Kapitel 6

 

Es war später geworden, als wir beide gedacht hatten, und die Hofrätin mußte die Erfüllung ihres Versprechens auf einen andern freien Abend verschieben. Zu meiner Freude fand sich ein solcher bald.

»Nach der Abreise der jungen Herren«, fuhr sie in ihrer Erzählung fort, »kam der Graf auf unser Zimmer und teilte mir seine Absicht mit, den ganzen Winter in … – den Namen dürfen Sie nicht wissen – zuzubringen. Der Doktor sei zwar dagegen, finde den Aufenthalt zu einsam, die Entfernung von der nächsten Stadt zu groß, allein der Graf wünschte dennoch zu bleiben, vorausgesetzt, daß es seiner Umgebung, namentlich mir, nicht allzu schrecklich sei. Natürlich erwiderte ich, meine Meinung käme hier nicht in Betracht, da er sie aber zu hören verlange, könne ich nur sagen, ich sei überall gern, wohin die Pflicht mich stelle. Ja, meine liebe Freundin, wir waren damals ganz anders erzogen als die Damen, die heutzutage erziehen. So gern ich auch fort wollte aus dem alten Eulenneste und nach unserm früheren schönen Aufenthalt zurück, als mein Herr und Gebieter so gnädig war, Notiz von meinem Willen zu nehmen, da hatte ich keinen mehr. Er dankte mir mit einigen gütigen Worten, beugte sich zu Anka nieder, nahm sie in seine Arme, küßte sie zärtlich und sprach: ›Wir werden hierbleiben bei der armen Mama, wir werden sie oft besuchen in ihrer Gruft und ihr Blumen bringen.‹ Und während er das sagte, hatte sein männliches Gesicht den Ausdruck eines so tief brennenden und dabei so kraftvoll und edel getragenen Schmerzes, daß ich mich abwenden mußte, denn mir traten Tränen in die Augen.

Wir winterten uns ein auf dem Schlosse. Der Graf verließ die gegen Norden gelegenen Prunkgemächer und bezog im ersten Stock dieselben Zimmer, die wir im Erdgeschoß innehatten. Es waren die freundlichsten des ganzen Hauses. Sie empfingen die Strahlen der Morgensonne und sahen auf einen mit efeuumrankten Mauern eingefaßten Vorhof, den ein paar magere Rasenplätze und einige Gruppen Monatsrosen zierten. Durch ein steinernes Tor gelangte man ins Freie, auf den Bergrücken; ›die Glatze‹ wurde er im Volksmunde genannt. Basaltblöcke bedeckten den Boden, zwischen zerbröckeltem Gestein sproß niederes Gesträuch und eine spärliche Vegetation von würzigen Kräutern und wunderbar mannigfaltig gebildeten Moosen. Von dieser Seite glitt die Gebirgslehne in sanften Wellenlinien ins Tal herunter. Nach kurzer Wanderung gelangte man in den Wald und durch diesen auf einem gut gehaltenen Wege, am Forsthause vorbei, zu einem ansehnlichen Marktflecken.

Wir führten ein sehr einförmiges Leben. Den Vormittag verbrachten Anka und ich bei unsern Lektionen; zum Gabelfrühstück fanden sich der Graf und der Doktor ein. Der Speisesaal und der Salon, den wir benützten, lagen im Erdgeschoß, von unsern Gemächern nur durch die der Frauen getrennt. Nach dem Frühstück wurde spazieren gegangen oder gefahren, wir kehrten erst mit einbrechender Dunkelheit nach Hause zurück. ›Der Mensch ist ein Lufttier‹, sagte der Doktor und litt uns vor Sonnenuntergang, sogar bei recht schlechtem Wetter, nicht im Zimmer. Das Diner wurde erst am Abend aufgetragen. Von sieben bis acht Uhr spielte der Graf mit seiner Tochter Domino, ich mit dem Doktor eine Partie Schach, oder wir beteiligten uns alle an irgendeinem Gesellschaftsspiel. Dann ging Anka schlafen, und wenn ich meine kühle Nixe zu Bett gebracht hatte, blieben mir einige Stunden für mich. Aufrichtig gestanden, wurden sie mir manchmal lang, und die Augen fielen mir zu über einem Buche, das ich las, oder einem Brief, den ich schrieb.

Ich war jung, schlafbedürftig und dennoch des Nachts zu höchst unfreiwilligem Wachen verurteilt. Sie wissen, daß der Graf die Zimmer bezogen hatte, die über den unsern lagen; je weiter die Nacht vorschritt, desto lauter hörte ich ihn mit langsamen, dröhnenden Tritten in seinem Gemach auf und ab gehen. Mir verriet dieses rastlose Wandeln in der Nacht das Geheimnis der Sehnsucht, die ihn quälte. Ich sah ihn im Geiste vor mir, dem Schmerz ganz hingegeben, den er mit starkmütiger Selbstverleugnung vor uns verbarg; ich bildete mir ein, ihn aufschluchzen, ich meinte ihn klagen zu hören um die Frau, die er geliebt und verloren hatte. Endlich trat eine Pause ein, ich vernahm eine Zeitlang nichts mehr und gab mich der Hoffnung hin, daß er endlich Ruhe gefunden habe. Nach kurzem jedoch erschallten seine Schritte von neuem über meinem Haupte, weckten mich aus dem Schlummer, in den ich kaum gesunken war, und hielten mich wach bis zum Tagesgrauen. Am Morgen aber, sobald Anka die Augen aufgeschlagen hatte, rief sie nach mir und bat mich, die Laden zu öffnen, und wenn ich nun ans Fenster trat, sah ich schon den Grafen sich aufs Pferd schwingen, oder ich erkannte an dem erschlossenen Hoftor, daß er ausgeritten war auf einem seiner wilden Hengste, die nur er allein zu bändigen verstand. Einige Stunden später erschien er beim Frühstück so ruhig und in so gleichmäßiger Laune, als ob er sich im tiefsten Frieden mit seinem Schicksal befände. Was auch in ihm vorging, wie gequält er war, wir litten nicht unter seiner Trauer, er war gegen seine Umgebung gütig und rücksichtsvoll, wie es sogar die nur äußerst selten sind, die am meisten dazu verpflichtet wären – die Glücklichen. Es verflossen Wochen, Monate, ein neues Jahr war angebrochen, da ereignete es sich eines Tages, daß die Schloßuhr die erste Nachmittagsstunde schlug, Anka vor Hunger bereits weinte – das Kind hatte einen Appetit wie Ludwig XVI. –, vom Gabelfrühstück aber noch immer nicht die Rede war. Sie schellte, sie fragte nach der Ursache dieser Verspätung, und da hieß es, der Graf sei vom Spazierritte noch nicht heimgekehrt, der Doktor aber, der Anka sonst zürnen half, wenn die Mahlzeiten nicht pünktlich aufgetragen wurden, hatte Urlaub genommen, um Verwandte zu besuchen, die im benachbarten Städtchen lebten; wir erwarteten ihn nicht vor dem nächsten Morgen.

Der Tag war eisig kalt, der Schnee zwischen den Steinen und Blöcken zu festen Eismassen zusammengefroren. Blank wie ein Spiegel schimmerte der Teil des Waldweges, den wir vom Fenster aus überblickten. Plötzlich kam mir der Gedanke, es könne ein Unglück geschehen, der Graf mit dem Pferde auf dem Glatteis gestürzt sein, und im selben Moment rief Anka: ›Da kommt Papa zu Fuß und führt den Fuchs!‹ Der Graf näherte sich langsam dem Tore, die Zügel des Pferdes in der linken Hand, die rechte im Rock eingeknöpft und – der Atem verging mir vor Schrecken – das Gesicht von Blut überrieselt. Die Diener rannten ihm über den Hof entgegen, Anka begann zu schreien und schoß wie ein Pfeil aus dem Zimmer. Ich folgte ihr. Der Graf war schon ins Treppenhaus getreten, als wir dort anlangten. Er ging hoch aufgerichtet, wischte das Blut vom Gesicht und wehrte ungeduldig, wie ich ihn nie gesehen, die Hilfeleistungen seiner Diener ab. Als er die Stimme Ankas vernahm, wandte er sich und lachte. Sie stürzte auf ihn los und stieß, da er sich beugte, um ihr die Stirn zu küssen, an seinen im Rock eingeknöpften Arm. Der Graf zuckte zusammen, erbleichte bis an die Lippen und preßte mit zorniger Willenskraft einen Ausruf des Schmerzes zurück. Ich trat rasch vor und zog Anka an mich … ohne besondere Zärtlichkeit scheint mir, vielleicht nicht sehr sanft, jedenfalls in einer Weise, die ihrem Vater mißfiel. Er warf mir einen strafenden Blick zu und sprach in aggressivem Tone, und recht wie jemand, der die Gelegenheit, einen Tadel zu äußern, vom Zaune bricht: ›Ich hoffe, daß Anka gefrühstückt hat.‹

›Noch nicht‹, erwiderte ich und fügte hinzu, wir hätten auf ihn gewartet. Er rügte das, äußerte sehr trocken den Wunsch, ich möge in Zukunft, ohne Rücksicht auf ihn, die Tagesordnung einhalten, grüßte und stieg mühsam, von seinem alten Haushofmeister gefolgt, die Treppe empor.

Kleinlaut wandte ich mich mit Anka zur Rückkehr in unsere Gemächer. Francine, die im Gange stehengeblieben war und alles mit angesehen hatte, begleitete uns. ›Ja, so ist er … Oh, Sie kennen ihn noch nicht‹, flüsterte sie mir zu, ›er hat sich geärgert, nicht über das verspätete Frühstück, sondern über Ihre Bestürzung und über das Mitleid, mit dem Sie ihn ansahen. Das war aber auch gewaltig …‹ Sie kicherte und warf mir einen spöttischen Blick zu. Sie hatte so häßliche Augen! Tiefschwarze, kugelrunde Augen, fast ohne Lider, dafür aber mit dichten, halbkreisförmigen Brauen. ›Oh, Mitleid verträgt er nicht, der Graf, Sie sollten das wissen; bemerken Sie nicht, wieviel Mühe er sich gibt, seinen Schmerz um seine Frau zu verbergen? Wie er sich stellt, als ob er ihren Verlust mannhaft ertrüge, während er des larmes de sang um sie weint. Jetzt darf niemand wissen, wie übel er sich beim Sturz mit dem Pferde, den er ohne Zweifel getan, zugerichtet hat, damit er nur ja nicht bedauert werde. Aber, das können Sie mir glauben, sein Kopf tut ihm nicht wohl in diesem Moment, und der rechte Arm ist verrenkt oder gebrochen.‹

Instinktmäßig, ich wußte damals wirklich nicht, warum ich es tat, suchte ich ihr den Schrecken zu verbergen, in den ihre Worte mich versetzten, und fragte mit anscheinender Ruhe, ob man nicht einen Boten nach dem Doktor schicken sollte. Sie meinte nein, der Doktor komme morgen früh, müsse demnach schon unterwegs sein; es bliebe nichts übrig, als zu warten.

Warten – ja, wenn es nur mit dem Gedanken hätte geschehen können, der Kranke sei bis zum Eintreffen des Arztes leidlich versorgt. Diesem Tröste durften wir uns jedoch nicht hingeben. Der Haushofmeister, den der Graf, gelangweilt durch dessen Klagen, aus seiner Nähe gewiesen, kam am Nachmittag, Francine zu beschwören, sie möge sich der Pflege des Patienten ein wenig annehmen. Der Alte hatte an der Tür gelauscht und behauptete, der Graf sei bewußtlos, der Kammerdiener allein bei ihm, und der sitze in einem Winkel, die Hände im Schoß. Er wage nicht sich zu rühren und dem Fiebernden auch nur ein feuchtes Tuch auf die Stirn zu legen. Anka und ich stimmten in die Bitten des alten Dieners ein, aber Francine blieb unbeweglich und erklärte ein Mal ums andere, sie dränge sich nicht auf; wenn der Graf ihrer bedürfe, möge er sie rufen lassen. Und sooft wir wiederholten: er sei ja bewußtlos, er könne sie nicht rufen lassen, so oft wiederholte sie, wie eine gedankenlose Maschine, ihren albernen Satz. Endlich riß mir die Geduld. ›Bleiben Sie denn hier, ich gehe zu ihm!‹ rief ich und schritt resolut aus dem Zimmer und über die Treppe und pochte an der Tür des Grafen. Der Kammerdiener öffnete mir. Er hieß Raimund, war ein ältlicher, dicker Mensch, der immer schläfrig aussah, und obwohl anfangs erschrocken über mein kühnes Eindringen, dankte er bald dem Himmel und jedem einzelnen Heiligen darin, daß ich da war. Kein Wunder, denn ich wußte bei Kranken Bescheid. Hatte doch mein jüngerer Bruder, dessen Wartung zumeist mir obgelegen, von den dreizehn Jahren seines Lebens neun auf dem Siechbette zugebracht. Überdies, meine Teuerste, bleiben das Kinder- und das Krankenzimmer ewig die Domäne, in der der Frau recht gern die Herrschaft eingeräumt wird.

So hatte ich bald Ordnung geschafft, Verbandszeug herbeibringen und einen Kübel mit Eis vor das Bett stellen lassen, an das ich nun trat und dessen Vorhänge ich zurückschlug. Der Graf lag gerade ausgestreckt auf dem Rücken, wachsbleich und regungslos, aber nicht in Ohnmacht, sondern in jenem dumpfen, schweren Schlaf, in den kräftige Leute nach überstandenen körperlichen Schmerzen versinken. Um die Stirnwunde war das Blut geronnen; sie schien klein und tief, durch den Sturz auf einen spitzen Stein hervorgebracht. Der beschädigte Arm lag hoch angeschwollen auf der Decke, ich schnitt den Ärmel des Hemdes entzwei und begann meinen Krankenpflegerdienst. Raimund ging mir treulich an die Hand, solange er sich des Schlafes erwehren konnte. Als er aber nur noch wie ein Träumender meinen Weisungen nachkam, eine halbe Stunde brauchte, um das erlöschende Feuer im Kamin anzufachen, als er begann, die Umschläge statt auf die Stirn und den Arm des Grafen auf das Kissen und die Decke zu legen, da dankte ich ihm für seine Beihilfe und ließ ihn ungestört schlafen auf einem Bärenfell, auf das er hingesunken war wie ein Klotz.

Mein Kranker begann indes zu fiebern und zu phantasieren, sein Atem wurde kürzer; die Tücher, die ich eiskalt auf seine Stirn gelegt hatte, nahm ich wenige Minuten später dampfend vor Hitze wieder hinweg. So kam die Mitternacht heran.

Daß ich müde oder schläfrig werden könnte, fürchtete ich nicht, davor schützten mich meine Aufregung und meine Besorgnis; doch waren infolge des beständigen Hantierens mit dem Eise meine Finger ganz erstarrt, ich mußte ihnen Zeit gönnen, sich zu erwärmen, und Raimund wecken, um mich von ihm ablösen zu lassen. Im Begriff, auf ihn zuzugehen, wandte ich mich und – fühlte mich plötzlich zurückgehalten. Der Graf hatte meine Hand erfaßt. ›Sitta!‹ rief er – der Name seiner Frau – ›Sitta! Sitta!‹ und den Kopf etwas erhoben, blickte er mich mit weitgeöffneten Augen an … Augen freilich, die nur sahen, was das Fieber ihnen vorspiegelte; aber ich war doch sehr erschrocken, regte mich nicht mehr, als wenn ich von Stein gewesen wäre, und verwünschte mein albernes Herz, das zu pochen anfing – laut, bildete ich mir ein, so laut, daß man es hören konnte … Der Kranke lächelte, seine Lippen bewegten sich und flüsterten Worte der Liebe und Zärtlichkeit. Er sank auf das Kissen zurück, die Wange an meine Handfläche geschmiegt, schloß die Augen und schlief ein. Noch einige rasche Atemzüge, dann hob und senkte sich seine Brust gleichmäßig, und er lag in süßem, erquickendem Schlaf.

Ich aber stand da und hatte nicht den Mut, meine Hand zurückzuziehen. Ein Wunsch nur beseelte mich und stieg als inbrünstiges Gebet zum Himmel. Herrgott, laß ihn nicht erwachen! laß ihn jetzt nicht erwachen, barmherziger Gott, sonst muß ich sterben vor Scham … Meine Knie wankten, ich war erschöpft und mußte mich endlich, um nicht umzusinken, auf den Rand des Bettes setzen und dachte immer nur an das eine: Laß ihn nicht erwachen! Damals lernte ich eine von jenen Stunden kennen, in denen jede Sekunde zur Ewigkeit wird. Das sind die Stunden, die uns alt machen; die Leute, die solche nicht erlebt haben, bleiben jung bis zum Tode. Endlich gelang mir doch, was ich wohl hundertmal vergeblich versucht hatte: meine Hand zu befreien, ohne den Grafen zu wecken. Wie erlöst atmete ich auf, trat ans Fenster, und da fuhr auch schon der Wagen, der den Doktor brachte, in den Hof. Ich lief dem sehnlich Erwarteten entgegen, erzählte ihm in kurzen Worten, was sich ereignet hatte, und begab mich auf mein Zimmer, als ich den Arzt bei dem Kranken wußte. Die Spöttereien, mit denen Francine mich im Laufe des Tages neckte, ließen mich gleichgültig. Ich war von Natur aus gegen dergleichen kleinliches Zeug gefeit, besonders war ich es jedoch in jenen Augenblicken. Mir war ein heißes Gebet erfüllt worden, und nachmittags kam der Doktor zu uns und sagte: ›Der Arm ist eingerichtet, und Ihnen verdankt es der Graf, daß es ohne übermäßigen Schmerz geschehen konnte.‹