Kapitel 8

 

Wir befinden uns, wie Sie sich erinnern, im Jahre neun«, hub die Hofrätin von neuem an, »es ist im Beginn des Monats Mai. Daß unsre schönen Träume von einem siegreichen Vordringen unsrer Armee unter ihrem großen Führer sich nicht erfüllten, wissen wir bereits. Etwas ganz Bestimmtes, Unwiderrufliches haben wir aber noch nicht erfahren.

Ein Mainachmittag also, ein gar lieblicher noch dazu; der Doktor, Anka und ich kehren vom Spaziergang zurück, und wie wir uns dem Tore des Hofes nähern, sehen wir es offen und vor dem Schlosse einen großen Reisewagen stehen, schwer bepackt, mit vier Schimmeln bespannt. ›Anka!‹ ruft der Doktor, ›wessen Equipage ist das? Wer ist angekommen?‹ Die Kleine schreit auf: ›Großmama! Es ist Großmama!‹ und läuft, so schnell sie kann, in den Hof. Ich ging dem Kinde nach, ohne meine Schritte zu beschleunigen, und hatte alle Zeit, die Dame zu betrachten, die unbeweglich neben dem Grafen stand und ihre Enkelin heraneilen ließ. Sie blickte über Anka hinweg und hielt mich ins Auge gefaßt, aufmerksam, neugierig, ohne Mißgunst und ohne Wohlwollen. Erst nachdem Anka bei ihr angelangt war, beugte sie sich zu dem Kinde nieder, drückte es an ihre Brust und begann mit ihm zu plaudern. Ich sah die Gräfin zum erstenmal; in der Stadt war ich ihres Anblicks nie teilhaftig geworden, und überrascht und unwillkürlich zweifelnd fragte ich: ›Die Großmutter? Ist das möglich? Die Dame eine Großmutter?‹ Der Doktor murmelte etwas von ›wunderbar erhalten‹, ›unglaublich konserviert‹, aber die Gräfin machte nicht den Eindruck einer gut konservierten, sondern wirklich den einer jungen Frau. Ihre hohe, junonische Gestalt bewegte sich mit der Leichtigkeit und Anmut jener Jahre, die für klassische Frauenschönheit die der höchsten Blüte und Entfaltung sind. Trotz des hellen Sonnenlichtes, von dem sie umwoben wurde, war nicht die Spur einer künstlichen Nachhilfe im rosigen Inkarnat ihres schönen Gesichtes zu bemerken. Ihre niedere Stirn, von glatt gescheiteltem, dunkelblondem Haar umrahmt, die klaren blauen Augen, die feine Nase, der liebliche, etwas schwellende Mund erinnerten an die verstorbene Gräfin. Dieser freilich sah man ihr Leiden schon an, als ich sie kennenlernte, während ihre Mutter sich der vollen Frische blühender Gesundheit erfreute. So heiter und sorglos sie dreinsah, so finster und verstört erschien der Graf: ›Schlechte Nachrichten!‹ rief er uns schmerzlich entgegen. ›Geschlagen! Unsere Armee auf dem Rückzug, Bonaparte auf dem Wege nach Wien!…‹

›Ich bin auf der Flucht, Herr Doktor‹, sagte die Gräfin, ›auf der Flucht vor unsern heimkehrenden Truppen. Das sind jetzt traurige und beschämte Leute. Kolowrat übernachtet heut in meinem Hause. Der Arme! Vor kurzem sprach ich ihn, da war er trunken von Siegeshoffnung. Ich konnte mich nicht entschließen, ihn jetzt wiederzusehen … Er hat so große Enttäuschungen durchgemacht, er, und alle, alle … Mademoiselle Helene, nicht wahr?‹ wandte sie sich an ihren Schwiegersohn, nachdem sie von neuem ihren glänzenden und teilnahmslosen Blick auf mir hatte ruhen lassen.

Der Graf erwiderte, sie müsse mich von Wien aus kennen. Alles in ihm kochte vor Zorn über den Gleichmut dieser Frau. Sie nahm davon keine Notiz. ›Mais pas du tout‹, sagte sie. ›Ich hatte noch nicht das Vergnügen, und es ist eines, Sie zu sehen, mein liebes Kind.‹ Nun, wenn es ihr eines war, sie gönnte sich’s. So hartnäckig, so gleichsam zergliedernd, wie die Gräfin tat, hatte mich noch niemand betrachtet, und ich fühlte es: Sie weiß dich jetzt auswendig, sie könnte dich malen, sie könnte Rechenschaft geben von jedem Faden an dir, vom Band an deinem Hut bis zu dem an deinem Schuh. Und dabei beantwortete sie die Fragen, mit denen der Doktor sie bestürmte. Ja, ja, wir hatten furchtbare Verluste erlitten; über das Schicksal ihrer Söhne jedoch konnte die Gräfin, Gott sei Dank, ruhig sein. Sie hatten sich wacker gehalten und waren in mörderischen Gefechten unversehrt geblieben. Aber der arme Stephan – ja der … ›Was ist’s mit ihm?‹ rief der Graf, der bisher geschwiegen, die Zähne zusammengebissen hatte und offenbar mit Widerstreben den Erzählungen seiner Schwiegermutter zuhörte. Er wollte wissen, was sie sagte; die Art, in der sie es sagte, war ihm ein Greuel. Er wiederholte seine Frage, und die Gräfin antwortete, indem sie bedauernd die Achseln zuckte: ›Verwundet, vielleicht schwer …‹ – ›Vielleicht tot!‹ warf der Graf heftig ein, und ich erbebte bis ins Innerste. Andächtig – dafür stehe ich Ihnen gut – habe ich an dem Abend das Vaterunser gebetet, das Graf Stephan sich ausbedungen.

Die Gräfin berichtete alles, was sie wußte. Es war nicht viel, sie hatte es durch einen ihrer Söhne erfahren, der Mittel gefunden, ihr Nachricht zukommen zu lassen. In der Nähe von Regensburg, bei dem heldenmütigen Angriff der Stipsiczhusaren auf die Kavalleriedivisionen St. Sulpice und Nansouty, hatte man den jungen Rittmeister an der Spitze seiner Schwadron, von mehreren Karabinerkugeln zugleich getroffen, vom Pferde stürzen sehen.

›Tot also oder gefangen‹, sprach der Graf und stampfte ingrimmig mit dem Fuße; ›Doktor, Doktor, wann machen Sie mich endlich gesund?!‹

Die Gräfin meinte, man würde auch ohne ihn mit den Franzosen fertigwerden, und ließ sich in das Schloß führen, um vor der Tafel ein wenig auszuruhen. Beim Diner erschien sie umgekleidet, parfümiert, in einer hellgrauen Toilette von entzückender und sehr kostbarer Einfachheit. Sobald sie am Tische Platz genommen hatte, war sie die Herrin des Hauses, der Graf schien nur noch ihr Gast zu sein; sie führte ein sehr lebhaftes Gespräch und unterhielt uns, und zugleich auch sich selbst, auf das beste. Nach dem Speisen spielte sie mit Anka Domino, ließ die Kleine gewinnen und bezahlte den Verlust der Partie mit einem blanken Dukaten, den sie durch ihren Kammerdiener herbeibringen ließ. Dann schickte sie ihr Enkelchen schlafen, erklärte zu wissen, daß die Abende bei uns mit Lesen zugebracht würden, und rief: ›Zur Lektüre denn!‹

Hocherfreut rieb der Doktor sich die Hände: ›Schön! schön! und zu welcher befehlen Eure Erlaucht?‹

Zu welcher? Ja, dafür wußte Ihre Erlaucht Rat. Sie besaß ein nicht mehr ganz neues, gewiß jedoch sehr schönes Buch und hatte es hierher mitgenommen.

›Oh, Liebe‹, wandte die Gräfin sich zu mir, ›es liegt irgendwo in meinem Zimmer … auf dem Tisch oder auf der Toilette … gehen Sie es holen, Liebe …‹

Ich war rasch aufgestanden, zugleich mit mir aber auch der Graf: ›Bleiben Sie, Fräulein!‹ befahl er, ›ich will das Buch holen …‹ – ›Oder – ich‹, fand der Doktor für gut zu sagen und machte Miene, sich zu erheben. Zu spät; der Graf hatte das Zimmer schon verlassen.

Die Gräfin stieß ein leises, langgedehntes ›Ah!‹ hervor und sah mich heiter lächelnd und diesmal nicht ohne Wohlwollen an. Doch war es ein sonderbares Wohlwollen, eines, das nichts mit Herzlichkeit zu tun hat, sondern aus übermütiger Laune, aus munterem Belustigtsein entspringt; ein Wohlwollen war’s, das nicht wohltut. Ich errötete und wußte eigentlich nicht warum.

Der Graf kam zurück. Er legte vier kleine Bände vor seine Schwiegermutter hin. ›Sind das die rechten? Ich kann es nicht glauben – französische Bücher, wir werden doch nicht französische Bücher lesen, Mama?‹

›Französische?‹ wiederholte der Doktor entrüstet, und die Gräfin lachte. ›Geniert Sie das? Haben Sie am Ende gar Ihr Französisch vergessen?‹ sprach sie, worauf der Alte mit unbeschreiblicher Geringschätzung entgegnete: ›Wär unmöglich, Erlaucht, sintemal ich nie ein Wort davon gewußt habe.‹ Er erhielt den Rat, nur recht gut zuzuhören; mit Hilfe des Lateinischen, das er als Arzt doch kennen müsse, werde er heute etwas, morgen mehr und übermorgen alles verstehen.

Da rief der Graf, der inzwischen in einem der Bücher geblättert hatte: ›Ich finde nichts als Betrachtungen und Predigten. Die Geschichte scheint mir langweilig. Erlassen Sie uns diese Prüfung, Mama.‹

Langweilig! – Das eine Wort kühlte den Leseeifer der Gräfin plötzlich ab. Sie war auf einmal zu nichts mehr so gut aufgelegt wie zu einer Partie Pikett mit ihrem Schwiegersohne. Ich aber kam bei dieser Gelegenheit zu dem ersten französischen Roman, den ich je mit Augen geschaut. Die Gräfin übergab mir ihn zur Durchsicht, und noch am selben Abend machte ich die Bekanntschaft der ›Delphine‹ von Madame de Staël.

Lesen Sie das Buch heute, und vieles darin wird Ihnen sentimental und veraltet erscheinen. Das immerwährende Niedertauchen in die eigene Seele, das Belauschen der eigenen Empfindungen, in dem besonders die Heldin sich gefällt, wird Sie ermüden, und dennoch, ich wette! aus der Hand legen Sie den Roman nicht gern. Die Menschen, mit denen er Sie vertraut macht, sind doch gar zu interessant. Diese Delphine ist gar zu herrlich in dem Glänze ihres weltumfassenden Geistes, gar zu rührend in der Naivität ihrer großartigen Wahrhaftigkeit. So wirkt das Buch heute noch; ermessen Sie, wie es auf ein neunzehnjähriges Mädchen wirken mußte, das zu einer Zeit damit bekannt wurde, in der die Sitten, die es schildert, noch nicht antiquiert waren und das Wort ›romantisch‹ bei weitem nicht für einen Tadel galt. Delphine ist die schöne junge Witwe eines Greises, der sie nur geheiratet hat, um ihr sein Vermögen hinterlassen zu können. Sie hat durch ihre Großmut die Verbindung ihrer Kusine mit einem Manne ermöglicht, den weder die ihm bestimmte Braut noch Delphine bisher gesehen haben. Die letztere hört viel von ihm, sieht sein Porträt, ihre Phantasie ist von ihm erfüllt, sein bester Freund sagt ihr: ›Sie sind für ihn geschaffen, Sie allein würden es verstehen, ihn dauernd zu beglücken …‹ Er wird infolge eines Abenteuers auf der Reise verwundet, man bringt ihn nach Paris, er ruft seine zukünftige Schwiegermutter an sein Krankenlager und hofft, seine Braut werde sie begleiten. Statt dieser, die es aus übertriebenen Schicklichkeitsrücksichten verweigert, läßt Delphine sich dazu herbei. Unterwegs bereut sie ihre Nachgiebigkeit. Sie fürchtet, Leonce – der Held – könne den Schritt, den sie tut, mißbilligen. Ein Zagen ergreift sie, als sie vor ihn treten soll, aber sobald sie ihn gesehen, weicht jede andre Empfindung der des Mitleids. Sie steht an seinem Ruhebett; er vermag kaum den Kopf zu erheben, um sie zu begrüßen, und bietet in seiner Hilflosigkeit den Anblick des edelsten und rührendsten Leidens. Eine tiefe Gemütsbewegung bemächtigt sich ihrer …

Bis dahin kam ich, nicht weiter – an diesem Tage nicht um ein Wort weiter!… Ich sah nicht mehr, was auf den Blättern stand vor meinen leiblichen Augen, ich sah ein andres Bild als das dort geschilderte, ein andres und doch so ähnliches Bild, und gewaltiger, als es mich in der Wirklichkeit ergriffen hatte, ergriff es mich in der Erinnerung. Was ich damals ahnungslos empfunden, jetzt wußte ich’s! Dieses Buch hatte es mich gelehrt!

Am nächsten Vormittag wurden Anka und ich zur Gräfin gerufen. Es roch köstlich in ihrem Zimmer, sie sah frisch aus wie eine Rose, war eben aus dem Bade gestiegen, lag auf der Chaiselongue und trank Schokolade. Jetzt wollte sie eine kleine Konversation mit uns haben. ›Unterhalte mich, Anka!‹ Sie begannen zu schwatzen, und die Großmama war die Lustigere von beiden, zog auch mich ins Gespräch, machte mir Komplimente über meine Augen, meine Zähne, meinen Teint, über was weiß ich. Die große Dame zeigt gegen unsereinen ebensowenig Stolz wie gegen ein Hündchen oder einen Kanarienvogel. Man spielt mit solchen Wesen, wenn sie niedlich sind, schmeichelt ihnen und verwöhnt sie. Der Vogel löscht seinen Durst aus dem Glase der Gebieterin, das Hündchen schläft auf ihrem Schoß, aber die Vertraulichkeit, in der man mit ihnen lebt, ändert nichts an der Rangordnung, die sie in der Stufenleiter der Geschöpfe einnehmen. So wenig Menschen- und Weltkenntnis ich damals besaß, über den Wert der Freundlichkeiten, die mir die Gräfin erwies, gab ich mich keiner Täuschung hin.

Mitten in ihrem Geplauder fiel es Anka plötzlich ein zu fragen, ob ihre Großmutter in die Gruft gehen werde, den schönen Sarkophag zu sehen, in dem Mama liege.

Da vereiste gleichsam das Gesicht der Gräfin, ein Ausdruck des Widerwillens umzuckte ihren Mund, wie zurückgestoßen drückte sie sich in die Kissen. ›Nein, nein, was denkst du?… Man darf die Ruhe der Toten nicht stören‹, sagte sie, und sogleich entließ sie uns mit dem Auftrag, ihr Francine zu schicken.

›Wissen Sie was?‹ begann Anka, nachdem sie ein Weilchen schweigend neben mir einhergegangen war, und mit der wichtigsten Miene und in belehrendem Tone fügte sie hinzu: ›Wir müssen, wenn wir uns bei Großmama langweilen, nur anfangen von der Gruft zu sprechen, da schickt sie uns gleich fort.‹

Wir sahen die Gräfin erst bei Tische wieder. Abends beteiligten wir uns alle an einem Lottospiel mit Anka. Ich saß dem Grafen gegenüber, dessen Blick mit einer Aufmerksamkeit auf mir ruhte, die abzulenken seine Schwiegermutter mehrmals umsonst versuchte. Ob mir dabei wohl oder weh zumute war, dürfen Sie mich heute nicht fragen; vielleicht habe ich es sogar damals nicht deutlich gewußt. Klar empfand ich nur eines: ein nicht ganz trostloses, sondern mit einer geheimnisvollen, schmerzlich süßen Befriedigung gemischtes Gefühl: Du mußt fort … Und immer mehr befestigte sich die Überzeugung in mir: Du mußt fort!«