Die gestohlenen Zeichnungen

In der dritten Woche des November senkte sich ein dichter gelber Nebel auf London herunter. Vom Montag bis Donnerstag konnten wir nicht die Giebel der gegenüberliegenden Häuser in der Bakerstraße erkennen. Am ersten Tage verbrachte Holmes die Zeit mit Blättern in seinen verschiedenen Notizen. Den zweiten und dritten Tag widmete er seinem neuesten Steckenpferd, der Musik des frühen Mittelalters. Aber als wir dann zum viertenmal beim Frühstück jene schmierige gelbbraune Masse vor dem Fenster sahen, die ölige Tropfen am Fensterglas bildete, konnte die ungeduldige aktive Natur meines Freundes dieses graue Dasein nicht länger mehr ertragen. In einem Fieber unterdrückter Energie lief er in unserm Wohnzimmer hin und her, biß sich in die Fingerknöchel, beklopfte die Möbel und stieß Verwünschungen aus gegen die Untätigkeit, zu der er verdammt sei.

»Nichts Interessantes in der Zeitung, Watson?« fragte er.

Ich wußte, daß mit etwas »Interessantem« Holmes stets etwas kriminalistisch Interessantes meinte. In der Zeitung standen: eine Revolution, ein sehr wahrscheinlicher Krieg auf dem Balkan und ein Ministerwechsel. Aber dergleichen kam für meinen Freund nicht in Betracht. Etwas Kriminelles konnte ich aber in keiner Form entdecken, wenn ich von den üblichen Belanglosigkeiten des Polizeiberichtes absah. Holmes seufzte laut und nahm seine ruhelose Wanderung wieder auf. »Der Londoner Verbrecher ist nachgerade ein stumpfsinniger Bursche«, schalt er mit der verdrießlichen Stimme eines Sportsmannes, der das Spiel verloren hat. »Schau bloß aus dem Fenster, Watson. Wie hier die Gestalten aus dem Trüben auftauchen, vorüberhuschen und wieder untertauchen im Trüben. Der Dieb oder Mörder könnte an solch einem Tage in London herumschweifen wie der Tiger im Dschungel, unsichtbar, bis er springt, und dann nur wie ein Schatten sichtbar für sein Opfer.«

»Da sind zahlreiche kleine Diebstähle verübt worden, wie die Polizei berichtet.«

Holmes machte voller Verachtung »pah«.

»Diese großartig düstere Bühne verlangt nach etwas anderem als solch elendem Besitzwechsel«, sagte er. »Es ist wahrhaftig ein Glück für diese Stadt, daß ich kein Verbrecher bin.«

»Da hast du recht!« rief ich aufrichtig.

»Nimm an, ich wäre Brooks oder Woodhouse, oder irgendeiner von den fünfzig Männern, die guten Grund haben, mir nach dem Leben zu trachten – wie lange könnte ich wohl gegen meine eigene Verfolgung am Leben bleiben? Eine Finte, eine Verabredung unter falschem Namen und Vorwand, und alles wäre zu Ende. Es ist gut, daß sie in den romanischen Ländern keinen solchen Nebel haben, – in den Nordländern. Beim Himmel, hier kommt ja etwas, um endlich diese furchtbare Eintönigkeit zu unterbrechen.«

Es war das Mädchen mit einem Telegramm. Holmes riß es auf und brach in Lachen aus.

»Das ist ja – das ist ja – hahaha, das schlägt alles«, rief er belustigt. »Mein Bruder Mycroft kommt uns besuchen.«

»Warum nicht?« fragt« ich.

»Warum nicht? Das ist gerade so, wie wenn du auf einem Waldpfad einem Straßenbahnwagen begegnetest. Mycroft hat seine Schienen, und in denen läuft er. Seine Wohnung in Pall Mall, der Diogenes-Club, Whitehall, – das ist sein Kreislauf. Einmal, ein einziges Mal, ist er hier bei mir gewesen. Was für ein Erdbeben mag ihn aus dem Gleis geworfen haben?«

»Gibt er keinen Grund an?«

Holmes reichte mir seines Bruders Telegramm.

»Muß dich wegen Cadogan West sprechen. Komme sofort.

Mycroft.«

»Cadogan West? Den Namen habe ich doch schon gehört.«

»Mir sagt er gar nichts. Keine Erinnerung. Aber daß Mycroft auf solch erratische Weise ausbrechen kann! Ein Planet könnte ebenso gut seine Bahn verlassen. Weißt du übrigens, was Mycroft ist?«

Ich hatte eine dürftige Erinnerung, daß Holmes mir aus Anlaß des Abenteuers mit dem griechischen Dolmetscher davon gesprochen hatte.

»Du sagtest mir, er hätte, glaube ich, eine kleine Anstellung bei der englischen Regierung.«

Holmes lachte.

»Damals kannte ich dich noch nicht so gut, mein lieber Watson, und man muß diskret sein, wenn es sich um hohe Staatsangelegenheiten handelt. Du hast recht, er ist bei der englischen Regierung. Du würdest gelegentlich aber auch recht haben, wenn du sagtest: er ist die englische Regierung.«

»Mein bester Holmes!«

»Ich wußte, daß dich das überraschen würde. Mycroft bezieht vierhundertfünfzig Pfund Sterling jährliches Gehalt, bleibt in abhängiger Stellung, hat keinerlei Ehrgeiz, will weder Titel noch Orden, aber er bleibt der unentbehrlichste Mann im Lande.«

»Aber wie das?«

»Nun, seine Stellung ist einzigartig. Er hat sie sich extra geschaffen. Etwas Ähnliches hat es nie vorher gegeben, noch wird es das später je wieder geben. Er hat das bestgeordnete, übersichtlichste Hirn, das heutzutage existiert, mit der denkbar größten Aufnahmefähigkeit für Tatsachen, die es sauber registriert und aufbewahrt. Dieselben besonderen Eigenschaften, die mich zum erfolgreichsten Detektiv machten, haben ihn in seinem Amte zum unentbehrlichsten Mann gemacht. Die Entschließungen usw. jeder Abteilung gehen ihm zu, und er ist die Ausgleichsbörse, das Clearinghouse sozusagen, das den Saldo zieht. Alle anderen hohen Staatsbeamten sind Spezialisten, aber seine Spezialität ist Allwissenheit. Nehmen wir an, ein Minister benötigt eine Information in bezug auf irgend etwas, das zugleich die Marine angeht, sowie Indien, Kanada und die Silberwährung. Er könnte von den einzelnen Abteilungen je einen Sonderbericht erhalten, aber nur Mycroft allein kann diese alle in seinem Hirn zusammenfassen, mit einem Blick überschauen und ohne weiteres sagen, wie ein jeder Faktor den anderen beeinflussen würde. In seinem Hirn muß es aussehen wie in einer großen Kartothek; jede Einzelheit aller Regierungsfragen steht ihm sofort zur Verfügung. Oft und oft hat sein Wort unsere englische Politik entschieden. Er lebt in ihr und für sie. Er denkt nichts anderes, ausgenommen wenn er einmal ausspannt und als eine Art geistiger Gymnastik sich mit meinen Detektivproblemen befaßt, worum ich ihn gelegentlich bitte. Aber Jupiter begibt sich heute zu den Sterblichen hernieder. Was mag da los sein? Wer ist Cadogan West und was bedeutet er meinem Bruder Mycroft?«

»Ich hab’s«, rief ich und warf mich über den Haufen Zeitungen auf dem Sofa. – »Ja, hier steht es; ganz richtig, Cadogan West ist der Name des jungen Mannes, der am Dienstag früh tot auf der Untergrundbahn gefunden wurde.«

Holmes straffte sich wie ein Hühnerhund, der sein Wild wittert, und seine Hand hielt die Pfeife zwischen Tisch und Lippe, in ihrer Bewegung plötzlich erstarrt.

»Das muß etwas äußerst Ernstes sein, Watson. Ein Todesfall, der meinen Bruder veranlaßt, aus seinem Gleis zu springen, muß etwas ganz Besonderes sein. Was in aller Welt kann er damit zu tun haben? Der Fall sah ganz nichtssagend aus, soweit ich mich erinnere. Der junge Mann ist anscheinend aus dem Zug gefallen und dabei ums Leben gekommen. Er ist nicht beraubt worden, und es lag keinerlei Anlaß vor, ein Verbrechen in den Bereich der Erwägungen zu ziehen. So ungefähr war es doch?«

»Eine Untersuchung hat später noch stattgefunden«, sagte ich, »und dabei kam eine Menge neuer Tatsachen ans Licht. Aus der Nähe genauer betrachtet hat der Fall doch ein sehr merkwürdiges Aussehen.«

»Nach der Wirkung auf meinen Bruder zu urteilen, allerdings! Mycroft ist aus dem Gleis gesprungen – das bringt nur ein Erdbeben fertig!« Er machte es sich in seinem Lehnstuhl bequem. »Nun, alter Watson, laß die Tatsachen hören.«

»Der Name des Toten war Arthur Cadogan West. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, ledig, Büroangestellter im Arsenal von Woolwich.«

»Regierungsangestellter. Beachte das Bindeglied mit meinem Bruder!«

»Er verließ Woolwich plötzlich Montag abend. Zuletzt ist er von seiner Verlobten gesehen worden, Fräulein Violet Westbury, die er in dem Nebel ganz unvermittelt gegen sieben Uhr dreißig verließ. Sie hatten keinen Streit miteinander gehabt, und das Fräulein kann keinen Grund für sein Verhalten angeben. Das nächste, was von ihm dann bekannt wurde, war die Nachricht, daß ein Schienenleger namens Mason seine Leiche dicht außerhalb der Aldgatestation der Untergrundbahn in London gefunden hatte.«

»Wann?«

»Die Leiche wurde um sechs Uhr früh am Dienstag entdeckt. Sie lag weit ab von den Schienen, auf der linken Seite des Bahnkörpers (wenn man ostwärts schaut), nahe bei der Station, dort, wo die Bahn den Tunnel verläßt. Der Schädel war zerschmettert – eine Verletzung, die sehr wohl durch einen Sturz aus dem Zuge verursacht sein konnte. Nur so konnte überhaupt die Leiche dahin gekommen sein. Wäre sie von einer der angrenzenden Straßen her an den Fundort gebracht worden, so hätte sie die Stationsschranken passieren müssen, wo ständig ein Kontrolleur steht. In dieser Hinsicht scheint völlige Gewißheit zu herrschen.«

»Sehr gut. Die Grundlage ist einfach genug: der Mann ist, entweder tot oder lebend, aus einem Zug entweder hinausgefallen oder hinausgeworfen worden. Soviel ist mir klar. Bitte weiter!«

»Die Züge, die auf den Schienensträngen verkehren, neben denen der Tote gefunden wurde, sind solche, die von Westen nach Osten fahren, teils reine Stadtzüge, teils solche von Willesden und außerhalb liegenden Knotenpunkten. Es kann als erwiesen gelten, daß dieser junge Mann, ehe er seinen Tod fand, in der angegebenen Richtung zu später Nachtzeit fuhr, dagegen ist es nicht möglich, festzustellen, wo er den Zug bestiegen hat.«

»Seine Fahrkarte würde darüber Auskunft geben.«

»Man fand keine Fahrkarte bei ihm.«

»Keine Fahrkarte! Donnerwetter, Watson, das ist aber auffällig. Nach meinen Erfahrungen ist es nicht möglich, einen Untergrundbahnzug zu betreten, ohne eine Karte vorzuweisen. Ist ihm die seinige abgenommen worden, um die Station zu verheimlichen, von der er gekommen ist? Das ist möglich. Oder hat er sie im Zug verloren oder fortgeworfen? Auch das ist möglich. Aber dieser Punkt ist von besonderem Interesse. Nicht wahr, die Leiche war nicht beraubt?«

»Offenbar nicht. Hier ist ein Verzeichnis dessen, was man bei ihm fand. Seine Geldtasche enthielt zwei Pfund Sterling, fünfzehn Schilling. Er hatte auch ein Scheckheft der Woolwicher Zweigstelle der Stadt- und Landbank bei sich. Seine Identität wurde durch dieses Scheckheft festgestellt. Ferner zwei Karten für das Woolwicher Theater, für denselben Abend. Schließlich ein kleines Paket technischer Papiere.«

Holmes tat einen Ausruf der Befriedigung.

»Hier haben wir es endlich, Watson! Englische Regierung – Woolwich – Arsenal – technische Papiere – Bruder Mycroft. Der Ring schließt sich. Aber da kommt er ja wohl.«

Einen Augenblick später wurde die große stattliche Erscheinung Mycroft Holmes‘ unter der Türe sichtbar. Schwer und massiv gebaut, lag eine merkwürdige körperliche Trägheit in der ganzen Figur des Mannes angedeutet. Aber über dem mächtigen Körperbau thronte ein so ausgeprägter Charakterkopf: stahlgraue, tiefliegende, scharfblickende Augen, schmale, gerade Lippen, hohe Stirn und ein äußerst lebhaftes Mienenspiel, so daß man nach dem ersten Blick den massigen Körper ganz vergaß und nur noch den überlegenen Geist sah.

Gleich hinter Mycroft erschien unser alter Freund Lestrade von Scotland Yard – dünn und voll Erhabenheit. Der ernste Gesichtsausdruck beider Männer verriet eine schwerwiegende Angelegenheit. Der Detektiv reichte uns stumm die Hand; Mycroft Holmes schälte sich aus seinem Mantel und ließ sich in einen Sessel fallen.

»Ein sehr unangenehmes Geschäft, Sherlock«, redete er seinen Bruder an. »Es ist mir äußerst unangenehm, meine Gewohnheiten nicht einhalten zu können, aber es handelt sich hier um Dinge, die es gebieterisch verlangen, und so muß ich eben. Leider! Bei der augenblicklichen Lage Siams ist es ganz ungeschickt, daß ich vom Büro fort bin. Aber er ist eine richtige Krisis. Unsern Premier habe ich noch nie so außer Fassung gesehen. Die Admiralität – da summt es wie in einem umgestürzten Bienenkorb. Ist dir der Fall schon bekannt?«

»Wir haben uns eben aus der Zeitung darüber unterrichtet. Was sind das für technische Papiere?«

»Du triffst den Kernpunkt. Zum Glück ist noch nichts in die Öffentlichkeit gedrungen. Die Presse würde toben, sage ich dir. Die technischen Papiere, die man in den Taschen des Toten fand, sind die Zeichnungen zu dem Bruce-Partington-Unterseeboot.«

Mycroft Holmes sprach mit einer Feierlichkeit, die verriet, welche Bedeutung er dem Gegenstande beilegte. Sein Bruder und ich lauschten voller Spannung.

»Sicher hast du von ihm gehört? Ich dachte, jedermann hätte von ihm gehört.«

»Nur der Name ist mir bekannt.«

»Seine Bedeutung kann kaum übertrieben werden. Es ist das am eifersüchtigsten gehütete Geheimnis unserer Regierung. Du kannst es mir glauben, daß innerhalb des Aktionsradius eines Bruce-Partington keine Seekriegsführung mehr denkbar ist. Vor zwei Jahren wurde eine sehr große Summe durch das Budget geschmuggelt und wurde dafür verwendet, uns das Monopol der Erfindung zu sichern. Es geschah alles, um das Geheimnis zu wahren. Die Konstruktionspläne, die äußerst verwickelt sind, enthalten gegen dreißig einzelne Patente, jedes wesentlich für das Ganze, und werden in einen erstklassigen Stahlschrank in einem geheimen Büro neben dem Arsenal, mit einbruchsicheren Türen und Fenstern, aufbewahrt. Unter keinerlei Bedingungen durften die Zeichnungen aus dem Büro entfernt werden. Wenn der Erste Konstruktionsoffizier der Marine sie einsehen wollte, so war selbst er genötigt, zu dem Zweck nach Woolwich zu gehen. Und trotz alledem finden wir die Pläne in den Taschen eines jüngeren Bürobeamten mitten in London. Vom amtlichen Standpunkt aus ist es einfach gräßlich!«

»Aber du hast sie alle wieder?«

»Nein, Sherlock, nein! Da liegt ja der Hund begraben. Wir haben sie nicht. Zehn Pläne sind in Woolwich gestohlen worden. Sieben fand man in den Taschen von Cadogan West. Die wichtigsten drei –« Mycroft Holmes blies sich über die leere Fläche seiner Rechten. »Weg! Sherlock, du mußt alles andere liegen lassen. Vergiß deine üblichen kleinen Häkeleien mit der Polizei. Du hast eine Aufgabe von internationaler Bedeutung zu bewältigen. Warum hat Cadogan West die Papiere gestohlen, wo sind die drei fehlenden, wie ist er gestorben, wie kam seine Leiche an den Fundort, wie kann der Schaden wieder gut gemacht werden? Finde die richtige Antwort auf alle diese Fragen, und du wirst dem Vaterland einen großen Dienst erwiesen haben.«

»Warum lösest du die Aufgabe nicht selbst, Mycroft? Du siehst so weit wie ich.«

»Möglich, Sherlock. Aber es handelt sich hier um die Feststellung von Einzelheiten. Gib mir deine Einzelheiten, und von diesem Sessel aus will ich dir ein ausgezeichnetes fachmännisches Exposé zu dem Fall diktieren. Aber hierhin laufen, dorthin rennen, Eisenbahner ausfragen, auf dem Bauche liegen mit einer Lupe vor dem Auge – das ist nichts für mich. Nein, du bist der einzige Mensch, der den Fall aufklären kann. Wenn du Wert darauf legst, deinen Namen unter den nächsten Ordensverleihungen –«

Mein Freund lächelte und wehrte mit der Hand ab.

»Ich spiele das Spiel lediglich um des Spieles willen«, sagte er. »Aber der Fall scheint einige interessante Schwierigkeiten zu bieten, und es wird mir ein Vergnügen sein, sie anzupacken. Einige weitere Unterlagen, bitte.«

»Ich habe die wichtigsten Daten hier auf diesem Bogen aufgeschrieben, dazu einige Adressen, die dir nützlich sein können. Der gegenwärtige amtliche Hüter der Papiere ist der berühmte Marinefachmann Sir James Walter, dessen Orden und Titel mehrere Zeilen der Rangliste füllen. Er ist im königlichen Dienst ergraut, ist ein Gentleman, ein bevorzugter Gast in den ersten Häusern Englands und vor allem ein Mann, dessen Vaterlandsliebe über jeden Zweifel erhaben ist. Er ist einer von den zweien, die einen Schlüssel zu dem Stahlschrank haben. Ich will noch nachtragen, daß die Pläne am Montag während der Arbeitszeit unzweifelhaft da waren, und daß Sir James ungefähr um 3 Uhr nach London fuhr und den Schlüssel mitnahm. Er war den ganzen Abend im Hause des Admirals Sinclair am Barclay-Platz, während das Unglück geschah.«

»Ist diese Tatsache bestätigt?«

»Ja; sein Bruder, Oberst Valentine Walter, hat seine Abfahrt von Woolwich bezeugt, und Admiral Sinclair seine Ankunft in London; also ist Sir James nicht länger mehr ein unsicherer Faktor in der Sache.«

»Wer ist der andere Mann, mit dem anderen Schlüssel?«

»Der Bürovorsteher und Zeichner Herr Sidney Johnson. Er ist ein Mann von vierzig Jahren, verheiratet, mit fünf Kindern. Das ist ein stiller, übellauniger Mann, aber er genießt in bezug auf Zuverlässigkeit den besten Ruf im öffentlichen Dienst. Er ist unbeliebt bei seinen Kollegen, aber ein tüchtiger Arbeiter. Nach seinen eigenen Angaben, die mir seine Frau bestätigt hat, war er den ganzen Montagabend nach Büroschluß zu Hause, und sein Schlüssel ist nicht von der Uhrkette gekommen, an der er hängt.«

»Erzähle mir noch von Cadogan West!«

»Er ist seit zehn Jahren im Dienst und hat sich bewährt. Er hat den Ruf, ein Heißsporn zu sein, aber ein ehrlicher, gerader Mann. Wir haben nichts gegen ihn. Er war nach Sidney Johnson der zweite im Büro. Seine Obliegenheiten brachten ihn täglich in persönliche Berührung mit den Zeichnungen. Nur er allein nahm sie aus den Fächern und ordnete sie wieder ein.«

»Wer hat in jener Nacht die Pläne eingeschlossen?«

»Herr Sidney Johnson, der Bürovorsteher.«

»Nun, es ist doch vollständig klar, wer sie gestohlen hat. Man hat sie in den Taschen Cadogan Wests gefunden – das ist eine Tatsache, und die macht doch alle weiteren Erwägungen überflüssig, nicht?«

»So scheint es, Sherlock, und doch bleibt da noch so vieles unaufgeklärt. Zu allererst: warum hat er sie gestohlen?«

»Ich nehme an, sie sind von Wert?«

»Er hätte sehr leicht viele Tausende dafür bekommen können.«

»Kannst du mir ein anderes Motiv dafür angeben, daß er die Zeichnungen nach London brachte – außer, um sie zu verkaufen?«

»Nein, das kann ich nicht.«

»Dann müssen wir das zu unserer Grundlage machen. Der junge West hat die Papiere entwendet. Das konnte aber nur geschehen unter Verwendung eines falschen Schlüssels –«

»Verschiedener falscher Schlüssel«, unterbrach Mycroft. »Er mußte außer dem Stahlschrank das Zimmer und das Haus aufschließen.«

»Gut, dann hatte er also verschiedene falsche Schlüssel. Er nahm die Papiere mit nach London, um das Geheimnis zu verkaufen und hatte vermutlich die Absicht, die Zeichnungen bis zum nächsten Morgen wieder in den Schrank zu legen, ehe sie vermißt wurden. Während er in London mit dieser lukrativen Aufgabe beschäftigt war, ereilte ihn der Tod.«

»Wie?«

»Wir wollen annehmen, daß er zurück nach Woolwich fuhr, als er getötet und aus dem Wagenabteil geworfen wurde.«

»Aldgate, wo die Leiche gefunden wurde, ist beträchtlich jenseits London Bridge Station, wo seine Linie nach Woolwich abzweigt«, bemerkte Mycroft.

»Man kann sich viele Umstände ausdenken, die ihn hätten veranlassen können, über London Bridge hinauszufahren. Da saß einer mit ihm im Wagen, mit dem er eine zu wichtige Verhandlung führte, um auf die Stationen zu achten; hm, und diese Verhandlung endigte in einer heftigen Szene, bei der er sein Leben verlor. Möglicherweise wollte er den Wagen verlassen, er fiel auf den Bahnkörper und zerschmetterte sich den Schädel. Der andere schloß die Tür hinter ihm. Es war bekanntlich ein dicker Nebel, und niemand konnte etwas deutlich sehen.«

»Mit unserer augenblicklichen Kenntnis der Tatsachen können wir auf keine bessere Erklärung kommen. Und doch bitte ich dich zu bedenken, wie vieles du dabei außer acht läßt. Bleiben wir z. B. einmal dabei, daß der junge West beschlossen hatte, die Pläne nach London zu bringen. Natürlich hatte er sich da vorher mit dem fremden Spionageagenten verabredet und sich diesen Abend freigehalten. Statt dessen nahm er zwei Karten fürs Theater, brachte seine Verlobte halbwegs dorthin und verschwand dann plötzlich.«

»Eine Finte«, bemerkte Lestrade, der nicht ohne Ungeduld das Zwiegespräch mit angehört hatte.

»Eine sehr merkwürdige Finte«, sagte Sherlock Holmes. »Das ist Einwurf Nummer eins. Einwurf Nummer zwei: Wir wollen annehmen, er fährt nach London und trifft sich mit dem fremden Agenten. Er muß die Pläne bis zum andern Morgen wieder zurückschaffen, oder ihr Fehlen wird entdeckt werden. Er nahm zehn mit sich von Woolwich; nur sieben hat man bei ihm gefunden. Was ist mit den übrigen drei geschehen? Sicher würde er sie nicht freiwillig zurückgelassen haben, denn das bedeutete ja Entdeckung mit allen unheilvollen Folgen. Schließlich, wo ist der Preis für seinen Verrat? Man hätte doch eigentlich eine große Summe bei ihm finden müssen.«

»Mir scheint das völlig klar«, sagte Lestrade. »Ich habe keinen Zweifel, wie die Dinge sich abspielten. Er nahm die Papiere weg, um sie zu verkaufen. Er traf sich mit dem Agenten. Sie konnten sich über den Preis nicht einig werden. West fuhr wieder nach Hause, aber der Agent fuhr mit. Im Zug ermordete ihn der Agent, nahm die drei wichtigsten Pläne an sich, und warf die Leiche aus dem Wagen. Das würde sich mit allen Tatsachen decken, nicht?«

»Warum hatte er keine Fahrkarte?«

»Die Karte würde gezeigt haben, welche Station dem Haus des Agenten am nächsten gelegen ist. Deshalb nahm er sie aus der Tasche des Ermordeten.«

»Gut, Lestrade, sehr gut«, sagte Holmes. »Ihre Theorie hält zusammen. Aber wenn sie richtig ist, dann ist der Fall zu Ende. Auf der einen Seite ist der Hochverräter tot, auf der anderen sind die wichtigsten Zeichnungen im Besitz eines Spions und wahrscheinlich schon längst auf dem Festland. Was bleibt uns da noch zu tun übrig?«

»An die Arbeit, Sherlock!« rief Mycroft und sprang auf die Füße, »an die Arbeit! Alle meine Instinkte sind gegen diese Erklärung. Laß deine Fähigkeiten spielen! Geh an den Ort des Verbrechens, sprich mit den Leuten, die davon berührt wurden, laß keinen Stein ununtersucht. In deinem ganzen Leben hast du noch keine so glänzende Gelegenheit gehabt, deinem Vaterlande zu dienen.«

»Schön, schön«, sagte Holmes und zuckte die Achseln. »Komm, Watson! Und Sie, Lestrade, würden Sie uns gütigst eine Stunde oder zwei schenken? Wir wollen unsere Nachforschungen mit einem Besuch der Aldgate Station beginnen. Leb‘ wohl, Mycroft. Noch vor Abend werde ich dir einen Bericht senden, aber ich mache dich im voraus darauf aufmerksam, daß du nur wenig zu erwarten hast.«


Eine Stunde später standen wir drei auf der Untergrundbahnstrecke dort, wo sie den Tunnel bei der Aldgate Station verläßt. Ein freundlicher alter Herr mit rotem Gesicht vertrat bei uns die Bahngesellschaft.

»Dort ist die Leiche des jungen Mannes gefunden worden«, sagte er und wies auf einen Fleck ungefähr einen Meter von der Beschotterung. »Von oben her konnte sie nicht gefallen sein, denn wie Sie sehen, ist da alles lückenlose Mauer. Also konnte sie nur von einem Zuge kommen, und dieser Zug lief, soweit wir feststellen konnten, am Montag um Mitternacht hier durch.«

»Sind die Wagen auf irgendwelche Anzeichen eines Kampfes untersucht worden?«

»Wir konnten keinerlei Anzeichen dafür finden; ebensowenig die Fahrkarte.«

»Keine Meldung, daß eine Tür offenstehend gefunden wurde?«

»Nein.«

»Wir haben heute morgen neue Tatsachen festgestellt«, sagte Lestrade. »Ein Herr, der Aldgate in einem gewöhnlichen Stadtzuge ungefähr um elf Uhr vierzig Montagnacht passierte, sagt aus, daß er einen starken dumpfen Schlag hörte, als ob ein Körper auf dem Boden aufschlüge, gerade ehe der Zug die Station erreicht hatte. Bei dem dicken Nebel konnte er leider nichts sehen. Er machte damals keine Anzeige. Ha, was ist mit Herrn Holmes?«

Mein Freund stand da mit einem Ausdruck angespanntesten Nachdenkens auf dem Gesicht und starrte auf die Eisenbahnschienen, wo sie im Bogen aus dem Tunnel herauskamen. Aldgate ist ein Knotenpunkt, und da war also ein ganzes Netzwerk von Weichen. Auf diese waren seine starren Augen gerichtet, und ich bemerkte auf seinem belebten, gespannten Gesicht die zusammengekniffenen Lippen, das Beben seiner Nasenflügel und das mir so wohlbekannte Stirnrunzeln.

»Die Weichen«, sagte er halblaut vor sich hin; »die Weichen.«

»Was ist’s mit ihnen? Was meinen Sie?«

»Ich nehme an, daß nur wenige Ihrer Stationen ein solches System von Weichen haben.«

»Nur ganz wenige, Herr Holmes.«

»Und eine Kurve auch noch. Weichen, und eine Kurve. Bei Gott, wenn es nur so wäre!«

»Was überlegen Sie, Herr Holmes? Haben Sie etwas entdeckt?«

»Eine Idee – eine Ahnung, nicht mehr. Aber der Fall wird immer interessanter. Einzigartig, völlig einzigartig, und doch, warum nicht? Ich sehe keinerlei Anzeichen von Blut hier an der Fundstelle.«

»Es werden auch kaum welche vorhanden sein.«

»Aber der Kopf war doch zerschmettert.«

»Die Schädelknochen ja, aber äußerlich waren die Verletzungen nicht schwer.«

»Und doch hätte man etwas Blut finden müssen. Könnten Sie es mir ermöglichen, den Zug zu besichtigen, mit dem der Herr fuhr, der den Fall eines Körpers im Nebel gehört hat?«

»Leider ist das nicht möglich, Herr Holmes. Der Zug ist schon längst aufgelöst, und die Wagen sind neu verteilt.«

»Ich kann Sie versichern, Herr Holmes«, sagte Lestrade, »daß jedes Abteil aufs genaueste untersucht worden ist. Es geschah unter meiner Aufsicht.«

Eine der hervorstechendsten Schwächen meines Freundes war es, daß er oft ungeduldig mit solchen war, die einen weniger scharfen Geist hatten als er.

»Ach ja«, seufzte er laut und wandte sich ab. »Natürlich wollte ich nicht die Abteile untersuchen. Watson, komm‘, wir haben alles getan, was hier zu tun ist. Herr Lestrade, wir brauchen Sie nicht mehr zu bemühen. Unsere Nachforschungen müssen wir jetzt in Woolwich fortsetzen.«

Auf dem Londoner Bridge-Bahnhof schrieb Holmes ein Telegramm an seinen Bruder, das er mir zu lesen gab, ehe er es abschickte. Es lautete:

»Sehe etwas Licht in dem Dunkel, aber es kann wieder verlöschen. Schicket mit Boten Bakerstraße wartend vollständige Liste aller fremden Spione, Agenten usw., die gewöhnlich in England arbeiten, mit genauer Adresse. Sherlock.«

»Solch eine Liste wäre uns von Vorteil, Watson«, sagte Holmes, als wir in den Zug nach Woolwich stiegen. »Meinem Bruder sind wir Dank schuldig, daß er uns mit einer Staatsangelegenheit bekannt gemacht hat, die ein ganz hervorragend interessanter Kriminalfall zu sein scheint.«

Sein eifriges Gesicht zeigte noch immer die angespannte lebhafte Energie, die mir offenbarte, daß irgendein neuer und bedeutungsvoller Umstand eine Kette anregender Gedanken in ihm ausgelöst hatte. Schau einen Fuchshund an, wie er mit gesenktem Schweif und hängenden Ohren im Rinnstein herumlungert und vergleiche ihn mit demselben Hund, wenn er mit glitzernden Augen und straffesten Muskeln hinter dem Fuchs her ist – so war die Veränderung in Holmes seit dem Morgen. Er war völlig verschieden von dem schlappen, indolenten Mann im mausgrauen Schlafrock, der noch wenige Stunden vorher so verdrossen in dem von Nebel umhüllten Zimmer herumgelaufen war.

»Hier ist Material. Hier sind Aussichten«, sagte er. »Mir saß noch der Nebel im Kopfe, daß ich diese Möglichkeiten nicht früher erblickte.«

»Mir sind sie auch jetzt noch dunkel.«

»Das Ende ist mir ebenfalls dunkel, aber ich habe da einen Gedanken, der uns weit bis ans Ende führen kann. Cadogan West hat seinen Tod ganz wo anders gefunden, und seine Leiche war auf dem Dach eines Wagens.«

»Auf dem Dache?«

»Sonderbar, was? Aber laß die Tatsachen sprechen: ist es ein Zufall, daß die Leiche gerade da gefunden wurde, wo der Zug in der Kurve schleudert und in den Weichen hin- und hergeworfen wird? Ist nicht das der Ort, wo ein Gegenstand vom Dache eines Wagens herunterfallen muß? Entweder der Leichnam ist vom Dach gefallen, oder es ist eine ganz merkwürdige Zufälligkeit. Aber nun betrachte die Frage der Blutspuren, die nicht vorhanden sind. Sie können natürlich nicht da sein, wenn der Tote sich schon vorher anderswo ausgeblutet hat. Jede Tatsache ist für sich bedeutungsvoll. Zusammen haben sie eine durchschlagende Beweiskraft.«

»Und die Fahrkarte, Holmes!« rief ich.

»Ja, das ist auch wichtig. Wir konnten uns das Fehlen der Karte nicht erklären. Aber meine Annahme erklärt sie ganz zwanglos: Der Tote war gar kein Passagier, hatte also auch keine Karte. Es paßt alles zusammen, Watson.«

»Aber angenommen, es wäre alles so, so sind wir doch noch ebenso weit wie früher von der Lösung des Rätsels entfernt: Wie hat West seinen Tod gefunden? Das Rätsel wird in der Tat nicht leichter, sondern immer schwieriger.«

»Vielleicht«, sagte Holmes gedankenvoll; »vielleicht«. Er verfiel in eine stille Träumerei, die ihn gefangen hielt, bis der langsame Zug endlich in die Woolwich-Station einfuhr. Hier rief er eine Droschke heran und zog Mycrofts Notizen aus der Tasche.

»Wir haben eine ganz nette Runde von Nachmittagsbesuchen zu machen«, sagte er. »Ich denke, Sir James Walter gebührt an erster Stelle die Ehre.«

Das Haus des berühmten Beamten war eine schöne Villa, umgeben von Rasen und Park, die sich auf einer Seite bis an die Themse-Ufer hinuntererstreckten. Als wir ankamen, begann der Nebel sich zu verziehen, und ein dünner wässeriger Sonnenschein brach hervor. Ein Diener empfing uns.

»Sir James«, sagte er mit feierlicher Miene. »Ich bitte sehr, Sir James ist heute früh gestorben.«

»Ums Himmels willen!« rief Holmes in entsetztem Staunen. »An was ist er gestorben?«

»Vielleicht darf ich die Herrschaften bitten, einzutreten? Der Bruder Sir James‘, Herr Oberst Valentine ist zugegen.«

»Jawohl, ich möchte den Herrn Oberst sprechen.«

Wir wurden in ein dämmeriges Zimmer geführt, wo uns gleich darauf ein sehr großer, schön gewachsener Mann von etwa fünfzig Jahren, der jüngere Bruder des Marinefachmannes, begrüßte. Seine wilden Augen, die fleckigen Backen und das verwirrte Haar verrieten uns deutlich, wie schwer der plötzliche Schlag die Familie betroffen hatte. Er mußte mit den Worten ringen, als er uns davon berichtete.

»Es war dieser gräßliche Skandal«, sagte er. »Mein Bruder, Sir James, war ein Mann von höchstem Ehrgefühl, und er konnte solch eine Geschichte einfach nicht überleben. Sie hat ihm das Herz gebrochen. Er war stets so stolz auf die tadellose Leistungsfähigkeit seiner Abteilung, und dieser Hochverrat hat ihn zu schwer betroffen.«

»Wir hatten gehofft, er würde uns einige Angaben machen können, die es uns ermöglicht hätten, die geheimnisvolle Angelegenheit aufzuklären.«

»Ich versichere Sie, die ganze Sache war für ihn ein vollständiges Rätsel, wie für Sie und uns alle. Alles, was er zur Aufklärung beitragen konnte, hat er bereits der Polizei gegenüber getan. Natürlich, auch er zweifelte nicht daran, daß Cadogan West der Schuldige war. Aber alles übrige war ihm unfaßbar und unbegreiflich.«

»Auch Sie selbst können kein neues Licht auf den Fall werfen?«

»Ich selbst weiß nichts außer dem, was ich gelesen oder gehört habe. Ich möchte nicht für unhöflich gehalten werden, aber Sie werden es mir glauben, Herr Holmes, daß wir augenblicklich sehr der Ruhe bedürfen, und ich muß Sie daher bitten, diese Unterredung bald zu einem Ende zu bringen.« –

»Das ist wahrhaftig eine sehr unerwartete Entwicklung«, sagte mein Freund, als wir wieder im Wagen saßen.

»Ich muß mich fragen, ob dieser Tod seine natürlichen Ursachen hat, oder ob der arme alte Beamte sich selbst das Leben nahm! Wenn das letztere der Fall sein sollte, dürfen wir das dann als ein Zeichen von Selbstvorwurf wegen versäumter oder vernachlässigter Pflicht auffassen? Wir müssen diese Frage der Zukunft überlassen. Jetzt wollen wir die Cadogan Wests aufsuchen.«

Ein kleines, aber gut aussehendes Haus in einem Außenviertel der Stadt beherbergte die niedergebeugte Mutter. Die alte Dame war zu sehr von ihrem Schmerz erfüllt, als daß sie uns irgendwie hätte von Nutzen sein können; aber ihr zur Seite fanden wir eine bleiche junge Dame, die sich selbst als Fräulein Violet Westbury, die Verlobte des Toten, vorstellte. Sie betonte, daß sie in der verhängnisvollen Nacht ihn zuletzt gesehen hätte.

»Ich kann es nicht erklären, Herr Holmes«, sagte sie. »Ich habe seit dem schrecklichen Ereignis kein Auge geschlossen, Tag und Nacht muß ich denken, denken und denken, was das in Wahrheit bedeuten soll. Arthur war der anständigste, ritterlichste, patriotischste Mann auf Erden. Er würde sich lieber die rechte Hand abgehackt haben, ehe er ein Staatsgeheimnis, das seiner Obhut anvertraut war, verkauft hätte. Es ist einfach absurd, unmöglich, es ist verrückt, für jeden, der ihn gekannt hat.«

»Aber die Tatsachen, Fräulein Westbury?«

»Ja, ja, ich gebe zu, sie sprechen gegen ihn, und ich kann sie nicht erklären.«

»War er in Geldverlegenheit?«

»Nein, seine Bedürfnisse waren sehr bescheiden, und sein Gehalt reichlich. Er hatte sich einige hundert Pfund erspart, und wir wollten zu Neujahr heiraten.«

»Keinerlei Anzeichen seelischer Erregung? Bitte, Fräulein Westbury, seien Sie ganz offen mit uns.«

Der rasche Blick meines Freundes hatte sogleich eine Veränderung in ihrer Haltung festgestellt. Sie errötete und zögerte mit der Antwort.

»Ja«, sagte sie schließlich. »Ich hatte das Gefühl, als mache ihm etwas Sorge.«

»Seit langer Zeit?«

»Erst seit der letzten Woche ungefähr. Er erschien mir oft geistesabwesend und bedrückt. Einmal drang ich deswegen in ihn. Er gab zu, es sei da etwas, und das hinge mit seinem Dienst zusammen. ›Es ist viel zu ernst, als daß ich darüber sprechen könnte, sogar dir gegenüber‹, sagte er. Ich konnte nichts weiter aus ihm herausbekommen.«

Holmes machte ein ernstes Gesicht.

»Bitte, fahren Sie fort, Fräulein Westbury. Selbst wenn es ihn bloßzustellen scheint, bitte, verschweigen Sie uns nichts. Wir können noch nicht übersehen, zu was es am Ende führen wird.«

»Ich kann Ihnen wirklich nichts mehr sagen. Ein- oder zweimal schien es mir so, als wolle er mir etwas anvertrauen. Er sprach eines Abends von dem Unterseebootsgeheimnis, und ich erinnere mich, daß er sagte, fremde Spione würden ohne Zweifel große Summen dafür bezahlen.«

Das Gesicht meines Freundes wurde noch ernster.

»Noch etwas?«

»Er sagte, wir wären etwas nachlässig in solchen Dingen, und es würde für einen Verräter leicht sein, sich die Zeichnungen zu verschaffen.«

»War das erst kürzlich, daß er solche Bemerkungen machte?«

»Jawohl, erst ganz in letzter Zeit.«

»Nun erzählen Sie uns, bitte, von dem letzten Abend.«

»Wir waren im Begriff, ins Theater zu gehen. Der Nebel war so dick, daß eine Droschke nutzlos war. Wir gingen daher zu Fuß, und unser Weg führte uns dicht an seinem Büro vorüber. Plötzlich lief er in den Nebel hinein von mir weg.«

»Ohne ein Wort zu sagen?«

»Er tat einen Ausruf, das war alles. Ich wartete, aber er kehrte nicht zurück. Dann ging ich nach Hause. Am andern Morgen, nach Beginn der Bürostunden, kam man zu mir und verhörte mich. Ungefähr um zwölf Uhr erfuhren wir die schreckliche Nachricht. Oh, Herr Holmes, er ist tot, aber wenn Sie wenigstens, wenigstens seine Ehre retten könnten! Seine Ehre ging ihm über alles.«

Holmes schüttelte traurig den Kopf.

»Komm, Watson«, sagte er. »Unsere Aufgabe liegt anderswo. Unsere nächste Station ist jetzt das Büro, aus dem die Zeichnungen entwendet worden sind.«

»Es sah vorher schon schlimm genug aus für den jungen Mann, aber was wir inzwischen gehört haben, macht es noch schlimmer«, bemerkte er, als die Droschke mit uns fortrollte. »Seine beabsichtigte Verheiratung gibt ein Motiv für das Verbrechen. Er brauchte natürlich Geld. Der Gedanke saß ihm im Kopf, seit er davon sprach. Er machte das Mädchen beinahe zu seiner Helfershelferin bei dem schlechten Streich, indem er ihr von seinem Plan sprach. Es sieht alles sehr übel aus.«

»Gewiß, Holmes, aber Charakter zähle ich auch unter die Tatsachen und zwar unter die sichersten. Dann bitte, weshalb sollte er das Mädchen auf der Straße stehen lassen, von ihr weglaufen, um ein solches Verbrechen zu begehen?«

»Ganz richtig! Man kann gewiß allerlei Einwendungen machen, aber sie wiegen leicht gegen die schweren Verdachtsmomente.« –

Herr Sidney Johnson, der Bürovorsteher, empfing uns mit jener Ehrerbietung, die meines Freundes Besuchskarte überall auslöste. Er war ein magerer, kurzangebundener Mann von mittlerem Alter mit einer goldenen Brille und etwas eingefallenen Backen. Seine Hände zuckten vor Erregung; daß der Vorfall gerade seinem Büro passierte, hatte ihn sehr nahe berührt.

»Eine schlimme Geschichte, Herr Holmes, eine ganz schlimme Geschichte! Haben Sie schon den Tod unseres Chefs vernommen?«

»Wir kommen eben von seinem Haus.«

»Das ganze Büro ist aus dem Leim. Der Chef tot, Cadogan West tot, irgendwo sind Nachschlüssel vorhanden, und unsere Zeichnungen sind gestohlen. Als wir unsere Türen am Montag abend schlossen, waren wir noch ein so tadelloses Büro, wie irgendeines im königlichen Dienst. O Gott, es ist so schrecklich, daran zu denken! Und daß von allen Menschen gerade West solch eine Tat begangen haben soll!«

»Sie sind also auch überzeugt von seiner Schuld?«

»Ich kann nicht anders, es spricht ja alles gegen ihn. Und doch würde ich ihm ebenso vertraut haben, wie mir selbst.«

»Wann wurde das Büro am Montag geschlossen?«

»Um fünf Uhr.«

»Haben Sie es geschlossen?«

»Ich gehe immer als letzter fort.«

»Wo waren die Zeichnungen?«

»In diesem Stahlschrank. Ich habe sie selbst dort eingeschlossen.«

»Haben Sie keinen Nachtwächter im Hause?«

»Doch, natürlich, aber er hat das ganze Gebäude und nicht nur unsere Abteilung zu überwachen. Er ist ein alter Soldat und ein absolut zuverlässiger Mann. Er hat nichts Verdächtiges in der bewußten Zeit bemerkt. Aber freilich – der Nebel war sehr dick.«

»Angenommen, Cadogan West wollte nach Büroschluß in das Gebäude eindringen, so würde er also drei Schlüssel benötigt haben, ehe er die Zeichnungen greifen konnte?«

»Jawohl, den Schlüssel zu der äußeren Tür, den Schlüssel zum Büro und den Schlüssel zu dem Stahlschrank.«

»Nur Sir James Walter und Sie besaßen diese drei Schlüssel?«

»Ich hatte keine Schlüssel zu den beiden Türen, ich hatte nur den einen zu dem Stahlschrank.«

»War Sir James ein Mann von Ordnung und Pünktlichkeit?«

»Meines Wissens ja. Ich habe es nie anders gesehen, als daß er die drei Schlüssel an einem Ring beisammen hatte.«

»Und diesen Ring trug er stets bei sich?«

»So sagte er wenigstens.«

»Und Ihr Schlüssel kam nie aus Ihrer Hand?«

»Niemals!«

»Dann muß West, wenn er der Schuldige ist, einen Nachschlüssel gehabt haben. Man hat aber keinen bei ihm gefunden. Noch eine andere Frage: Wenn ein Beamter in diesem Büro die Absicht hatte, die Pläne zu verkaufen, wäre es da nicht einfacher für ihn gewesen, die Zeichnungen heimlich zu kopieren, statt die Originale mitzunehmen, wie das tatsächlich geschah?«

»Man brauchte weitgehende technische Kenntnisse, um die Zeichnungen genau zu kopieren.«

»Aber ich darf wohl annehmen, daß entweder Sir James, oder Sie, oder West über die technischen Kenntnisse verfügten.«

»Allerdings, das ist richtig, aber ich bitte Sie sehr, Herr Holmes, unterlassen Sie es, mich auf diese Weise in die Sache hineinzuziehen. Was soll es für einen Zweck haben, solch theoretische Spekulationen anzustellen, wenn die Originalzeichnungen in Wests Taschen gefunden wurden?«

»Nun, es ist jedenfalls eigentümlich, daß er es gewagt haben sollte, die Originale mitzunehmen, wenn er ebenso gut und viel gefahrloser seinen Zweck mit Kopien erreicht haben würde.«

»Das ist freilich eigentümlich – und doch hat er es so gemacht.«

»Jede neue Feststellung in diesem Fall enthüllt etwas Unerklärliches. Es fehlen drei Zeichnungen; es sind gerade die allerwichtigsten, wie mir gesagt wurde.«

»Jawohl, das stimmt.«

»Kann jemand, wenn er diese drei Zeichnungen besitzt, aber ohne die sieben anderen, nach Ihrer Ansicht ein Bruce-Partington-Unterseeboot bauen?«

»In diesem Sinne habe ich zunächst an die Admiralität berichtet, aber heute habe ich mir die Pläne noch einmal angesehen, und es sind mir da verschiedene Zweifel gekommen. Die doppelte Steuerung mit den automatisch wirkenden Nuten – das ist aus einem der Pläne, die wir wieder haben. Solange einer diese wesentlichen Teile nicht selber erfindet, könnte er auf Grund der übrigen Pläne das Unterseeboot nicht bauen. Aber natürlich, das ist eine Schwierigkeit, die zu überwinden wäre.«

»Aber die drei fehlenden Zeichnungen sind doch die allerwichtigsten?«

»Zweifelsohne!«

»Ich denke, ich werde jetzt einmal mit Ihrer gütigen Erlaubnis mir die Örtlichkeiten hier näher ansehen. Ich habe im Augenblick keine weiteren Fragen an Sie zu stellen.« Holmes prüfte das Schloß des Stahlschrankes, die Tür zum Büro und die eisernen Läden am Fenster. Aber erst draußen auf dem Rasen wurde sein Interesse lebendig. Da stand ein Lorbeerbusch in der Nähe des Fensters, und verschiedene Zweige waren geknickt oder abgebrochen. Er prüfte sie sorgfältig mit seiner Lupe und dann einige kaum wahrnehmbare Spuren auf der Erde. Schließlich bat er Herrn Johnson, die eisernen Läden zu schließen, und Holmes machte mich darauf aufmerksam, daß sie in der Mitte nicht ganz dicht zusammenstießen und es also möglich war, von außen zu beobachten, was in dem Büro vorging.

»Die drei Tage Verzug haben die geringen Spuren fast wertlos gemacht. Sie können etwas bedeuten oder auch nicht. Nun, Watson, ich glaube, Woolwich hat uns nichts mehr zu sagen. Wir haben nur eine dürftige Ernte hereingebracht. Wir wollen es jetzt in London versuchen, dort erreichen wir vielleicht mehr.«

Und doch bereicherten wir unsere Ernte noch um einen Scheffel, ehe wir den Zug bestiegen. Der Angestellte im Schalterraum versicherte uns aufs bestimmteste, er hätte Cadogan West – den er vom Sehen kannte – am Montagabend gesehen, und zwar sei er mit dem Zug acht Uhr fünfzehn nach London Bridge gefahren. Er war allein und löste eine einfache Karte dritter Klasse. Dem Angestellten war damals das aufgeregte und nervöse Wesen Wests aufgefallen. Seine Hand zitterte so, daß er kaum die Münzen fassen konnte, die er herausbekam, und der Angestellte half ihm, sie in seine Geldtasche zu stecken, genau wie einer Dame mit Handschuhen. Mit dem Fahrplan stellten wir fest, daß der Zug um acht Uhr fünfzehn für West die erste Möglichkeit war, nachdem er Fräulein Westbury um sieben Uhr dreißig so plötzlich verlassen hatte.

Nach einer halben Stunde stillen Nachdenkens sagte Holmes: »Wir wollen alles einmal rekonstruieren, Watson. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir unter allen unseren gemeinsam erlebten Fällen je einen so schwierigen gehabt hätten. Jeder Schritt nach vorwärts, den wir tun, wirft uns eigentlich einen Schritt wieder zurück. Und doch scheint es mir, wir hätten schon recht Wertvolles erreicht.

Unsere Nachforschungen in Woolwich haben in der Hauptsache Cadogan West bloßgestellt; aber die Spuren bei dem Fenster gestatten eine andere Auffassung. Wir wollen z. B. annehmen, ein Spionageagent hat sich an ihn herangemacht. Das kann ja unter solchen Vorkehrungen geschehen sein, daß es ihm unmöglich wurde, darüber zu sprechen, und konnte doch seine Gedanken in der Richtung beeinflußt haben, wie das seine Bemerkung zu seiner Verlobten andeutet. Schön! Wir wollen weiter annehmen, daß, als er mit der jungen Dame zum Theater ging, er plötzlich, im Nebel, denselben Agenten erblickte, wie er in der Richtung nach dem Büro eilte. West war ein impulsiver Mann, rasch in seinen Entschlüssen. Seiner Pflicht stellte er alles andere nach. Er folgte dem Agenten, kam vor das Fenster, sah, wie die Dokumente entwendet wurden und verfolgte den Dieb. Mit dieser Theorie kommen wir über den Einwand hinweg, daß niemand die Originale nehmen würde, der imstande war, sich Kopien anzufertigen. Der Agent konnte das nicht; er mußte die Originale selbst haben. So weit hält alles zusammen.«

»Was ist nun der nächste Schritt?«

»Da geraten wir in Schwierigkeiten. Die natürliche Annahme wäre, daß unter solchen Umständen der junge Cadogan West den Schurken ergreifen und Alarm schlagen würde. Warum hat er das nicht getan? Könnte einer seiner Vorgesetzten die Papiere entwendet haben? Nur so kann ich mir Wests Verhalten erklären. Oder war ihm der Vorgesetzte im Nebel entschlüpft und West eilte sofort nach London, um ihm in seiner Wohnung zuvorzukommen, vorausgesetzt, daß ihm diese bekannt war? Jedenfalls muß ihn eine innere Stimme sehr dringend angetrieben haben, da er seine Verlobte im Nebel stehen ließ und er keinen Versuch machte, ihr sein Verhalten zu erklären. Hier verliert sich unsere Spur, und eine tiefe Kluft tut sich auf zwischen diesen beiden Annahmen und dem Leichnam Wests mit sieben Zeichnungen in der Tasche, den wir auf dem Dach eines Untergrundbahnzuges liegend, annehmen müssen. Nach meinem Instinkt muß ich die Geschichte jetzt vom anderen Ende her anfassen. Wenn Mycroft uns die verlangten Adressen geschickt hat, werden wir in der Lage sein, unsern Mann ausfindig zu machen und zwei Spuren statt nur einer zu verfolgen.«


In der Bakerstraße wartete ein Bote auf uns mit der Adressenliste. Holmes überflog sie und warf sie mir über den Tisch zu. Ich las:

»Es gibt da zahlreiches kleines Gelichter, aber nur wenige, die eine so große Sache fingern können. Die einzigen, die in Betracht kommen, sind Adolf Meyer, Große Georgstraße Nr. 13, Westminster; Louis La Rothière, Campden Mansions, Notting Hill; und Hugo Oberstein, Caulfield-Anlagen Nr. 13, Kensington. Der letztere war nach unserer Kenntnis am Montag in der Stadt; inzwischen bekamen wir Meldung, daß er London verlassen hat. – Sehr erfreut, daß Du einen Lichtschimmer siehst. Das Kabinett erwartet Deinen abschließenden Bericht in der größten Unruhe. Dringende Vorstellungen sind uns von der höchsten Stelle zugegangen. Alle Sicherheitsbehörden Englands stehen Dir zur Verfügung, wenn Du sie benötigen solltest. – Mycroft.«

»Ich fürchte«, sagte Holmes lächelnd, »daß ›des Königs sämtliche Pferde und des Königs sämtliche Soldaten‹ uns in dieser Sache nichts nützen könnten.« Er hatte seine große Karte von London auf dem Tisch ausgebreitet und beugte sich eifrig darüber. »Aha, gut«, sagte er jetzt mit einem Ausruf der Befriedigung, »endlich zieht sich die Sache ein wenig für uns günstig zusammen. Ja, Watson, ich bin jetzt ehrlich davon überzeugt, daß wir bald ans Ziel kommen werden.«

Er schlug mich in einem plötzlichen Fröhlichkeitsausbruch auf die Schulter. »Ich gehe jetzt aus. Es ist nur eine Erkundung. Ich werde nichts Ernsthaftes unternehmen, ohne meinen alten Kriminalkameraden und Biographen zur Seite zu haben. Bitte warte hier, wahrscheinlich werde ich in ein bis zwei Stunden zurück sein. Wenn dir die Zeit lang wird, dann nimm Tinte, tauche deine berühmte Feder ein und fange an, die Geschichte zu Papier zu bringen, wie Sherlock Holmes und sein Freund Doktor Watson das englische Reich gerettet haben.«

Ich fügte mich, von Holmes‘ guter Laune angesteckt, denn ich wußte gut, daß er nicht ohne die besten Gründe sich so weit von seiner üblichen reservierten und verschlossenen Art entfernen würde. Ich wartete den ganzen langen Novemberabend und konnte meine Ungeduld kaum beherrschen. Endlich, kurz nach neun Uhr, erschien ein Bote mit einem Billett:

»Esse bei Goldino, Gloucester Road, Kensington, zu Nacht. Bitte komme sofort. Es gibt Hummer. Bring ein Stemmeisen mit, eine Blendlaterne, einen Revolver und einen Schraubenzieher. – S. H.«

Das war eine nette Ausrüstung, die ein ehrbarer Bürger durch die düsteren, nebelverhüllten Straßen zu tragen hatte. Ich steckte alles in die Taschen meines Mantels und fuhr direkt nach dem angegebenen Restaurant. Dort saß mein Freund an einem kleinen, runden Tische nahe der Tür dieses beliebten italienischen Hauses. Wir aßen zusammen, und bei Kaffee und Curaçao fragte mich mein Freund:

»Hast du alles mitgebracht?«

»Ich habe alles in meinem Überzieher.«

»Ausgezeichnet. Ich will dir kurz sagen, was ich inzwischen getan habe und uns jetzt zu tun noch übrig bleibt. Vor allem, Watson, der Leichnam des jungen Mannes ist auf das Dach des Wagens gelegt worden. Das war mir schon in dem Augenblick klar geworden, wo ich zu der Überzeugung kam, daß er vom Dach und nicht vom Inneren eines Wagens heraus auf den Bahnkörper gelangt war.«

»Konnte er nicht auch von einem der vielen Brückenstege auf den Zug gefallen sein?«

»Nach meiner Ansicht ist das unmöglich. Wenn du dir solch ein Wagendach ansiehst, wirst du finden, daß es leicht gewölbt ist. Wäre der Leichnam von einem Brückensteg etwa auf das Dach gefallen, so wäre er mit tausend Wahrscheinlichkeiten gegen eine sofort abgerutscht und zu Boden gefallen, deshalb können wir als sicher annehmen, daß irgend jemand Cadogan West tot auf das Dach gelegt hat.«

»Aber wie soll das vor sich gegangen sein?«

»Das ist natürlich die Frage, die ich mir zuerst zu beantworten hatte. Es gibt da nur eine Möglichkeit. Die Untergrundbahn fährt meistens in Tunneln mit Ausnahme von einigen Strecken im Westend. Ich erinnerte mich dunkel, daß ich bei gelegentlichen Fahrten schon beobachtet hatte, daß dort die Fenster der Häuser sich fast in der Höhe der Wagendächer befanden. Nun stelle dir vor, ein Zug hält unter einem solchen Fenster – wäre es da nicht ganz einfach und leicht, einen toten Mann auf ein Wagendach zu schieben?«

»Die Einfachheit leuchtet mir nicht ohne weiteres ein.«

»Wir müssen auf den alten Lehrsatz zurückkommen, daß wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind, diejenigen, die bei aller Unwahrscheinlichkeit noch übrig bleiben, die Wahrheit enthalten. Hier sind alle anderen Möglichkeiten erschöpft. Als ich nun herausfand, daß einer der Spione, der eben erst London verlassen hat, in einer Straße wohnte, die hart an der Untergrundbahn liegt, war ich so erfreut darüber, daß du über meine plötzliche Lustigkeit erstauntest.«

»Oh, deshalb warst du so ausgelassen!«

»Ja, mein Lieber! Herr Hugo Oberstein, Caulfield-Anlagen Nummer 13, war mein Mann. Ich begann meine Operationen in der Gloucester-Straße-Station, wo ein sehr hilfsbeflissener Beamter mit mir die Strecke ablief und mir nicht nur die Feststellung gestattete, daß die Rückfenster der Häuser in den Caulfield-Anlagen auf die Bahnlinie hinausgehen, sondern mir auch noch die wichtige Tatsache mitteilte, daß infolge einer Kreuzung mit einer Hauptlinie hier die Untergrundzüge häufig für mehrere Minuten festgehalten werden.«

»Glänzend, Holmes, du hast die Lösung des Rätsels gefunden.«

»Noch nicht ganz, Watson, noch nicht ganz. Wir kommen vorwärts, aber das Ziel ist noch weit. Gut, nachdem ich also die Rückseite der Caulfield-Häuser gesehen, besah ich sie mir auch von der Vorderseite und stellte fest, daß der Vogel in der Tat ausgeflogen war. Nummer 13 ist ein ziemlich großes Haus, die oberen Zimmer unmöbliert, soweit ich beurteilen kann. Oberstein lebte dort nur mit einem alten Diener, der wahrscheinlich ein vertrauter Helfershelfer war. Wir müssen im Auge behalten, daß Oberstein nur deshalb England verlassen hat, um seine Beute in Sicherheit zu bringen, aber keineswegs, um London für immer zu verlassen; zu einer Flucht lag für ihn keinerlei Anlaß vor, und der Gedanke eines Amateureinbruches in sein Haus ist ihm wahrscheinlich nicht gekommen. Und gerade das ist es, was wir jetzt ins Werk setzen werden.«

»Könnten wir nicht einen Haftbefehl erwirken und unser Vorgehen mit dem Gesetz in Einklang bringen?«

»Das dürfte auf meine schwer zu beweisenden Angaben hin kaum möglich sein.«

»Was versprichst du dir denn von dem Einbruch?«

»Wir können gar nicht wissen, was für einen wichtigen, aufschlußreichen Briefwechsel wir dort zum Beispiel finden können.«

»Die Sache gefällt mir nicht recht, Holmes.«

»Mein bester Watson, du sollst ja auch nur Schmiere stehen, das eigentliche kriminelle Handwerk mit Stemmeisen und Schraubenzieher besorge ich. Denke auch, bitte, an Mycrofts Brief, an die Admiralität, an das Kabinett, an die aufgeregte hochstehende Person, die auf Nachrichten von uns wartet. Es ist jetzt wirklich nicht an der Zeit, sich durch legale Zwirnsfäden aufhalten zu lassen. Wir müssen auf unser eigenes Risiko und unsere guten Gewissen hin handeln.«

Statt einer Antwort erhob ich mich.

»Du hast recht, Holmes«, sagte ich, »verzeihe mir meine kleinen Bedenklichkeiten, wo es sich um eine so große Sache handelt.«

»Ich wußte, du würdest nicht kneifen, wenn es darauf ankommt«, sagte er auf der Straße, und in seinen Augen sah ich etwas, das nur ganz selten dort zu sehen war: den Ausdruck eines herzlichen Gefühls. Im nächsten Augenblick aber war er schon wieder ganz der gewohnte, nur aus Intellekt und Energie bestehende Mensch.

»Es ist fast eine halbe Meile, aber wir haben Zeit genug und können zu Fuß gehen. Verliere mir ja nichts aus deinen Taschen! Wenn du als ein verdächtiges Individuum verhaftet würdest, so wäre das in diesem Augenblick geradezu verhängnisvoll – für mich.« –

Die Caulfield-Anlagen waren typisch für die Westend-Entwicklung Londons in den siebziger Jahren. Säulen, Karyatiden, Pfeiler, schwere Sandsteinfriese und dergleichen. Neben Nummer 13 schien eine Kindergesellschaft zu sein; man hörte viele helle Stimmen, Kreischen, Lachen und ein kindliches Geklimper auf einem Klavier. Nacht und Nebel schützten uns freundlich, wie schwere Vorhänge hing es um uns zu allen Seiten. Holmes hatte seine Blendlaterne angesteckt und beleuchtete die schwere Eingangstür.

»Das ist keine leichte Arbeit«, sagte er. »Nicht nur verschlossen, sondern auch von innen verriegelt, nehme ich an. Versuchens wir’s besser von der Hintertür. Hier ist ein ausgezeichneter Schlupf dort in dem Torbogen, für den Fall, daß ein übereifriger Schutzmann Interesse an uns nähme. Laß mich auf deine Hand treten, damit ich das Gitter oben fassen kann; ich ziehe dich dann nach.«

Eine Minute später standen wir beide im Hof. Kaum hatten wir das Gitter überklettert, als der regelmäßige Schritt eines Schutzmannes vernehmbar wurde. Er kam näher, ging vorüber, verhallte. Holmes nahm die Tür in Angriff. Ich sah ihn sich beugen, stemmen, und mit einem scharfen Krach brach sie auf. Holmes trat sofort ein, ich folgte; wir stiegen eine enge Treppe hinauf. Holmes‘ gelber Lichtkegel beleuchtete ein niedriges Fenster.

»Hier, Watson, das muß es sein.«

Er öffnete es, und im selben Augenblick vernahmen wir ein dumpfes, rollendes Geräusch, das näher kam und immer stärker wurde. Ein Zug rasselte vorüber. Holmes beleuchtete das Fenstergesims. Es war dick mit Ruß überzogen von den Lokomotiven, aber an einigen Stellen war der gleichförmige schwarze Belag zerkratzt und abgeschabt.

»Hier kannst du sehen, wo sie den Leichnam hinausgeschoben haben. Holla, Watson! Was ist das? Kein Zweifel, das sind Blutspuren.« Er wies auf dunkle Flecken am unteren Fensterrahmen. »Auch hier auf dem Gesims, Watson. Der Beweis ist erbracht, es stimmt alles. Nun wollen wir hier warten, bis ein Zug hält.«

Lange hatten wir nicht zu warten. Der übernächste Zug schon rasselte noch mit voller Fahrt aus dem Tunnel hervor, verlangsamte die Fahrt aber im Freien, und dann, mit Knirschen und Schleifen, hielt er unmittelbar unter uns. Es waren keine vier Fuß vom Fenstersimsen zum nächsten Wagendach. Leise schloß Holmes das Fenster.

»Soweit bestätigt sich alles. Was meinst du, Watson?«

»Einfach wundervoll! Ein Meisterstück, Holmes, du hast dich selber übertroffen.«

»Darin kann ich dir nicht beipflichten. Von dem Augenblick an, wo ich entschieden hatte, daß die Leiche auf dem Wagendach gelegen, war alles Folgende nur die logische Fortsetzung. Wären nicht so ungeheure Staatsinteressen mit dem Fall verknüpft, so wäre er bis zu seiner jetzigen Entwicklung unbedeutend. Die eigentlichen Schwierigkeiten liegen noch vor uns. Aber vielleicht finden wir hier etwas, das uns hilft.«

Wir waren die Hintertreppe hinaufgestiegen und betraten die Zimmer des ersten Stockes. Eines war ein Eßzimmer mit massiven Renaissancemöbeln; es bot nichts von Interesse. Das nächste war ein Schlafzimmer – ebenfalls eine Niete. Das dritte Zimmer dagegen versprach etwas, und mein Freund machte sich an eine methodische Untersuchung. Überall lagen Bücher und Papiere umher, es schien eine Art Studierzimmer. Rasch und mit System durchging Holmes den Inhalt einer Schublade nach der anderen, und eines Schrankfaches nach dem anderen. Aber kein Aufleuchten seiner Züge verriet, daß er etwas Wichtiges gefunden. Nach einer guten Stunde peinlichst genauer Arbeit war er noch genau so weit wie am Anfang.

»Der schlaue Fuchs hat alle Spuren hinter sich verwischt«, sagte er fast bewundernd. »Er hat nichts hinterlassen, das ihn verdächtigen könnte. Sein gefährlicher Briefwechsel, auf den ich gerechnet, ist entweder entfernt oder vernichtet worden. Das hier ist unsere letzte Hoffnung.«

Er wies auf eine kleine Kassette, die auf dem Schreibtische stand. Holmes zwängte den Deckel auf. Mehrere Rollen Papier, bedeckt mit Ziffern und Berechnungen, lagen darin, ohne jeden Hinweis, was sie zu bedeuten hatten. Nur die Worte »Wasserdruck« und »Druck auf den Quadratzoll« deuteten an, daß es sich um Unterseeboote handeln könne. Holmes warf alles unwillig beiseite. Am Boden fand sich noch ein Umschlag mit kleinen Zeitungsausschnitten. Er breitete sie auf der Tischplatte aus, und sofort sah ich an meines Freundes veränderten Zügen, daß ihn eine neue Hoffnung belebte.

»Was ist das, Watson? He, was ist das? Eine Reihe von Botschaften in Form von Zeitungsanzeigen. Daily Telegraph, Seufzerecke, nach allem zu urteilen. Rechte Ecke oben auf der Seite. Keine Daten, – aber solche Mitteilungen ordnen sich von selbst. Die da wird wohl die erste sein:

»Hoffte früher zu hören. Bedingungen einverstanden. Schreiben Sie an die Adresse auf der überreichten Karte. – Pierrot.«

Holmes griff nach einem zweiten Ausschnitt.

»Zu verwickelt für Beschreibung. Brauche Besseres. Entlohnung Zug um Zug. – Pierrot.«

Ein dritter lautete:

»Es wird dringend. Muß Angebot zurücknehmen, falls Vertrag unerfüllt bleibt. Verabredet Zusammenkunft schriftlich. Werde hier bestätigen. – Pierrot.«

Schließlich noch:

»Montag nacht neun Uhr. Zwei Schläge. Nur Sie selbst. Seien Sie nicht mißtrauisch. Bar Geld für gute Bedienung. – Pierrot.«

»Das ist vollständig genug, Watson. Wenn wir nur den Mann am anderen Ende der Geschichte schon hätten!« Er saß in Gedanken da und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Endlich sprang er auf.

»Nun, vielleicht ist es doch nicht so schwierig, wie es scheinen könnte. Hier haben wir nichts mehr zu tun, Watson. Ich denke, wir fahren zuerst einmal zur Expedition des Daily Telegraph und bringen so ein gutes Tagewerk zum guten Abschluß.«


Mycroft Holmes und Lestrade waren auf Holmes‘ Ersuchen am anderen Morgen in der Bakerstraße bei uns erschienen, und Sherlock Holmes hatte ihnen Bericht über die Ergebnisse des vergangenen Tages erstattet. Herr Lestrade, der Londoner Sicherheitsbeamte, schüttelte mißbilligend den Kopf, als er von unserem Einbruch hörte.

»Wir von der Polizei können uns so etwas nicht leisten, Herr Holmes«, sagte er. »Es ist daher kein Wunder, daß Sie Erfolge erzielen, die uns schon durch die Umstände verwehrt sind. Aber eines Tages gehen Sie einmal zu weit, und Sie und ihr Freund haben sich etwas Böses eingebrockt und müssen es auslöffeln.«

»Für Vaterland, Ehre, Schönheit – he, Watson, das wäre ein nettes Motto für unser Märtyrertum, was? Aber Scherz beiseite, wie denkst du über die Sache, Mycroft?«

»Ausgezeichnet, Sherlock, ganz wundervoll! Aber wie willst du nun weitergehen?«

Holmes nahm die Nummer des Daily Telegraph auf, die auf dem Tische lag.

»Hast du Pierrots Anzeige heute schon gesehen?«

»Was? Noch eine?«

»Ja, hier steht sie: Heute nacht. Selbe Stunde. Selber Ort. Zwei Schläge. Lebenswichtig für Sie. Ihre Sicherheit gebietet Zusammenkunft. – Pierrot.«

»Bei Gott«, rief Lestrade. »Wenn er daraufhin kommt, dann haben wir ihn!«

»Das war mein Gedanke, als ich die Anzeige aufgab. Ich glaube, wenn Sie es ermöglichen können, mit uns gegen acht Uhr zu Obersteins Wohnung zu kommen, daß Sie dann die Lösung des letzten Rätsels sich vollziehen sehen.«


Eine der bemerkenswertesten Eigenschaften meines Freundes war seine Fähigkeit, seine Gedanken von einer Aufgabe völlig zurückzuziehen, sein Hirn sozusagen umzuschalten und es mit Kleinigkeiten zu beschäftigen, sobald er die Einsicht gewonnen hatte, daß ein längeres Verweilen bei dem Hauptgegenstand nutzlos sei. Ich entsinne mich, daß er den ganzen langen Tag über einer Monographie zubrachte, die er über gewisse Motetten Lassus geschrieben hatte. Ich für meinen Teil besaß nichts von dieser Kunst, Gedanken aus- und umzuschalten, und der Tag erschien mir daher unerträglich lang. Die schwerwiegenden nationalen Interessen, die Ungeduld, den Hochverräter zu erblicken, alles zog und zerrte an meinen Nerven. Es war wie eine Befreiung für mich, als wir nach einem leichten Abendessen uns endlich auf den Weg machten. Da Mycroft Holmes es mit Entrüstung ablehnte, über das Hofgitter zu steigen, so mußte ich voraus, von hinten durch das Haus und die Vordertür öffnen. Um neun Uhr saßen wir alle in dem Studierzimmer und lauerten auf unser Opfer.

Eine Stunde verrann, und nochmals eine. Als es elf Uhr schlug, schien die große Kirchenglocke unsere Hoffnung zu Grabe zu läuten. Lestrade und Mycroft rutschten unruhevoll auf ihren Sitzen hin und her und schauten fast jede Minute nach der Uhr. Holmes saß still und reglos da, die Augen halb geschlossen, aber mit allen Sinnen wach. Mit einer ruckartigen Bewegung hob er plötzlich den Kopf.

»Er kommt«, sagte er leise.

Ein verstohlener Schritt ging an der Haustür vorüber. Nun kam er zurück. Wir hörten zwei laute Schläge mit dem Türklopfer. Holmes stand auf und machte uns ein Zeichen, sitzen zu bleiben. Die Gasflamme im Flur war heruntergedreht und brannte fast nur wie ein Pünktchen. Er öffnete die Haustür, ließ den Fremden eintreten und schloß die Tür hinter ihm wieder ab. »Hier, bitte«, hörten wir ihn sagen, und einen Augenblick später stand der Mann vor uns. Holmes war ihm dicht nachgefolgt, und als der andere mit einem Schrei des Staunens und Schreckens Kehrt machte, faßte Holmes ihn am Kragen und stieß ihn wieder in das Zimmer hinein. Noch ehe unser Gefangener sein Gleichgewicht wieder hatte, hatte Holmes auch diese Tür abgeschlossen. Jetzt stand er mit dem Rücken vor ihr. Der Fremde sah verwirrt um sich, wankte und fiel bewußtlos zu Boden. Sein breitrandiger Hut, den er aufbehalten hatte, fiel ihm bei dem Falle vom Kopf, seine Krawatte rutschte ihm von den Lippen herunter, und da wurden die hübschen Gesichtszüge des Oberst Valentine Walter sichtbar.

Holmes pfiff durch die Zähne vor Erstaunen.

»Watson, diesmal kannst du mich in deiner Geschichte als einen Esel darstellen«, sagte er. »Das ist nicht der Vogel, den ich erwartet hatte.«

»Wer ist es?« fragte Mycroft gespannt.

»Der jüngere Bruder des verstorbenen Sir James Walter, des Vorstehers der Unterseebootabteilung. Ja, ja, nun ist mir alles klar. Da, er kommt zu sich! Am besten beginne ich gleich mit dem Verhör.«

Wir hatten die leblose Gestalt auf das Sofa gelegt. Jetzt setzte unser Gefangener sich müde in eine Ecke, sah sich mit schreckerfüllten Augen um und strich sich mit der Hand über die Stirn, wie jemand, der seinen Augen nicht traut.

»Was ist das?« fragte er. »Ich bin hergekommen, um einen Herrn Oberstein zu besuchen.«

»Wir wissen alles, Herr Oberst Walter«, sagte Holmes. »Wie ein englischer Gentleman solch eine Handlung begehen konnte, ist mir nicht verständlich. Aber Ihre Beziehungen zu Oberstein sind uns bekannt – und auch die Art dieser Beziehungen. Ebenso wissen wir die näheren Umstände, die Cadogan Wests Tod herbeigeführt haben. Ich gebe Ihnen den guten Rat, durch ein offenes Geständnis Ihre Seele zu erleichtern und Ihr großes Unrecht nicht durch das Gegenteil zu vergrößern. Einige Einzelheiten können wir nur aus Ihrem Munde erfahren.«

Der Oberst stöhnte und vergrub sein Gesicht in seine Hände. Wir warteten, aber er blieb stumm.

»Ich kann Sie versichern«, sagte endlich Holmes, »daß alles Wichtige uns bereits bekannt ist. Wir wissen, daß Sie dringend Geld nötig hatten, daß Sie einen Abdruck von den Schlüsseln nahmen, die Ihr Bruder in Verwahrung hatte, und daß Sie in Beziehungen zu Oberstein traten, der Ihre Briefe mit Anzeigen im Daily Telegraph beantwortete. Es ist uns bekannt, daß Sie am Montagabend im Nebel zu dem Büro gingen, und daß Cadogan West Sie sah und er Ihnen nachfolgte, weil er vermutlich schon von früher her Ursache hatte, Ihnen zu mißtrauen. Er sah Sie die Pläne entwenden, konnte aber keinen Alarm schlagen, weil es immerhin möglich schien, daß Sie die Zeichnungen im Auftrag ihres Bruders in London herausnahmen. Unter Hintansetzung aller persönlichen Interessen folgte West Ihnen nach und blieb Ihnen in dem Nebel auf den Fersen, bis zu diesem Hause hier. Da suchte er Ihr Verbrechen noch zu verhindern, aber Sie fügten zu dem des Hochverrats noch das schrecklichere des Mordes.«

»Nein, nein, das habe ich nicht getan! Ich schwöre es vor Gott, das habe ich nicht getan!« schrie der Elende.

»Dann enthüllen Sie uns doch, wie Cadogan West seinen Tod fand, ehe Sie ihn auf das Dach eines Untergrundbahnwagens legten!«

»Das will ich Ihnen sagen. Ich schwöre Ihnen, ich sage Ihnen die lautere Wahrheit. Alles andere habe ich getan, wie Sie es sagten, das gestehe ich. Ich hatte Börsenschulden zu bezahlen; sie waren dringend, ich brauchte das Geld so bitter notwendig. Oberstein bot mir fünftausend Pfund; die konnten mich vor dem Untergang retten. Aber was den Mord betrifft, an dem bin ich genau so unschuldig wie Sie!«

»Das sollen Sie uns beweisen! Bitte, fahren Sie fort.«

»West mißtraute mir und ist mir nachgefolgt, wie Sie es gesagt haben. Ich merkte das nicht früher, als bis ich hier unten vor der Tür stand. Es war ein dicker Nebel, und man konnte kaum einige Schritte weit sehen. Ich hatte zweimal geklopft, und Oberstein kam, die Tür aufzuschließen. Der junge Mann drang mit mir ins Haus und verlangte zu wissen, was wir mit den Plänen beabsichtigten. Oberstein hatte einen kurzen Totschläger; den hatte er stets bei sich. Als West neben mir stand und seine Frage stellte, schlug Oberstein ihn nieder. Es war ein verhängnisvoller Schlag, denn in wenigen Minuten war West tot. Da lag er nun vor uns, und wir wußten nicht, was wir mit ihm tun sollten. Da kam Oberstein auf den Gedanken, ihn auf das Dach eines Wagens zu legen, denn die Untergrundbahnzüge hielten gerade unter dem Fenster auf der Rückseite des Hauses. Zuerst prüfte er die Zeichnungen, die ich mitgebracht hatte. Drei davon hielt er für besonders wichtig, und die wollte er behalten. ›Sie können Sie nicht behalten‹, sagte ich. ›Es wird einen fürchterlichen Aufruhr in Woolwich geben, wenn man sie vermißt‹ – ›Ich muß sie trotzdem behalten‹, sagte er, ›denn sie sind technisch so kompliziert, daß ich sie nicht kopieren kann; jedenfalls nicht bis morgen früh.‹ – ›Dann muß ich alle Pläne heute nacht wieder zurückbringen‹, erwiderte ich. Er dachte eine Weile nach und rief dann auf einmal erfreut, er hätte einen glücklichen Gedanken. ›Die übrigen sieben stecken wir dem Toten in die Taschen‹, rief er. ›Wenn man die Leiche mit den Zeichnungen findet, dann wird man die ganze Geschichte diesem Beamten in die Schuhe schieben.‹ Ich wußte mir keinen anderen Ausweg, und so schritten wir zur Ausführung seines Gedankens. Eine halbe Stunde hatten wir zu warten, bis ein Zug hielt. Es war ein so dichter Nebel, daß wir ohne Gefahr den Leichnam aus dem Fenster auf ein Wagendach legen konnten. Soweit es mich betrifft, war die Sache damit erledigt.«

»Und Ihr Bruder?«

»Er sagte nichts; aber er hatte mich einmal überrascht, wie ich seine Schlüssel in der Hand hielt, und ich glaube, er faßte damals einen Verdacht. Ich konnte es in seinen Augen lesen. Sie wissen, daß er es nicht hat überleben können.«

Eine drückende, peinliche Stille trat ein. Mycroft Holmes unterbrach sie.

»Können Sie den Schaden nicht wieder gutmachen? Das würde Ihr Gewissen erleichtern und Ihre Strafe mildern.«

»Wie könnte ich den Schaden wieder gutmachen?«

»Wo ist Oberstein mit den Plänen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hat er Ihnen keine Adresse angegeben?«

»Er sagte, Briefe würden ihn wahrscheinlich in Paris, Hotel du Louvre, erreichen.«

»Dann steht es noch in Ihrer Macht, alles wieder gut zu machen«, sagte Sherlock Holmes.

»Ich werde gern alles tun, was ich kann. Ich brauche den Oberstein nicht zu schonen. Er ist die Ursache meiner Erniedrigung und meines Unterganges.«

»Hier sind Feder und Papier. Setzen Sie sich da an den Schreibtisch und schreiben Sie, was ich diktiere. Den Umschlag adressieren Sie an das Hotel du Louvre. So! Und nun den Brief: ›Sehr geehrter Herr! In bezug auf das kürzlich mit Ihnen abgeschlossene Geschäft werden Sie wohl selber schon bemerkt haben, daß eine sehr wichtige Zeichnung fehlt. Ich habe eine Kopie derselben. Ich habe mich müssen in besondere Unkosten deswegen stürzen und muß Sie daher um einen Betrag von fünfhundert Pfund bitten. Der Postweg ist ausgeschlossen, ich nehme nur Gold oder Banknoten von Hand zu Hand. Ich würde zu Ihnen kommen, aber es würde sehr auffallen, wenn ich im gegenwärtigen Augenblick verreiste. Ich schlage Ihnen daher eine Zusammenkunft im Rauchsalon des Hotels Charing Croß für Samstag mittag vor. Beachten Sie bitte, daß nur Gold oder englische Banknoten in Betracht kommen.‹ – Das wird seinen Zweck erfüllen. Es müßte sonderbar zugehen, wenn wir damit unseren Mann nicht fingen.«

Und wir fingen ihn. Es ist eine geschichtliche Tatsache – aus der geheimen Geschichte einer Nation, die oft so viel fesselnder und lehrreicher ist als die offizielle Geschichte – daß Oberstein in seiner Begierde, den größten Coup seines Lebens vollständig zu machen, auf den Köder ging und für fünfzehn Jahre in einem englischen Gefängnis verschwand. In seinem Koffer wurden die unersetzlichen Pläne gefunden, die er, um den höchsten Preis zu erzielen, bei allen Flottengroßmächten zugleich zum Kauf angeboten hatte.

Oberst Walter starb nach zwei Jahren im Gefängnis. Und Sherlock Holmes kehrte erfrischt zu seinen Motetten des Lassus zurück. Seine Monographie ist seitdem als Privatdruck erschienen, und die Fachleute sagen, es sei das abschließende Werk über den behandelten Stoff. Einige Wochen später hörte ich zufällig, daß Holmes einen Tag auf Schloß Windsor verbrachte und von dort mit einer wundervollen Smaragdnadel in seiner Krawatte zurückkehrte. Als ich ihn fragte, ob er sie gekauft hätte, antwortete er mir, es sei ein Geschenk von einer hochstehenden alten Dame, in deren Interesse er einen gewissen Kriminalfall aufgeklärt hätte.

Mehr sagte er nicht.

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