Kapitel 3

 

Am dritten Tage also«, begann die Hofrätin von neuem, »gerieten wir, nachdem eine sternenhelle Nacht durchfahren worden, in einen heftigen Regen hinein. Er strömte mit eigensinniger Ausdauer über einen breiten Talkessel nieder, auf dessen Sohle eine freundliche kleine Stadt sich sehr planlos nach allen Richtungen der Windrose ausgebreitet hatte. Die Wagen rasselten über das holprige Steinpflaster, rumpelten, wo es ein solches nicht gab, durch hochaufspritzende Pfützen und lenkten in den Hof des Posthauses ein, in dem die letzte Mittagsstation gehalten werden sollte. Der Hof war ziemlich geräumig, es standen aber Dutzende von Vehikeln darin, und er selbst stand unter Wasser. Postchaisen und unsere Fourgons füllten den Torweg, und in die Nähe des Trottoirs vor dem Hause zu gelangen war unmöglich. Eine förmliche Wagenburg verhinderte die Zufahrt. Die Bedienten schrien, die Postillone fluchten, einige Fuhrleute machten taube Ohren, andre zeigten sich willig, ihr Gefährt aus dem Wege zu räumen. Aber die Verwirrung war zu arg; der Versuch, sie zu lösen, vergrößerte sie nur. Da wurde der Graf ungeduldig, und plötzlich sahen wir ihn, bis an die Knöchel im Schlamme watend, die Gräfin in seinen Armen ans Ufer, das heißt an die Torschwelle, tragen. Auf dieselbe Weise brachte sofort Klein-Peterl die lachende und jubelnde Anka unter Dach. Ich schickte mich an, ihr zu folgen, setzte schon den Fuß auf die letzte Stufe des Wagentrittes und senkte dabei einen Blick voll innigsten Bedauerns auf meinen Schuh und meinen Strumpf. Da rief es laut und fast wie erschreckt vom Hause her: ›Halt! Halt! Warten Sie!… Sie werden doch nicht?…‹ Und derselbe Mann, mit dem ich bisher nicht zwanzig Worte gewechselt, mein gestrenger Herr sprang herzu, erfaßte mich ohne Umstände, und als ob es gar nicht anders sein könne, trug er auch mich, wohlgeborgen unter seinem Mantel, indes auf ihn der Regen des Himmels niederflutete, bis an die Treppe, wo er mich mit einer höflichen Verbeugung wieder auf die Beine stellte.

Hören Sie, liebe Freundin, das machte mir einen Eindruck. Zum erstenmal seit meinem Eintritt in sein Haus erhielt ich ein Zeichen persönlicher Beachtung. Wie mir das wohltat, können Sie sich nicht … doch, Sie können es sich vorstellen, wenn Sie die absolute moralische Einsamkeit erwägen, in der ich mich seit dem Tode meines Vaters befunden, ich junges, liebebedürftiges und an Liebe gewöhntes Geschöpf. Von diesem ganz unerwarteten und auch wirklich unüberlegten spontanen Beweis der Fürsorge ging eine Empfindung des Beschütztseins aus, die mich mit freudigem Mute durchdrang. Und von dem Augenblick an war ich meinem Grafen anhänglich und dankbar.

Ein paar Stunden später setzten wir unsere Reise fort und langten gegen Abend bei wieder günstig gewordenem Wetter vor dem Schlosse an, einem großartigen Gebäude in italienischem Stil, das mitten im Garten lag. Da ich mich auf eine genaue Beschreibung der Örtlichkeit nicht einlasse, mögen Sie nur wissen, daß es ein Garten voll von Überraschungen war. Sie wandelten zwischen glatten, geschorenen Buchenwänden hin, Sie lenkten nach rechts, nach links in andre Gänge ein, die von den früher durchschrittenen nicht zu unterscheiden waren. Sie wurden des Spazierens zwischen grünen Paravents endlich satt, wollten gern aus dem Labyrinth wieder heraus ins Freie – es war unmöglich. Wie eine verwunschene Prinzessin irrten Sie darin umher, bevor es Ihnen gelang, den Ausweg zu finden. – Sie schritten über breite Kiespfade, an Rosenhügeln, an Bosketts vorbei und gelangten zu einem Tempel im Barockstil. Der stand offen; ein Blick ins Innere lockte Sie einzutreten. Künstliche Tropfsteine hingen von der Decke nieder, Felsenpartien, bunte Korallenriffe, kleine Berge aus Muscheln erhoben sich auf dem mit glitzernden Kieseln eingelegten Boden. Im Hintergrunde schwang ein fleischfarbiger Neptun den Dreizack mit unmotivierter Wildheit über eine Gruppe von Nereiden und Tritonen, die harmlos zu seinen Füßen lagerten. Trieb Ihr Vorwitz Sie weiter, in die Nähe dieser steinernen Gestalten, so wurden Sie plötzlich von einem Regenschauer übersprüht, den Ihnen Neptuns Dreizack, die Muschelhörner der Tritonen und die ausgestreckten Finger der Wasserweiber entgegensandten. Sie wollten entfliehen – betraten eine Steinplatte auf dem Boden vor dem Ausgang – ein Schleier aus Wasser schob sich zwischen Sie und ihn, und nun hatten Sie die Wahl: entweder Gefangenschaft oder ein unfreiwilliges Duschbad.

Am Ende des Gartens, da, wo er an die herrlichen Forste grenzte, befand sich eine Einsiedelei mit einem Glockentürmchen. Öffneten Sie die Tür, so begann die Glocke zu läuten und hörte nicht früher auf, als bis Sie den Strang aus der Hand eines hölzernen Kapuziners gelöst hatten, der ihn in Bewegung setzte. Diese Einsiedelei hatte sich Anka zum Geschenk ausgebeten; sie war feierlich zur Eigentümerin des kleinen Hauses eingesetzt worden, das zwei ganz allerliebste, mit großem Luxus und Geschmack eingerichtete Zimmer enthielt. Dort brachten wir unsere Vormittage mit Lernen, Lesen und Arbeiten zu. Um zwei Uhr servierte Peterl unser Diner in der Einsiedelei, und nachmittags öffneten wir die Pforte des Gitters, das den Garten von dem Walde trennte, und zogen zu weiten Spaziergängen aus. Erst gegen Abend kehrten wir zurück. Der Graf ließ fast regelmäßig um diese Zeit, seitdem wir auf dem Lande wohnten, die Kleine rufen und behielt sie bei sich, bis sie schlafen ging. Ich kann Ihnen versichern, daß es mir in Ankas Seele wohltat, sie nun täglich doch eine Stunde lang in Gesellschaft eines Wesens zu wissen, das von ihr geliebt wurde und sie wiederliebte. So wenig Sympathie sie mir einflößte, des Mitleids mit ihr konnte ich mich nicht erwehren. Es will etwas heißen für ein Kind, unzertrennlich von einer Person zu sein, für die es kein Herz fassen kann … Nicht kann!« rief die Hofrätin mit erhobener Stimme und wies den Einwand zurück, den ich hier machen wollte. »Ebensowenig als ich mit dem besten Willen, mit dem Bewußtsein, es wäre deine Pflicht! mir auch nur einen Funken Neigung für sie entlocken konnte.

Ein halbes Jahr war ich schon bei ihr – das zählt im Leben eines Kindes –, da gab sie mir ein Pröbchen ihrer Gesinnung für mich, das mir unvergeßlich geblieben ist.

Auf dem Heimweg von einem unsrer Waldgänge ruhten wir, beide etwas ermüdet, unter hohen Tannen aus. Anka hatte sich im Grase ausgestreckt, ich saß neben ihr, hörte ihrem Geplauder zu und wunderte mich im stillen, wie gewöhnlich, über die komischen und originellen Einfälle, die ihr zuströmten, wenn sie sich ihren Gedanken überließ.

Auf einmal schwieg sie, erhob sich und begann im Kreise um mich herumzuhüpfen. Sie hüpfte immer im Gehen und hielt sich dabei gerade wie ein Ladestock. ›Fräulein, Fräulein‹, sagte sie, und ihre hellbraunen Augen blitzten vor Schelmerei, ›Sie sitzen vor einem kleinen Hügel, legen Sie den Kopf zurück, da her, Sie werden sehen, wie angenehm das ist.‹

Der kleine Hügel, von dem sie sprach, war ein Ameisenbau, der nicht anders aussah, als ob an dieser Stelle ein Haufen Fichtennadeln zusammengeharkt worden wäre. Anka hatte ihr Taschentüchlein ausgebreitet und lud mich ein, mir’s darauf bequem zu machen.

›Ich will es tun, wenn Sie meinen, daß es angenehm sein wird‹, erwiderte ich. ›Wissen Sie was? Ich bin schläfrig, ich werde ein wenig schlafen, und Sie werden mich beschützen. Wenn ein Bär kommt, so jagen Sie ihn davon, und wenn eine Ameise mir über das Gesicht kriechen will …‹

Jetzt verriet sie sich: ›Eine Ameise kommt gewiß nicht!‹ rief sie.

,Das soll mir lieb sein«, meinte ich, und so begab ich mich denn unter ihren Schutz. Ich setzte nur noch eine Frage hinzu: Ob sie wisse, daß es schändlich sei, Vertrauen zu täuschen?

Da lachte sie, und diesmal ging mir ihr Lachen wirklich durch das Herz. Ich wollte aber doch sehen, wie weit sie es treiben würde, lehnte die Wange an das Tuch – sehr leicht, wie Sie denken können – und tat, als ob ich mich anschickte einzuschlafen. Anka blieb eine Weile regungslos, schlich dann heran, bückte sich, schob leise und vorsichtig ein dünnes Reis dicht neben dem Tuch, so tief sie konnte, in den Ameisenbau und begann es hin und her zu bewegen. In dem Augenblick sprang ich in die Höhe, sprach kein Wort, schlug sie aber tüchtig auf die Hand. Sie blieb starr; es geschah zum erstenmal, daß sich jemand an ihrem geheiligten Persönchen vergriff. Sie weinte nicht, sie war auch nicht beschämt, sie trachtete offenbar nur danach, wieder in Besitz ihrer sorglosen und herausfordernden Gleichgültigkeit zu kommen, die sich dann auch erstaunlich bald einstellte.

Beim Nachhausegehen fragte ich sie, ob es denn irgendwen gäbe – außer ihren Eltern natürlich –, von dem sie sich nicht ohne großen Schmerz trennen würde, um den es ihr leid täte, wenn er sie verlassen müßte. Sie dachte nach. Man sah diese Kleine denken. Sie blickte dabei mit halbgesenkten Wimpern nach der Seite, und ihr Gesichtchen nahm einen erstaunlich gesammelten und ernsten Ausdruck an.

›Ich will Ihnen sagen‹, antwortete sie langsam und bestimmt, ›wenn man mir den Clovek wegnehmen würde, das täte mir leid.‹

Clovek heißt auf böhmisch ›der Mensch‹; Anka hatte die häßlichste unter ihren Puppen, ein Wickelkind ohne Beine, mit großem hölzernem Kopf, so getauft. Die Nase war dahin, ein Arm verloren, denn die Gunst, in der Clovek stand, hinderte seine Herrin nicht, ihn gelegentlich an die Wand zu schleudern …

Die Antwort, die mir das Kind damals gab, hat sich mir so tief eingeprägt, weil sie prophetisch war.

Aber lassen wir das gut sein! Ich kehre zu meiner Wanderung mit Anka zurück. Um jeden Preis, sehen Sie, wollte ich an jenem Tage eine Regung der Reue in ihr erwecken. Ich legte es ihr so nahe, daß sie es greifen mußte, welches Wort ich von ihr zu hören ersehnte. Sie verstand mich völlig! Es war aus der Geschicklichkeit, mit der sie mir auswich, deutlich zu erkennen. ›Was wünschen Sie also?‹ rief ich. ›Sagen Sie mir aufrichtig, was Sie jetzt wünschen.‹

›Ich wünsche‹, entgegnete sie und blickte mit triumphierender Miene zu mir empor, ›ich wünsche so stark zu sein, daß jeder Wagen, der an mich anfährt, umwirft.‹

Das war der Erfolg, den meine Beredsamkeit schließlich erreichte.

Sehr oft dachte ich damals: Wenn dieses Kind zu erlösen ist, kann es nur durch Liebe geschehen. Ich fühlte mich von meiner Aufgabe hauptsächlich deshalb so schwer bedrückt, weil ich mich des Zweifels nicht erwehren konnte: Du bist vielleicht ungerecht, die Schuld liegt vielleicht mehr an dir als an dem Kinde.

Meine Seelenqual wurde endlich so bitter, daß ich sie einem Gönner anvertraute, den ich mir nach und nach erworben hatte, dem alten Hausarzt. Er war in dem ganzen Hofstaat der einzige unabhängige und aufrichtige Mensch. Obwohl er nicht viele Worte machte, empfand ich, daß ich Vertrauen zu ihm haben dürfe, und so hatt ich’s denn und bat ihn, dem Grafen und der Gräfin zu sagen – da mir der Mut fehlte, es selbst zu tun –, daß ich mein Amt, dem ich nicht gewachsen sei, niederlege.

Er zeigte kein Erstaunen über meinen Entschluß, aber er suchte ihn zu erschüttern. ›Das dürfen Sie nicht tun!‹ wiederholte er mehrmals. ›Es kommt keine Bessere nach … Sie müssen ja doch Rücksicht nehmen auf das arme Ding – die Anka. Bedenken Sie, was der bevorsteht … Ich bitte Sie, wie lange soll denn ihre Mutter, die Frau Gräfin, noch leben?‹

Er sagte das mit furchtbarer Bestimmtheit und – mit furchtbarer Gleichgültigkeit. Sie können den Eindruck ermessen, den diese Worte auf mich hervorbrachten. Daß sie meine eigenen Besorgnisse bestätigten, das erhöhte noch den Schrecken, den ich empfand. Ich hatte die Gräfin einige Tage vorher gesprochen, wie immer nur flüchtig und bei einer zufälligen Begegnung, und war erschrocken gewesen, nicht bloß über ihr krankhaftes Aussehn, sondern fast noch mehr über den starren, gleichsam versteinerten Ausdruck ihrer Züge.

›Aber um Gottes willen, was geschieht, um sie zu retten? Weiß der Graf, wie es mit ihr steht?‹ fragte ich und erhielt lauter trostlos klingende Antworten. Weder der Graf noch die Gräfin hielten die Ängstlichkeit des Arztes für gerechtfertigt, und namentlich die Kranke lehnte sich gegen deren Konsequenzen auf. Der Doktor meinte, ich wäre nun lange genug da, um zu wissen, ob es möglich sei, mit der Gräfin über Dinge zu sprechen, von denen sie nicht hören wolle. – Darauf mußte ich antworten: Nein! es ist nicht möglich.

Nur der, der in einem großen Hause gelebt hat, weiß, wie unüberbrückbar die Kluft ist, die seine Gebieter von ihren Untergebenen scheidet. Man lebt unter einem Dache, man sieht einander, man hat gemeinsame Interessen, und dennoch findet nicht der Schatten eines Verkehrs statt. Das Wichtigste hängt von der Beherzigung einer Warnung ab, die man pflichtgemäß ausgesprochen hat – einmal, mehrmals: sie wird nicht beachtet, und man vermag ihr keinen Nachdruck zu geben. Es scheint unglaublich, aber es ist so, und was die treueste, redlichste Absicht abhält, sich geltend zu machen, das sind Hindernisse, so durchsichtig, zart und fein, daß man sie aus einiger Entfernung nicht wahrnimmt. Erst beim Nähertreten erkennt man, daß die scheinbar ganz unbedeutenden, kaum nennenswerten unübersteiglich und unüberwindlich sind. Aus der Art, in der ich zurückgewiesen wurde, als ich die Eiswand zu durchbrechen suchte, hinter der die Gräfin sich verschanzte, konnte ich auf die Erfahrungen schließen, die der Arzt bei ähnlichen Gelegenheiten gemacht haben mochte. Sie waren gewiß schuld an der Teilnahmslosigkeit, mit der er sich jetzt über den Zustand der Kranken äußerte und die mir trotz dieses Erklärungsgrundes grausam, ja entsetzlich erschien. Er zuckte die Achseln zu der Bemerkung, die ich ihm darüber machte, und antwortete mit der erneuerten Bitte, bei Anka auszuharren. Wenn ich sie verließe, sagte er, das erst wäre ein schweres Unglück für sie. Er ließ den Einwand nicht gelten, daß ich unfähig sei, dem Kinde zu nützen, und behauptete, es habe sich unter meiner Leitung schon ein wenig zu seinem Vorteil verändert. Ich ließ mich endlich bestimmen, mein mühsames Erziehungswerk weiterzuführen. Die Versicherungen des Doktors, daß ich nicht ganz erfolglos daran arbeitete, hatten meinen Mut gehoben; ich fühlte mich beruhigt, und so gut wie seit langem kein andrer begann für mich der Tag, an dem mir ein peinvolles Erlebnis bevorstand. – Ein unbeschreiblich peinvolles Erlebnis, das mir die Augen über Dinge öffnete, die ich nie hätte erfahren mögen. Sie ahnen wohl, daß der unglückselige Graf Stephan dabei im Spiele war … Aber« – unterbrach sich die Hofrätin und ließ voll Entmutigung die Strickerei in den Schoß sinken – »was bin ich doch für eine schlechte Erzählerin! Von diesem Grafen hätte ich längst sprechen müssen … Freilich – freilich – der spielte damals schon eine Weile mit in meiner Geschichte … Verzeihen Sie – jetzt bleibt mir nichts übrig, als allerlei nachzuholen.