil, als nach zwei Jahren, an einem Spätsommerabend, ein kleiner Johannes Feßler gerade in dem Augenblick das Licht der Welt begrüßte, in welchem draußen die Sonne wunderbar schön unterging und im Zimmer die goldene Spieluhr, zum siebenzehnten Male an dem Tage, ihr Schäferliedchen anstimmte.

Seltsam ergriff es die Eheleute, als sie später erfuhren, daß es auch derselbe Tag gewesen, an dem Villa Halwig neuerdings ihren Besitzer gewechselt. Das Reich Hermanns hatte kurze Dauer gehabt. Er und Agathe waren bald aus dem süßen Hindämmern erwacht, in das die Befreiung von ihren Sorgen sie versetzt hatte. Sie, gewöhnt an das rege Treiben ihres großen Familienkreises auf dem Lande, begann sich zu langweilen allein mit ihrem Manne. Und auch ihm verlangte, und vielleicht noch heißer, nach Zerstreuung. Er wollte die Sehnsucht betäuben, die ihn in seiner Ruhe, seinem Behagen störte, die ihn bis in die Arme des geliebten Weibes verfolgte, die Sehnsucht nach den Qualen und Wonnen seiner Lohnschreibernächte, nach dem Fieber, das ihn durchraste, wenn er seine Romanfiguren schuf, sie leiden, sündigen, in Blut und in Schlamm waten ließ, und den Zauber erfuhr, mit dem sie ihn umstrickten. Dazu die hastende Eile, in welcher ihr Schicksal gewoben und ihr Verhängnis erfüllt werden mußte; die Angst vor dem Mißlingen, und dann wieder die Glückseligkeit, wenn das Unerwartete geschah, wenn die Gestalten, die ihm unter der Hand lebendig geworden, zuletzt durch eigene Kraft einen Abschluß herbeiführten, kühner als er ihn geahnt hatte. Halwig erfuhr, daß wer solche Aufregungen kennengelernt, sie nicht mehr missen kann und nach ihnen zurückverlangt, und wär’s aus dem Himmel. So sandte er dem schwindenden, mit Hilfe Agathens und ihrer Brüder rasch aufgezehrten Wohlstand kaum einen Gedanken des Bedauerns nach. Zur Zeit, in welcher das Gut verkauft werden mußte, machte die Gesundheit Agathens einen Aufenthalt an der See notwendig. Hermann ließ sie allein zu ihren Eltern ziehen und kehrte zu den seligen Bitternissen seiner Schriftstellerei zurück. Die Früchte, die sie lieferte, wurden noch immer in gewissen Leserkreisen verschlungen, dem Advokaten Schweitzer jedoch sagten sie nicht zu, und er sprach einmal zu Lotti: »Ich mache mir Vorwürfe. Das Opfer, zu dem ich Sie verleitet habe, war umsonst gebracht.«

Aber Lotti erwiderte: »Nicht umsonst.«

Ihr Mann blickte sie lächelnd an: »Ohne meine Entrüstung über dieses Opfer«, sagte er, »wüßte sie vielleicht heute noch nicht, daß der Gottfried auch einmal etwas für sich wollen konnte.«