Kapitel 7

 

Der Graf erholte sich nicht ganz so rasch, als der Arzt erwartet hatte. Erst nach drei Wochen erschien er wieder bei Tisch, einen Verband um die Stirn, den Arm, der an zwei Stellen gebrochen war, in der Schiene. Seine Unbehilflichkeit machte ihn ärgerlich, und die Ruhe, die ihm seiner Kopfwunde wegen vorgeschrieben war, verursachte ihm Langeweile. Bis zur Speisestunde hielt er es in seinen Zimmern aus, nach dem Essen blieb er nun im Salon, auch nach beendeter Spielpartie mit Anka, und wir erlaubten uns, das Kind eine Stunde länger als sonst aufbleiben zu lassen, ohne daß dieser Frevel an der unverbrüchlichen Tagesordnung von ihm gerügt worden wäre.

›Erzähle mir etwas‹, sagte er eines Abends zu der Kleinen, und sie erwiderte, zu erzählen wisse sie nichts, aber vorlesen wolle sie ihm. Er staunte, er wollte es nicht glauben, daß sie schon lesen könne – sie ging damals ins achte Jahr –, und als sie begann, geriet er in stilles Entzücken; aus seinen tiefliegenden Augen brachen Blitze der Bewunderung, während sie auf dem klugen und kalten Gesicht des lesenden Kindes ruhten.

›Das war für den Grafen! Jetzt etwas für mich!‹ rief der Doktor, als Anka mit ihrem Märchen zu Ende gekommen. Er trug einige Bücher herbei, unter denen die Herren – ziemlich aufs Geratewohl – den ›Cid‹ von Herder wählten. Der Zögling wurde schlafen geschickt, und die Erzieherin begann vorzulesen. Ein dankbares Publikum wie früher war der Graf jetzt nicht, aber er hörte mir doch zu, und von nun an verstanden die Leseabende sich von selbst, Anka las regelmäßig eine halbe Stunde, ich regelmäßig eine ganze Stunde, und die Befriedigung hatte ich, meinen guten Grafen nach einem Weilchen mannhaft mit dem ersten Gähnen kämpfen zu sehen. Seine Züge nahmen einen friedlichen, etwas müden Ausdruck an, und wenn ich beim Glockenschlag der zehnten Stunde das Buch schloß, dankte er mir, versicherte, es sei sehr interessant gewesen, und wünschte mir gute Nacht. Und ich hatte sie, denn um mich und in mir herrschte Ruhe.

Einmal, nachdem Anka uns verlassen hatte, brach der Graf in Lobpreisungen seiner Tochter aus. Er fand, daß sie erstaunliche Fortschritte im Lernen gemacht hätte, ihr Verstand entwickle sich von Tag zu Tag mehr, das Herz sei von jeher vortrefflich gewesen. ›Sie ist ein gutes, liebevolles Kind‹, schloß er mit einer Innigkeit in seinem Tone, einer beglückenden Überzeugung, die mir weh taten. Ich schwieg, der Doktor warf mir einen vielsagenden Blick zu. Die Worte des Grafen waren Wasser auf seine Mühle, sie bestätigten eine Behauptung, die er gern wiederholte: ›Eltern haben nie ein richtiges Urteil über ihre Kinder.‹ Er hätte seinen Satz gewiß aufgestellt und dem Grafen ins Gesicht verteidigt, wenn ihm in diesem Augenblick überhaupt an etwas anderm gelegen gewesen wäre als an der Fortsetzung unsrer Lektüre. Er brannte zu heiß darauf, zu erfahren, ob der Cid, ›matt von Jahren, matt von Kriegen‹, im Kampf mit Bucar erlegen und ob das gute Pferd Babieka wirklich ohne den Helden vom Schlachtfeld zurückgekehrt war, um nicht alles zu vermeiden, was die Befriedigung seiner Neugier hätte verzögern können. So begnügte er sich damit, ausweichend zu sagen: ›Gut? gut? alle Kinder sind gut, und alle Kinder sind böse, wie man’s nimmt … Lesen Sie, Fräulein, lesen Sie, verlieren wir keine Zeit.‹

Mir gaben die Worte des Grafen viel zu denken. Für so verblendet hatte ich ihn doch nicht gehalten, daß er gerade das Gegenteil dessen, was seine Tochter war, in ihr sah: ein gutes, liebevolles Kind. Es schnürte mir das Herz zusammen, wenn ich mir vorstellte, wie herb die Enttäuschung sein werde, die er früher oder später an dem Wesen erleiden müsse, das ihm über alles in der Welt teuer war.

Du lieber Gott, was machte den ganzen Reichtum dieses Mannes aus? Was hielt ihn aufrecht und spendete ihm Trost in dem großen Unglück, das er erfahren hatte? Wahn und wieder Wahn! Der Glaube an die Liebe und Treue seines Weibes verklärte ihm seine Erinnerungen, der Glaube an die Güte seines Kindes schimmerte wie ein mildes Licht über seinem Leben.

Ein tiefes Erbarmen erfüllte mich und zugleich eine Verehrung ohne Grenzen. Dieser Mann hatte gewiß nicht viel über sich nachgedacht, die edlen Eigenschaften, die ihn erfüllten, kamen ihm nur in andern zum Bewußtsein … Oh, Freundin! die Welt verlacht die Betrogenen – ich liege vor ihnen auf den Knien … Ich konnte meinen Grafen nicht ansehen, konnte nicht an ihn denken, ohne mir zu sagen: Du braves Herz! Aus deiner Ehrlichkeit entspringt dein Glaube, aus deiner eigenen, lauteren Seele dein Vertrauen, dein günstiges Vorurteil … Du armer Mann, wie reich bist du!

Ich bedauerte und bewunderte ihn und meinte nun doch zu können, was mir bisher unmöglich geschienen hatte: sein Kind zu lieben und es lieben zu lehren. Er sollte nicht nur eingebildete Güter besitzen, das eine unter ihnen, das meiner Obhut anvertraut war, mußte durch mich ein wirklich wertvolles werden, und ich wollte mir sagen können, wenn ich es einst in seine Hand zurückgäbe: Jetzt gleicht dein Kind dem Bilde, das du dir von ihm gemacht hast.

Damals habe ich meinen ersten großen Kampf gekämpft mit einem kleinen Mädchen. Ach Gott, mir erging es schlimmer als Moses in der Wüste Zin. Zweimal pochte der an einen Felsen – wie oft ich es getan, ist nicht zu zählen, und wie vergeblich, nicht auszudrücken. Ich hatte mich dahin gebracht, Anka gegenüber eine eherne Stirn anzunehmen, und sie stellte ihre Feindseligkeiten ein, als sie zu bemerken glaubte, daß sie mir keinen Eindruck machten. Jetzt, ganz beseelt von meinen neuen Vorsätzen, begann ich freundlicher mit ihr zu werden, und augenblicklich, so rasch wie ein Messer einschnappt, der Hahn eines Gewehrs knackt, sprang sie aus ihrer Gleichgültigkeit in ein herausforderndes, verletzendes Wesen über. ›Ich weiß recht gut, Sie wollen sich bei mir einschmeicheln‹, warf sie mir einmal hin, ›aber es nützt Ihnen nichts.‹ Je nachsichtiger ich sie behandelte, desto gereizter schien sie. Ich sah wohl, daß Francine sich’s angelegen sein ließ, sie wider mich zu hetzen, konnte aber nicht erraten, durch welches Mittel. Ebenso rätselhaft war mir manches im Benehmen der Dienerschaft. Jeder einzelne zeigte sich kriechend und unterwürfig, wenn er mir allein begegnete, steif und verlegen in Gegenwart seiner Genossen. Es schien jedem um meine Gunst zu tun und jedem auch darum, es nicht einzugestehen. Nur der Doktor blieb immer derselbe. Er war weder ein Mann von vielen Worten noch von feiner Erziehung. ›Ich bitte‹ oder ›ich danke‹ hat er selten gesagt. Seine ärztlichen Ratschläge erteilte er kurz und verachtete jene, die sie nicht befolgten. Armen und Dienern gegenüber besaß er nicht die nötige Duldsamkeit, war immer gleich bereit, die Hand von ihnen abzuziehen, wenn sie sich einen Zweifel an der Wirksamkeit seiner Mittel und der Weisheit seiner Anordnungen erlaubten. Blinden Glauben und Gehorsam jedoch belohnte er durch unermüdliche, aufopfernde Fürsorge, und seine Patienten fuhren wohl dabei. Mir ist er von dem Tage, an welchem ich das Haus betrat, bis zu dem, an welchem ich es verließ, ein treuer Freund gewesen, und er zeigte sich auch damals mir gegenüber unverändert.

Wir lebten allerdings samt und sonders in schrecklicher Spannung, und nur spärlich drangen Nachrichten in unsern vergessenen Erdenwinkel. Aufs höchste verstimmt war der Graf. Er litt noch heftige Schmerzen, die zu verbeißen ihm nicht immer gelang, und grollte darüber mit sich selbst. Krank sein erschien ihm wie eine Art Schande für einen Mann. Und nun gar jetzt in diesen Tagen, in denen er sich am liebsten aufs Pferd geworfen hätte, um dem Erzherzog nachzureiten, der an der Spitze der Hauptarmee über Böhmen zog, gegen Regensburg. Wie begreiflich war diese Sehnsucht, wie gut konnte ich sie verstehen! Er hatte als Jüngling unter Erzherzog Karl gedient, den Feldzug vom Jahre neunundneunzig mitgemacht; an Stocksach, Zürich, Mannheim knüpften sich seine glorreichen Erinnerungen, er betete den Helden an, dem er sie verdankte. Wir erfuhren oder errieten vielmehr aus einzelnen seiner Äußerungen, daß es schon im Spätherbst beschlossene Sache bei ihm gewesen war, an dem neuen Feldzuge teilzunehmen, und daß er alle vorbereitenden Schritte zu seinem Wiedereintritt ins Heer durch Stephan hatte machen lassen. Nun schrieb dieser: ›Komm!‹ und gab den Ort an, nach dem die Kriegsequipage zu senden sei, und der Graf saß da in seinem einsamen Schloß, unfähig, einen Säbelgriff zu halten, ein Pferd zu besteigen, und führte statt des ersehnten Kampfes gegen tapfere Feinde einen erniedrigenden und nutzlosen Kampf mit elenden Gebresten.

Von Zeit zu Zeit fuhr der Doktor nach dem Städtchen, um dort Neuigkeiten einzusammeln. Dies war denn einmal wieder geschehen; Anka und ich befanden uns allein bei dem Grafen. Er hielt die Kleine auf seinem Schoß; sie plauderten von der schönen Sommerzeit, von dem Schlosse, das wir früher bewohnt hatten, von dem Garten und seinen Wundern. Endlich kam die Rede auf die Einsiedelei. Ach, wie gut hatte sich Anka in der Einsiedelei unterhalten … aber welchen Schrecken hatte sie einmal dort ausgestanden! Wenn der Papa das wüßte, und – ich sage Ihnen, das Blut erstarrte in meinen Adern … ›Soll ich’s erzählen, Fräulein?‹ wandte sie sich plötzlich zu mir. Der Graf sah meine Bestürzung, sie schien ihn zu ergötzen; lachend munterte der Unglückliche sein Kind zum Schwatzen auf. Anka ließ sich nicht bitten, berichtete alles genau – wie Stephan uns im Walde gesucht und wir ihm ausgewichen. ›Da kommt er in die Einsiedelei‹, sprach sie lebhaft, ›ich seh ihn von weitem und lauf davon; dann seh ich auch Mama, die im Garten spazierengeht und rufe: Komm uns zu Hilfe, Stephan ist da! – und da wird Mama ganz weiß – ich fürchte mich, verstecke mich und rühr mich nicht … Mama versteckt sich auch vor Stephan und dem Fräulein. Will sie überraschen, verstehst du? Stephan ist zornig und schreit – nun ja, es ärgert ihn, daß wir nicht mehr mit ihm sprechen wollen. Er wird immer zorniger. Da tritt Mama aus dem Hause und schaut ihn an‹ – das Kind erzitterte bei dieser Erinnerung und wiederholte flüsternd: ›Schaut ihn an – – und ich, ganz erschrocken, rühr mich wieder nicht, und dem Stephan ist himmelangst geworden! Umgedreht hat er sich, weg vom Fräulein, und ist der Mama gefolgt, wie dir die Lady folgt, wenn du sie geprügelt hast.‹ Der Graf hob die Kleine von seinem Schoß und sprang auf. Ein dumpfer Laut der Qual entstieg seiner Brust. Hatte das Kind an eine verborgene Wunde gerührt? leise glimmende Zweifel entfacht?… Ich wagte nicht, in sein Gesicht zu sehen, dachte nur: Jetzt gilt’s! und sprach so munter und so ruhig, als ich vermochte: ›Ich werde der Frau Gräfin ewig danken, daß sie mich durch ihre Dazwischenkunft aus einer peinlichen Verlegenheit gerettet hat. Graf Stephan scherzte nur, aber sehr keck. Das Erscheinen der Frau Gräfin war für mich eine wahre Wohltat …‹ Ich schwieg, ich hörte ihn tief aufatmen, und jetzt erhob ich die Augen zu ihm … Nie bin ich imstande, Ihnen den Ausdruck seines Gesichtes zu beschreiben, die Befürchtung, die Hoffnung, die Freudigkeit, den Schmerz, die sich abwechselnd in seinen Zügen aussprachen. Seine Augen hingen an meinen Lippen, als spendeten meine Worte ihm das Leben. Nachdem ich geendet hatte, gelang es ihm, mit ziemlicher Gelassenheit zu sagen: ›Stephans Scherze waren vielleicht sehr ernst gemeint. Übrigens habe ich Sie, Fräulein, stets für entschlossen gehalten und für vollkommen fähig, Zudringlichkeit ohne fremden Beistand in Schranken zu halten.‹

›Dennoch habe ich den der Frau Gräfin gesegnet …‹

Er richtete sich empor. ›Genug!‹ unterbrach er mich und setzte leise, aber mit einer Gebärde unwiderruflicher Entschlossenheit hinzu: ›Ich will es glauben.‹ Er faßte Anka in seine Arme, sie umklammerte seinen Hals und schmiegte ihr Gesichtchen an seine Wange; so nahm er mit ihr seinen früheren Platz wieder ein, verweilte lange unbeweglich und stumm in Gedanken versunken und fragte endlich zerstreut: ›Was lesen wir heute?‹ Nichts mehr, meinte ich, da es sehr spät geworden sei. ›So geht denn, gute Nacht! gute Nacht!‹ und plötzlich reichte er mir die Hand, hielt die meine fest in der seinen und sprach dabei kein Wort; aber welchen innigen, warmen Dank sagte mir der Händedruck!

Anka und ich traten aus dem Salon, und in dem Augenblick, in dem ich die Tür aufstieß, huschte Francine von ihr hinweg. Sie hatte wieder gelauscht.

›Schämen Sie sich nicht?‹ fragte ich empört. Aber sie lachte: Nein, sie schämte sich nicht im geringsten. ›Wie echauffiert Sie sind!‹ sagte sie, ›und das Kind hat wohl schon geschlafen?‹

Es lag ein so frecher Verdacht in ihrem Blick, ihr Mund verzog sich so höhnisch, daß ich alle Herrschaft über mich verlor und ihr, die uns inzwischen auf unser Zimmer gefolgt war, befahl, sich augenblicklich zu entfernen.

Da warf sie sich mit einem Ausbruch leidenschaftlicher Klagen Anka zu Füßen und kroch mit zigeunerhafter Geschmeidigkeit vor ihr auf dem Boden. ›Mein Herzchen hört, wie man die arme Francine behandelt – mein Herzchen sieht es! Nun, ich gehe schon!‹ Sie drückte ihr Tuch vors Gesicht und eilte hinweg. Das Kind jedoch trat vor mich hin wie eine kleine wütende Megäre und sagte: ›Warten Sie nur, Großmama weiß alles, Francine schreibt alles der Großmama!‹

›Was wollen Sie damit sagen?‹ fragte ich, ›was bedeutet Ihre Drohung? Großmama darf alles wissen, was hier vorgeht, und Francine mag es ihr nur schreiben.‹ Die Kleine blickte betroffen zu mir empor und begann mich anzuflehen, niemand etwas von dem zu verraten, was sie mir eben gesagt, niemand – am wenigsten Francine. Ich suchte sie zu beruhigen. Sie forderte ungestüm ein förmliches Versprechen, und nachdem ich es gegeben, küßte sie mich ein paarmal, kalt, mit augenscheinlicher Selbstüberwindung, als ob sie höchst ungern eine zu hohe Rechnung bezahle. Das war ich dir schuldig, da hast du’s!… Sie gab so schwer etwas weg von ihrer Armut, diese karge Seele.

Ich aber, meine liebe Freundin, hatte nun erfahren, zu welchem Zweck mich Francine mit stündlicher Überwachung umgab, warum sie mir nachschlich auf Schritt und Tritt, unversehens neben mir auftauchte, wenn ich sie am wenigsten in der Nähe vermutete. Sie war eben nichts andres als ein elender Spion und berichtete über mich in Briefen an die Schwiegermutter des Grafen. Ich hatte sie oft schreibend gefunden, wenn ich durch ihr Zimmer kam, und gelacht über die Hast, mit welcher sie bei meinem Nahen ihr Gekritzel mit der Hand bedeckte oder in die Schublade schob. Angeekelt hat mich das alles, aber nicht besorgt gemacht. Ich war in mancher Hinsicht jünger als meine Jahre und dachte: Übles kann von mir nicht gesagt werden, wenn auch, wie Anka sich ausgedrückt hatte, ›alles‹ gesagt wurde; es fiel mir nicht ein, daß sich mehr sagen lassen könne als alles Wahre, nämlich etwas Falsches.