Der goldene Klemmer.

Wenn ich die drei dicken Bände Manuskript vor mir sehe, welche die Aufzeichnungen über unsere Erlebnisse im Jahre 1894 enthalten, dann muß ich gestehen, daß es mir wirklich schwer fällt, aus dieser Fülle von Stoff gerade die Fälle herauszuziehen, die an sich am interessantesten sind, und bei denen zugleich diejenigen Fähigkeiten meines Freundes Sherlock Holmes am deutlichsten hervortreten, derentwegen er weithin bekannt ist. Beim Durchblättern sehe ich meine Notizen über die abstoßende Geschichte des roten Tierarztes und den schrecklichen Tod des Bankiers Crosby. Weiter finde ich einen Bericht über die Tragödie von Addleton; auch die berüchtigte Smith-Mortimersche Erbschaftsangelegenheit fällt in diese Periode, und ebenso die Aufspürung und Verhaftung des Straßenmörders Hurot – eine Tat, die Holmes einen eigenhändigen Dankesbrief des französischen Präsidenten und den Orden der Ehrenlegion einbrachte. Jeder dieser Fälle würde das Material zu einer spannenden Erzählung liefern, aber im großen und ganzen bin ich doch der Ueberzeugung, daß keiner so viele eigenartige und interessante Punkte bietet, wie die Episode von Yoxley Place, die nicht nur das beklagenswerte Ende des jungen William Smith in sich schließt, sondern auch die nachfolgenden Verwickelungen beleuchtet, die ein so merkwürdiges Licht auf die Ursachen dieses Verbrechens warfen.

Es war an einem rauhen, stürmischen Abend gegen Schluß des Monats November. Holmes und ich saßen schweigend in unserem Zimmer nebeneinander. Er war damit beschäftigt, mit Hilfe einer starken Lupe die Schrift auf einem alten Pergament zu entziffern, und ich hatte mich in eine medizinische Abhandlung vertieft. Draußen heulte der Wind, und der Regen klatschte gegen die Fensterscheiben. Es war ein sonderbares Gefühl, wenn man mitten in der gewaltigen Stadt, im Umkreis von zehn Meilen von menschlichen Wohnungen umgeben, die elementare Gewalt der Natur verspürte, und sich bewußt wurde, daß den furchtbaren Naturkräften ganz London weiter nichts war als ein winziger Hügel, wie ihn draußen auf dem Feld ein Maulwurf aufwirft. Ich ging ans Fenster und blickte hinunter auf die menschenleere Straße. Von der Ecke der Oxfordstraße kam eine einzelne Droschke durch den Schmutz und die Pfützen der Bakerstraße gefahren.

»Nun, Watson, heute nacht ist’s gut, daß wir nicht ’naus brauchen,« sagte Holmes, als er sein Vergrößerungsglas beiseite legte und das Pergament zusammenrollte. »Ich habe für eine Sitzung genug getan. Es ist eine anstrengende Arbeit für die Augen. Es gibt kaum was Aufregenderes als den Bericht eines Abtes aus der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. Hallo! Was ist da los?«

Durch das Pfeifen des Windes drang der Aufschlag eines Pferdes und das knirschende Geräusch eines Wagenrades an unser Ohr, das gegen die Kante des Fußsteigs fuhr. Die Droschke, die ich gesehen hatte, machte vor unserer Türe Halt.

»Was mag er wollen?« rief ich aus, als ich einen Mann aussteigen sah.

»Was! Uns will er. Und wir, mein armer Watson, wollen unsere Ueberzieher, Halsbinden und sonstigen Schutzmittel hervorsuchen, die der menschliche Geist gegen die Unbilden der Witterung erfunden hat. Wart noch ’n Moment! Das Vehikel ist wieder weg! Noch ist Hoffnung vorhanden. Er würde es haben warten lassen, wenn er uns mit haben wollte. Lauf‘ hinunter, mein Lieber, und mach‘ die Haustür auf, denn alle ehrsamen Bürger liegen längst im Bett.«

Als das Licht unserer Hausflurlampe auf unseren mitternächtigen Besucher fiel, erkannte ich ihn gleich wieder. Es war der junge Stanley Hopkins, ein vielversprechender Beamter der Geheimpolizei, an dessen Laufbahn Holmes verschiedentlich ein lebhaftes Interesse genommen hatte.

»Ist er zu Hause?« fragte er hastig.

»Kommen Sie nur ‚rauf, mein Lieber,« rief ihm Holmes von oben zu. »Hoffentlich haben Sie keine bösen Absichten auf uns in einer solchen Nacht wie der heutigen.«

Der Detektiv stieg die Treppe hinauf, während von seinem glänzenden Wassermantel die Tropfen herunterliefen. Ich half ihm ihn ausziehen, und Holmes entfachte das Feuer in unserem Ofen zu neuer Glut.

»Nun, mein lieber Hopkins, setzen Sie sich an den Ofen und wärmen Sie sich die Beine,« sagte er dann. »Hier haben Sie eine Zigarre, und Dr. Watson hat ein Rezept, heißes Wasser mit Zitronensaft, das ist eine ausgezeichnete Arzenei in einer solchen Nacht. Es muß schon etwas Wichtiges sein, was Sie bei solchem Wetter hierher führt.«

»Das ist es tatsächlich auch, Herr Holmes. Ich habe schon einen anstrengenden Nachmittag hinter mir, das kann ich Ihnen versichern. Haben Sie in den letzten Abendzeitungen etwas von dem Fall in Yoxley gelesen?«

»Das Neueste, was ich heute gelesen habe, ist ein Bericht aus dem fünfzehnten Jahrhundert.«

»Es war nur eine kurze Notiz in den Zeitungen, und da sie auch noch vollkommen falsch war, so haben Sie nichts eingebüßt. Ich bin keine Minute zur Ruhe gekommen. Es liegt unten in Kent, sieben Meilen von Chatham und drei von der Eisenbahn. Ich bekam um drei Uhr fünfzehn ein Telegramm, war um fünf Uhr in Yoxley Place, nahm die Untersuchung vor, fuhr mit dem letzten Zug nach Charing Croß und direkt in einer Droschke zu Ihnen.«

»Was vermutlich bedeutet, daß Sie über Ihren Fall nicht ganz im klaren sind?«

»Es bedeutet, daß ich überhaupt nicht klug daraus werde. So weit ich bis jetzt sehen kann, ist es die verzwickteste Sache, die mir je vorgekommen ist; und doch schien sie anfangs so einfach, daß man glaubte, man könne gar nicht fehl gehen. Es fehlt jeder Beweggrund, Herr Holmes. Das macht mich stutzig – ich sehe keinerlei Motiv. Es ist ein Mann getötet – das läßt sich nicht wegleugnen – aber es läßt sich auch nicht ‚mal der leiseste Grund dafür finden, daß ihm jemand das geringste Leid hätte antun sollen.«

Holmes zündete sich eine Zigarre an und lehnte sich in seinem Stuhle zurück.

»Lassen Sie uns Näheres hören,« sagte er.

»Die Tatsachen sind alle wunderschön klar,« begann Hopkins. »Ich kann sie mir nur nicht erklären. Die Sache verhält sich folgendermaßen. Vor mehreren Jahren ist das Landhaus Yoxley Place von einem älteren Herrn erworben worden, welcher sich Professor Coram nannte. Es war ein kränklicher Mann, der die Hälfte seines Lebens im Bett zubrachte, und während der anderen an einem Stock umherhumpelte, oder sich von seinem Gärtner in einem Stuhl auf seinem Besitztum herumfahren ließ. Er war von seinen wenigen Nachbarn, die ihn besuchten, wohl gelitten, und stand dort unten im Ruf eines sehr gelehrten Mannes. Sein Haushalt bestand für gewöhnlich aus einer ältlichen Wirtschafterin, Fräulein Marker, und aus dem Zimmermädchen Susan Tarlton. Diese beiden Dienstboten hat er schon mitgebracht, und sie scheinen beide einen vorzüglichen Charakter zu haben. Der Professor schreibt ein wissenschaftliches Buch und hat zu diesem Zweck vor ungefähr einem Jahr einen Sekretär engagiert. Die ersten beiden, die er angenommen hatte, waren nicht nach seinem Sinn, aber der dritte, Herr William Smith, ein junger Mann, der gerade von der Universität kam, scheint den Wünschen des Professors voll und ganz entsprochen zu haben. Seine Tätigkeit bestand darin, daß er alle Vormittag nach seines Herrn Diktat schrieb, während er in der übrigen Zeit in Büchern Stellen suchte, die sich auf die Arbeit des nächsten Tages bezogen. Dieser William Smith hat sich sowohl als Schüler in Uppingham, wie als Student in Cambridge ausgezeichnet geführt. Ich habe seine Zeugnisse gesehen, er ist von Jugend auf ein anständiger, ruhiger, fleißiger Mensch gewesen und hat keine einzige schwache Seite gehabt. Und doch hat dieser junge Herr heute morgen im Arbeitszimmer des Professors unter solchen Umständen den Tod gefunden, daß man nur auf Mord schließen kann.«

An den Fenstern heulte und rüttelte der Sturm. Holmes und ich schoben unsere Stühle näher an den Kamin, während der junge Inspektor langsam und Schritt für Schritt seine Erzählung weiter spann.

»Ich glaube, in ganz England könnte man keine zweite Haushaltung finden, die so zurückgezogen und frei von äußeren Einflüssen wäre. Es vergingen ganze Wochen, ohne daß irgend ein Glied dieser Familie auch nur die Straße betrat. Der Professor war in seine Bücher vergraben und existierte für nichts sonst. Der junge Smith kannte keinen Menschen in der Nachbarschaft und lebte fast ebenso wie sein Chef. Die beiden Mädchen hatten ebenfalls nichts außer dem Hause zu tun. Mortimer, der Gärtner, der den Fahrstuhl fährt, ist ein alter Militärinvalide aus dem Krimkrieg, ein Mann von ausgezeichnetem Charakter. Er wohnt nicht im Herrschaftshaus, sondern in einem kleinen Häuschen von drei Zimmern an der anderen Seite des Grundstücks. Das sind die einzigen menschlichen Wesen weit und breit im Umkreis von Yoxley Place. Das Gartentor ist nur etwa hundert Meter von der London-Chathamer Chaussee entfernt. Es hat eine einfache Klinke, sodaß jedermann ungehindert eintreten kann.

»Nun will ich Ihnen die Aussage der Susan Tarlton mitteilen, der einzigen Person, die etwas Positives über die Sache weiß. Es war vormittags zwischen elf und zwölf Uhr. Sie hing gerade in einer Kammer die Halsschlagader war getroffen. Das Werkzeug, womit die Tat ausgeführt worden war, lag neben ihm auf dem Teppich. Es war eines jener kleinen Siegellackmesser, wie man sie auf altmodischen Schreibtischen noch zuweilen findet, mit einem Elfenbeingriff und einer steifen Klinge ohne Feder. Es war Eigentum des Professors und gehörte auf seinen eigenen Schreibtisch.

»Erst glaubte das Mädchen, der junge Smith wäre schon tot, als sie ihm aber etwas Wasser auf die Stirne goß, schlug er noch einen Moment die Augen auf und murmelte: ›Professor – sie war’s!‹ Das Mädchen ist bereit, zu beschwören, daß er genau diese Worte ausgesprochen hat. Er machte noch verzweifelte Anstrengungen, mehr zu sagen, und deutete mit der rechten Hand in die Höhe. Dann sank er tot zurück.

»Inzwischen war auch die Wirtschafterin auf dem Schauplatz der Tat erschienen, aber zu spät, um noch die letzten Worte des sterbenden jungen Mannes hören zu können. Sie ließ Susan mit der Leiche allein und eilte durch den Korridor über eine kleine Treppe in das im Erdgeschoß, etwas erhöht liegende Schlafzimmer des Professors. Er saß aufrecht im Bett und war schrecklich aufgeregt, denn er hatte genug gehört, um zu ahnen, daß etwas Furchtbares vorgefallen sein mußte. Fräulein Marker ist in der Lage, zu beeidigen, daß der Professor noch die Nachtkleider anhatte, und er konnte sich ja auch tatsächlich ohne die Hilfe des Gärtners nicht anziehen; Mortimer war aber erst auf zwölf Uhr bestellt. Der Professor selbst erklärt, den fernen Schrei gehört zu haben, aber weiter nichts zu wissen. Er kann die Worte des Sterbenden: ›Professor – sie war’s‹ nicht deuten, er hält sie vielmehr für die Aeußerung einer Geistesverwirrung vor dem Tode. Er meint auch, daß Smith keinen einzigen Feind gehabt habe, und kann keinen mutmaßlichen Grund zu dem Verbrechen angeben. Er entsandte zuerst den Gärtner Mortimer zur Ortspolizei, deren Vorsteher dann an mich depeschierte. Vor meiner Ankunft war nichts angerührt worden und sogar strenger Befehl erteilt, daß niemand die Wege, die nach dem Haus zu führten, betreten sollte. Es bot sich also eine feine Gelegenheit, Ihre Theorien, Herr Holmes, in die Praxis zu übertragen. Es fehlte wirklich keine Bedingung mehr dazu.«

»Außer Herrn Sherlock Holmes,« warf mein Freund bitter lächelnd ein. »Nun lassen Sie uns weiter hören. Was haben Sie denn also zunächst getan?«

»Ich muß Sie zuerst bitten, Herr Holmes, einen Blick auf diese flüchtige Skizze zu werfen, die Ihnen ein allgemeines Bild von der Oertlichkeit geben wird. Sie werden dadurch meiner Schilderung leichter folgen können.«

Er breitete folgenden oberflächlichen Riß aus und legte ihn auf Holmes‘ Knie. Ich stand auf und stellte mich hinter meinen Freund und sah ihm über die Schulter.

»Er ist ganz roh natürlich und enthält nur die wesentlichsten Punkte. Das übrige werden Sie später ja selbst sehen. Nun, zu allererst, wenn wir den Fall setzen, daß der Mörder von außen gekommen ist, wie ist er oder sie ins Haus gelangt? Noch zweifellos auf dem Gartenweg und durch die hintere Türe, von der ein Gang direkt ins Studierzimmer führt. Jeder andere Weg würde sehr verzwickt und daher gefährlich gewesen sein. Zur Flucht muß der Verbrecher den gleichen Weg benutzt haben, denn die beiden anderen Ausgänge waren ihm versperrt, der eine von Susan, als sie die Treppe herunter lief, und der andere mündet in das Schlafzimmer des Professors. Ich richtete daher mein Augenmerk sofort auf den Gartenpfad. Da frischer Regen gefallen war, würde er sicher irgendwelche Fußspuren aufweisen.

»Die Untersuchung zeigte mir, daß ich’s mit einem vorsichtigen und erfahrenen Verbrecher zu tun hatte. Der Kiesweg zeigte keinerlei Fußstapfen, aber ohne Zweifel war jemand auf dem Rasenstreifen längs des Pfades hingegangen und hatte auf diese Weise Fußabdrücke vermeiden wollen. Ich konnte keinen bestimmten Eindruck finden, es hatte eben nur jemand das Gras niedergetreten; soviel stand für mich fest. Es konnte nur der Mörder gewesen sein, weil weder der Gärtner noch sonst jemand an diesem Vormittag dort gewesen war, und der Regen erst während der Nacht begonnen hatte.«

»Einen Moment,« sagte Holmes. »Wohin geht dieser Pfad?«

»Auf die Landstraße.«

»Wie lang ist er?«

»Gegen hundert Meter.«

»An der Stelle, wo die Gartentüre ist, konnten Sie aber doch gewiß Fußabdrücke finden?«

»Da ist der Pfad unglücklicherweise gerade gepflastert.«

»Nun, und auf der Straße selbst?«

»Auch nicht; dort war alles vertrampelt.«

»Babab! Wo wiesen denn nun die Rasenspuren aber hin, nach dem Hause zu oder von ihm weg?«

»Was konnte man unmöglich erkennen. Es war nirgends ein richtiger Umriß da.«

»War’s ein großer Fuß oder ein kleiner?«

»Das konnte man auch nicht unterscheiden.«

Holmes stieß eine Aeußerung des Unwillens aus.

»Es hat unterdessen furchtbar geregnet und ein orkanartiger Sturm geweht,« sagte er. »Es wird sich jetzt schwerer dort etwas herausholen lassen als aus diesem Pergament hier. Aber das alles kann nun nichts helfen. Was haben Sie dann getan, Hopkins, nachdem Sie sich klar gemacht hatten, daß Sie nichts klar gemacht hatten?«

»Ich denke doch, mancherlei klar gemacht zu haben, Herr Holmes. Ich wußte, daß jemand vorsichtig von außen ins Haus getreten war. Ich untersuchte also zunächst den Hausflur. Er ist mit Kokosmatten belegt und wies keinerlei Spuren auf. Von da aus gelangte ich in das Studierzimmer selbst. Es ist ziemlich dürftig möbliert. Den Hauptteil der Einrichtung bildet ein großer Schreibtisch mit einem festen Aufsatz. Dieser besteht aus einer doppelten Reihe Schubkasten an den Seiten und einem schmalen Schränkchen in der Mitte, Dieses Schränkchen war verschlossen, die Schubfächer dagegen nicht. Dieselben scheinen stets offen zu sein und enthielten auch nichts von besonderem Wert. In dem Schränkchen dagegen lagen wichtige Papiere, aber nichts deutete darauf hin, daß es geöffnet gewesen war, und der Professor versicherte mir auch, daß nichts fehlte. Daraus geht mit Bestimmtheit hervor, daß kein Raubmord vorliegt.

»Ich komme nun auf die Leiche des jungen Mannes zu sprechen. Sie wurde in der Nähe des Schreibtisches gefunden, und zwar links davon, wie auf der Skizze zu sehen ist. Der Stich war rechts am Hals und ging von hinten nach vorn, sodaß Selbstmord so gut wie ausgeschlossen ist.«

»Wenn er nicht in das Messer gefallen ist,« bemerkte Holmes.

»Jawohl. Dieser Gedanke kam mir auch. Aber das Messer lag ein paar Fuß von der Leiche entfernt, so daß diese Annahme auch unmöglich erscheint. Dazu kommen noch die eigenen Worte des Sterbenden in Betracht. Und endlich fand ich noch dieses äußerst wichtige Beweisstück, das der Tote in der rechten Hand gehabt hatte.«

Hopkins zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche. Er wickelte es auf und brachte einen goldenen Klemmer zum Vorschein mit einer zerrissenen schwarzen Seidenschnur daran. »Der Sekretär selbst hatte sehr gute Augen,« fügte er hinzu. »Ohne Frage hat er das seinem Mörder abgenommen.«

Holmes nahm das Glas in seine Hand und prüfte es mit höchster Aufmerksamkeit und lebhaftem Interesse. Er setzte den Kneifer auf und bemühte sich zu lesen, er ging damit ans Fenster und sah auf die Straße, er betrachtete ihn im vollen Lampenlicht und setzte sich schließlich an den Tisch und schrieb einige Zeilen auf ein Blatt Papier, das er dann dem Inspektor Hopkins reichte.

»Das ist das beste, was ich Ihnen raten kann,« sagte er. »Es wird Ihnen vielleicht von einigem Nutzen sein.«

Der erstaunte Detektiv las die Notiz vor. Sie hatte folgenden Inhalt: –

»Gesucht wird eine Frauensperson, die gutes Benehmen hat und wie eine Dame gekleidet ist. Sie hat eine auffallend dicke Nase und eng aneinander liegende Augen. Die Stirn ist runzelig, der Gesichtsausdruck stechend, und die Schultern sind wahrscheinlich gekrümmt. Es sind Anzeichen vorhanden, daß sie in den letzten Paar Monaten zweimal bei einem Optiker gewesen ist. Da sie sehr starke Gläser trägt, und es nicht viele Optiker gibt, dürfte es nicht schwer sein, ihr auf die Spur zu kommen.«

Holmes lächelte über das Erstaunen von Hopkins, das sich wohl auch auf mich übertragen haben mußte.

»Meine Schlüsse sind doch so klar, wie nur was,« sagte er. »Ich kann mir kaum einen Gegenstand vorstellen, aus dem man leichter folgern kann als aus einer Brille, zumal, wenn sie von so besonderer Art ist wie diese. Daß der Klemmer einer Dame gehört, geht aus seiner feinen Beschaffenheit hervor, und natürlich auch aus den letzten Worten des sterbenden Sekretärs. Daß sie eine Frau von guten Manieren und gut gekleidet ist, schließe ich daraus, daß die Gläser eine starke goldene Einfassung haben, denn es ist kaum anzunehmen, daß jemand, der darauf Wert legt, sonst nachlässig ist. Sie werden finden, daß die Bügel für Ihre Nase zu weit auseinander stehen, woraus zu entnehmen ist, daß ihre Nase an der Basis sehr breit ist. Derartige Nasen sind gewöhnlich kurz und unfein, es gibt dabei aber Ausnahmen, sodaß ich mich nicht auf diesen Punkt in meiner Beschreibung besonders versteifen will. Ich selbst habe ein schmales Gesicht, und doch stehen die Gläser für mich zu eng. Die Augen der Dame müssen also sehr nahe aneinander stehen. Du kannst dich überzeugen, Watson, daß es konkave und außergewöhnlich starke Gläser sind. Ein Weib, das Zeit seines Lebens so kurzsichtig gewesen ist, muß sicher die körperlichen Merkmale dieses Fehlers haben, die sich auf der Stirn, den Augenlidern und in der Schulterhaltung ausprägen.«

»Jawohl,« sagte ich, »ich kann allen deinen Schlüssen wohl folgen. Ich muß aber eingestehen, daß ich nicht begreife, wie du zu dem doppelten Besuch beim Optiker kommst.«

Holmes nahm den Klemmer wieder in die Hand.

»Wie du bemerken wirst,« erläuterte er, »sind die Bügel mit dünnen Korkstreifchen gefüttert, um den Druck auf die Nase abzuschwächen. Das eine ist mißfarbig und etwas verfettet, dagegen ist das andere noch neu. Offenbar ist eins abgegangen und ersetzt worden. Soviel ich es beurteilen kann, ist auch das ältere erst vor wenigen Monaten aufgelegt worden. Sie passen genau zueinander, woraus ich entnehme, daß die Dame wieder in demselben Geschäft die Reparatur hat machen lassen.«

»Bei Gott, es ist wunderbar!« rief Hopkins in höchster Begeisterung. »Wenn ich bedenke, daß ich all‘ diese Beweise in der Hand gehabt habe, ohne eine Ahnung davon zu haben! Immerhin hatte ich die Absicht, bei den Londoner Optikern die Runde zu machen.«

»Natürlich würden Sie das getan haben. Uebrigens, haben Sie uns noch etwas über den Fall zu erzählen?«

»Weiter nichts, Herr Holmes. Ich glaube, Sie wissen jetzt so viel wie ich – wahrscheinlich noch mehr. Wir haben noch nachgeforscht, ob irgend eine fremde Person auf der Landstraße oder am Bahnhof gesehen worden ist. Wir haben jedoch von keiner gehört. Was mich bekümmert, ist eben der vollkommene Mangel irgend einer ersichtlichen Veranlassung zu dem Verbrechen. Auch keinen Schimmer eines Motivs kann man angeben.«

»In dieser Beziehung kann ich Ihnen leider auch nicht helfen. Aber ich vermute, daß wir morgen mit Ihnen hinausfahren sollen?«

»Wenn meine Bitte nicht zu unbescheiden ist, Herr Holmes. Von Charing Croß geht um sechs Uhr früh ein Zug nach Chatham, mit dem wir zwischen acht und neun in Yoxley Place eintreffen würden.«

»Dann wollen wir diesen benutzen. Ihr Fall hat gewiß einige sehr interessante Punkte, und ich werde mit Freuden einen tieferen Einblick in die Angelegenheit tun. Nun, es ist gleich eins, und wir können ein paar Stunden Schlaf vertragen. Sie können sich’s auf dem Sofa vor dem Kamin bequem machen. Ich werde Ihnen auf meinem Spirituskocher vor dem Aufbruch eine Tasse Kaffee machen.«

*

Der Sturm hatte sich am nächsten Morgen gelegt, aber es war sehr rauh, als wir unsere Tour antraten. Ueber den düsteren Morästen der Themse ging die kalte Wintersonne auf, und wir sahen wieder die langen eintönigen Kanäle, bei deren Anblick ich stets unwillkürlich an unsere Verfolgung des Andamaniers in früheren Zeiten unserer Tätigkeit denken muß. [Fußnote] Nach einer beschwerlichen Fahrt stiegen wir auf einer kleinen Station, einige Meilen von Chatham entfernt, aus. Während ein Gefährt besorgt wurde, nahmen wir im Dorfwirtshaus schnell einen Imbiß, sodaß wir bei unserer Ankunft in Yoxley Place gleich mit der Untersuchung beginnen konnten. Am Gartentor empfing uns ein Polizist.

»Nun, Wilson, ‚was Neues?«

»Nein, Herr, nichts.«

»Keine Nachricht, daß ein Fremder gesehen worden ist?«

»Nein, Herr. Drunten an der Station wissen sie bestimmt, daß gestern weder ein Fremder angekommen noch abgefahren ist.«

»Haben Sie in den Wirts- und Logierhäusern Erkundigungen einziehen lassen?«

»Jawohl. Da ist auch niemand, der in Betracht kommen könnte.«

»Gut. – Das ist der Gartenweg, von dem ich gesprochen habe, Herr Holmes. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß gestern keine Fährte darauf war.«

»An welcher Seite war die Spur im Gras?«

»An dieser, auf diesem schmalen Rasenstreifen zwischen dem Pfad und dem Blumenbeet. Ich kann die Spuren jetzt nicht sehen, aber gestern waren sie ganz deutlich.«

»Ja, ja; da ist jemand hergegangen,« sagte Holmes, als er sich niederbückte. »Unsere Dame muß sehr vorsichtig marschiert sein, nicht wahr? weil sie sonst auf der einen Seite auf den Pfad und auf der anderen auf das nasse Beet getreten wäre und deutliche Abdrücke hinterlassen hätte.«

»Allerdings; sie hat mit kalter Ueberlegung gehandelt.«

Ich bemerkte einen vielsagenden Gesichtsausdruck bei meinem Freunde.

»Sie meinen, daß sie auf diesem Weg zurückgekommen sein muß?«

»Gewiß; es gibt keinen anderen.«

»Auf diesem schmalen Rasenstreifchen?«

»Allerdings, Herr Holmes.«

»Hm! Eine ganz besondere Leistung – wirklich, eine ganz besondere. Nun, ich glaube, hier können wir nichts mehr lernen. Wir wollen weiter gehen. Das Gartentor ist gewöhnlich offen, nicht wahr? Dann brauchte der Besuch also nur einfach hereinzuspazieren. An Mord dachte die Person nicht, sonst würde sie sich selbst mit irgend einer Waffe versehen und nicht das Messer auf dem Schreibtisch erwischt haben. Sie benutzte dann diesen Korridor, wo sie auf dem Kokosnußmattenwerk keine Fährte hinterlassen hat. Dann trat sie ins Studierzimmer. Wie lange mag sie sich hier aufgehalten haben? Dafür haben wir keinen Anhaltspunkt.«

»Nur wenige Minuten, Herr Holmes. Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, daß Fräulein Marker, die Haushälterin, nicht lange vorher hier gewesen war und Staub gewischt hatte – ungefähr eine Viertelstunde vorher.«

»Schön, das gibt uns eine zeitliche Grenze. Unsere Dame kommt herein, und was tut sie? Sie geht an den Schreibtisch. Wozu? Nicht um etwas aus den Schubladen zu nehmen, denn Wichtiges würde sicher eingeschlossen gewesen sein. Nein, sie wollte etwas aus dem Schränkchen holen. Haha! Was ist das für ein Kritz? Zünde ein Streichholz an, Watson. Warum haben Sie mir davon nichts gesagt, Hopkins?«

Der Kritzer, den er untersuchte, fing am Messingbeschlag rechts vom Schlüsselloch an, war gegen vier Zoll lang und hatte am Holz die Politur beschädigt.

»Ich hab’s gesehen, Herr Holmes. Aber um ein Schlüsselloch herum gibt’s stets solche Kritzer.«

»Dieser ist aber neu, ganz neu. Sehen Sie, wie das Messing an der Schnittfläche glänzt. Ein alter Riß würde ebenso aussehen wie seine Umgebung. Gucken Sie ‚mal durch meine Lupe. An der Politur ist’s auch noch wahrzunehmen, sie ist an beiden Seiten aufgelockert wie die Erde bei einer Furche. Ist Fräulein Marker da?«

Ein ältliches Weib mit niedergeschlagenem Gesicht trat ins Zimmer.

»Haben Sie dieses Schränkchen gestern abgestaubt?«

»Jawohl, Herr.«

»Haben Sie diesen Kritzer bemerkt?«

»Nein, er ist mir nicht aufgefallen.«

»Ich bin überzeugt, daß Sie ihn nicht gesehen haben, denn sonst würden Sie diese abgelösten Anstrichteilchen weggewischt haben. Wer hat den Schlüssel zu diesem Schränkchen?«

»Der Professor bewahrt ihn an der Uhrkette auf.«

»Ist es ein gewöhnlicher Schlüssel?«

»Nein, Herr; er hat eine besondere Konstruktion.«

»Gut. Sie können wieder gehen, Fräulein Marker.

Nun wissen wir schon etwas mehr. Unsere Dame kommt herein, geht an das Schränkchen auf dem Schreibtisch und öffnet es, oder versucht es zu öffnen. Während sie dabei ist, tritt der Sekretär herein. In der Eile, den Schlüssel herauszuziehen, macht sie diesen Kritzer. Er hält sie fest, und sie ergreift den ersten besten Gegenstand auf dem Tisch – zufällig dieses Messer – und schlägt nach ihm, damit er sie loslassen soll. Der Schlag stellt sich als verhängnisvoll heraus. Der Getroffene sinkt nieder, und sie flieht, sei es nun nach Erreichung ihres Zweckes oder ohne dies. Ist das Mädchen hier? Susan, könnte jemand, nachdem Sie den Schrei gehört hatten, noch durch jenen Ausgang entkommen sein?«

»Nein, Herr; das ist unmöglich. Ehe ich die Treppe hinunterlief, hätte ich jemanden im Gange sehen müssen. Außerdem ist die Tür nicht aufgemacht worden, denn ich müßte es sonst gehört haben.«

»Also kommt dieser Ausgang nicht in Betracht. Dann muß die Dame zweifellos rückwärts denselben Weg eingeschlagen haben wie herwärts. Der andere Gang führt, wenn ich recht verstehe, nur nach des Professors Schlafzimmer. Er hat keinen Ausgang ins Freie?«

»Nein, Herr.«

»Wir wollen ihn jetzt entlang gehen und die Bekanntschaft des Professors machen. Holla, Hopkins! Das ist sehr wichtig, äußerst wichtig, wahrhaftig. Dieser Korridor ist mit ebensolchem Mattenwerk belegt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Finden Sie den Zusammenhang nicht heraus? Nun, nun, ich will nicht gerade darauf bestehen. Ich kann mich irren. Aber es regt mich an, erscheint mir als eine gewisse Andeutung. Kommen Sie und stellen Sie mich vor.«

Wir schritten den Gang entlang; er war ebenso lang wie der nach dem Garten. Am Ende waren einige Stufen, und dann kam eine Türe. Unser Führer klopfte an und führte uns in das Zimmer des Professors.

Es war ein sehr großer Raum. An den Wänden standen mächtige Büchergestelle mit unzähligen Bänden, auch in den Ecken und auf dem Boden lagen noch Haufen von Büchern, für die in den Schränken und auf den Brettern kein Platz mehr war. In der Mitte des Zimmers stand das Bett, und darin saß, auf Kissen gestützt, der Eigentümer des Hauses. Ich habe selten einen charakteristischer aussehenden Mann kennen gelernt. Er hatte ein langes, hageres Gesicht mit einer Adlernase, und aus tiefen Höhlen unter überhängenden, buschigen Brauen blickten uns ein Paar durchdringende Augen entgegen. Haar und Bart waren weiß, nur um den Mund herum hatten die Barthaare merkwürdige gelbe Flecken. Zwischen dem wirren weißen Barthaar glühte eine Zigarette, und das ganze Zimmer war von Tabaksrauch erfüllt. Als er Holmes die Hand reichte, bemerkte ich, daß auch sie gelbe Nikotinflecken hatte.

»Raucher, Herr Holmes?« fragte er in gewähltem Englisch mit einem ganz unmerklichen Akzent. »Bitte, nehmen Sie eine Zigarette. Und Sie, mein Herr? Ich kann sie empfehlen, ich habe sie bei Jonides in Alexandria besonders anfertigen lassen. Er schickt mir jedesmal ein Tausend, und ich muß leider gestehen, daß ich alle vierzehn Tage eine neue Sendung bestellen muß. Das ist bös, sehr bös, aber ein alter Mann hat nur noch wenig Vergnügungen. Der Tabak und meine Arbeit – das ist alles, was ich noch habe.«

Holmes zündete sich eine Zigarette an und warf unmerklich verstohlene Blicke überallhin.

»Tabak und meine Arbeit, aber jetzt nur noch Tabak,« rief der alte Mann aus. »Ach, was für eine fatale Unterbrechung! Wer hätte an eine solche Katastrophe gedacht? Ein so ehrenwerter junger Mann! Ich versichere Ihnen, nachdem er sich ein paar Monate eingearbeitet hatte, war er ein wunderbarer Assistent. Was halten Sie von dieser Sache, Herr Holmes?«

»Ich bin noch zu keinem Urteile gekommen.«

»Sie würden mich wirklich sehr zu Danke verpflichten, wenn Sie in diese für uns so dunkle Angelegenheit Licht bringen könnten. Auf einen armen Bücherwurm wie ich, der obendrein noch krank ist, wirkt ein solcher Schlag geradezu lähmend. Ich habe vollständig meine Gedanken verloren. Aber Sie sind ein Mann der Tat – ein Mann, der mitten im Leben steht. Ihnen kommen solche Fälle fast alle Tage vor. Sie können Ihr seelisches Gleichgewicht in allen Lebenslagen bewahren. Wir sind wirklich sehr froh, daß wir Sie auf unserer Seite haben.«

Holmes schritt, während der Professor sprach, an der einen Seite des Zimmers beständig auf und ab. Ich bemerkte, daß er außerordentlich rasch rauchte. Offenbar teilte er unseres Wirtes Vorliebe für frische alexandrinische Zigaretten.

»Ja, ja, es ist ein schwerer Schlag, Herr Holmes. Es ist mein größtes Werk – jener Stoß Manuskripte dort drüben auf dem Seitentisch. Es ist eine Analyse der in den koptischen Klöstern Syriens und Aegyptens gefundenen Urkunden, die bis in die frühesten Perioden vergangener Religionen zurückreichen und von einschneidendster Bedeutung für deren Auffassung sind. Bei meiner schwachen Gesundheit weiß ich nun nicht, ob ich’s vollenden werde, nachdem ich meinen Assistenten verloren habe. Alle Wetter, Herr Holmes; ei, Sie rauchen ja noch schneller als ich.«

Holmes lächelte.

»Ich bin Kenner,« antwortete er und nahm sich eine neue Zigarette aus dem Kistchen – seine vierte – und zündete sie gleich wieder an dem Stummel der eben zu Ende gerauchten an. »Ich will Sie nicht mit vielem Hin- und Herfragen belästigen, Herr Professor, weil Sie ja, als das Verbrechen geschah, im Bett lagen und nichts davon wissen können. Ich möchte Sie nur um eine einzige Auskunft bitten. Was glauben Sie, daß der arme Kerl mit seinen letzten Worten: ›Professor – sie war’s‹ gemeint hat?«

Der Professor schüttelte sein Haupt.

»Susan ist ein Landmädchen,« erwiderte er, »und Sie kennen ja die Beschränktheit dieser Leute. Ich stelle mir vor, daß der arme Mensch in seinem Wahn ein paar unzusammenhängende Worte gemurmelt hat, die sie nun zu diesem sinnlosen Ausruf verknüpft hat.«

»Ich verstehe. Sie haben selbst keine Erklärung für die Tat?«

»Möglicherweise ist’s ein unglücklicher Zufall; möglicherweise – ich sage’s nur unter uns – ein Selbstmord. Junge Leute haben oft verborgenen Kummer – irgendwelchen Liebesschmerz vielleicht, den wir nie bemerkt haben. Immerhin ist es eine noch wahrscheinlichere Annahme als Mord.«

»Aber der Klemmer?«

»Ach so! Ich bin nur ein Gelehrter – ein Träumer. Ich habe kein Verständnis für die Dinge des praktischen Lebens. Aber doch ist es bekannt, daß es gar sonderbare Liebespfänder gibt, mein Freund. Auf alle Fälle nehmen Sie sich noch eine Zigarette. Ich freue mich, daß Sie sie so zu schätzen wissen. Ein Fächer, ein Handschuh, ein Kneifer – wer weiß, was für Sachen einem Menschen, der sich das Leben nehmen will, als Andenken und teuere Schätze erscheinen? Dieser Herr spricht von Fußtapfen auf dem Rasen; aber, man kann sich dabei leicht irren. Das Messer kann der Unglückliche wahrend des Fallens weit fortgeschleudert haben. Ich spreche vielleicht wie ein Kind, aber mir scheint’s, als ob Smith seinem Dasein mit eigener Hand ein Ziel gesetzt habe.«

Holmes machte den Eindruck, als ob ihm diese Theorie einleuchtete, er setzte seinen Spaziergang im Zimmer noch eine Zeitlang fort und rauchte, in Gedanken versunken, immer noch eine Zigarette nach der anderen.

»Sagen Sie mir, Herr Professor,« fragte er endlich, »was ist in jenem Schränkchen auf dem Schreibtisch?«

»Durchaus nichts, was einem Dieb begehrenswert erscheinen könnte. Privatpapiere, Briefe von meiner Frau, Diplome von Universitäten, die mir Ehrungen haben zuteil werden lassen. Hier haben Sie den Schlüssel, Sie können sich selbst überzeugen.«

Holmes nahm den Schlüssel und betrachtete ihn einen Moment; dann gab er ihn wieder zurück.

»Nein; ich glaube kaum, daß es einen Zweck haben würde,« sagte er. »Ich will lieber ruhig hinunter in Ihren Garten gehen und mir die ganze Sache richtig überlegen. Die Theorie vom Selbstmord, die Sie anführten, hat manches für sich. Wir müssen Sie um Entschuldigung bitten, daß wir Sie so überfallen haben, Herr Coram, ich verspreche Ihnen nun, daß wir Sie vor dem Essen nicht wieder stören werden. Um zwei Uhr werden wir noch einmal wiederkommen und Ihnen Bericht erstatten, ob wir in der Zwischenzeit irgendwie weiter gekommen sind.«

Holmes war auffallend zerstreut, und wir spazierten eine Weile schweigend auf dem Gartenweg auf und ab.

»Hast du eine Spur?« fragte ich ihn endlich.

»Das hängt von den Zigaretten ab, die ich geraucht habe,« erwiderte er. »Es ist möglich, daß ich stark auf dem Holzweg bin. Die Zigaretten werden’s zeigen.«

»Mein lieber Holmes,« rief ich aus, »wie in aller Welt –«

»Nun, du wirst’s ja selbst noch sehen. Ist’s nichts, so schadet’s auch nichts. Selbstverständlich bleibt uns immer noch übrig, auf den Optiker zurückzukommen, aber, wenn ich’s kann, wähle ich den kürzesten Weg. Ah, hier ist das gute Fräulein Marker! Wir wollen uns ein paar Minuten mit ihr unterhalten.«

Wie ich an einer anderen Stelle schon hervorgehoben habe, konnte Holmes, wenn er wollte, gegen Frauen sehr liebenswürdig sein und sich sehr rasch ihr Vertrauen erwerben. Nach kurzer Zeit hatte er sich bei der Wirtschafterin eingeschmeichelt, und plauderte mit ihr, als ob er sie schon jahrelang kennte.«

»Ja, Herr Holmes. Sie haben recht. Er raucht zu furchtbar. Den ganzen Tag und zuweilen auch die ganze Nacht. Ich hab‘ das Zimmer eines Morgens mal gesehen – na, Herr, man hätte es für ’n Londoner Nebel halten können. Der arme Herr Smith, er war auch ’n Raucher, aber nicht so schlimm wie der Professor. Seine Gesundheit – nun, ich weiß nicht, ob’s gut oder nicht gut ist, das Rauchen.«

»Auf alle Fälle nimmt es den Appetit,« versetzte Holmes.

»Davon weiß ich nichts, Herr.«

»Ich vermute, daß der Professor kaum ‚was ißt?«

»Nun, ’s ist verschieden bei ihm.«

»Ich möchte wetten, daß er heute morgen kein Frühstück gegessen hat, und, nach all‘ den Zigaretten, die ich ihn schon wieder habe rauchen sehen, auch das Mittagessen stehen lassen wird.«

»Damit haben Sie aber zufällig daneben gehauen, denn er hat ein auffallend großes Frühstück verzehrt, und auch wieder eine tüchtige Portion Kotelettes zu Mittag bestellt. Ich wundere mich selbst, denn als ich gestern den jungen Herrn Smith auf dem Boden liegen sah, konnte ich Essen nicht sehen. Nun, ’s gibt allerlei Menschen auf der Welt, und dem Professor hat die Sache den Appetit nicht genommen.«

Wir schlenderten den ganzen Vormittag im Garten umher. Hopkins war ins Dorf hinuntergegangen, um das Gerücht von einem fremden Weibe, das am vorhergehenden Morgen von Kindern auf der Chathamer Chaussee gesehen worden wäre, weiter zu verfolgen. Was meinen Freund anbetraf, so schien ihn seine gewohnte Tatkraft verlassen zu haben. Ich hatte ihn noch nie einen Fall so wenig energisch behandeln sehen. Selbst die Nachricht von Hopkins, daß er die Kinder gesprochen habe, und daß dieselben sich ganz genau darauf besinnen könnten, eine Frau, wie sie Holmes beschrieben habe, ohne Brille oder Klemmer, gesehen zu haben, schien ihn gar nicht besonders zu interessieren. Er achtete viel mehr darauf, als Susan, die mit dem Essen auf uns wartete, freiwillig erzählte, daß sie glaubte, der Herr Smith sei gestern morgen spazieren gewesen und erst eine halbe Stunde vor dem schrecklichen Ereignis zurückgekehrt. Ich selbst konnte die Bedeutung dieses Nebenumstandes nicht einsehen, aber gleichwohl bemerkte ich, daß ihn Holmes seinem Bild, das er sich von dem Fall gemacht hatte, einverleibte, und daß er auch in dieses Schema zu passen schien. Denn er sprang plötzlich vom Stuhl auf und sah nach der Uhr. »Zwei, meine Herren,« sagte er. »Wir müssen hinaufgehen und die Sache mit unserem Freund, dem Professor ins reine bringen.«

Der alte Herr war gerade mit dem Essen fertig, und die leeren Schüsseln bewiesen, daß seine Haushälterin recht gehabt hatte mit ihrer Prophezeiung; er mußte einen ordentlichen Hunger gehabt haben. Als er sein weißes Haupt emporhob und uns mit seinen durchbohrenden Augen ansah, machte er wirklich einen bezaubernden Eindruck. Die unvermeidliche Zigarette qualmte schon wieder in seinem Munde. Er war angezogen und saß in seinem Lehnstuhl am Kamin.

»Nun, Herr Holmes, haben Sie das Geheimnis schon aufgeklärt?« Er schob die große Schachtel Zigaretten, die neben ihm auf dem Tische stand, meinem Gefährten hin. Holmes streckte gleichzeitig seine Hand aus, und das Kistchen kam zu weit über die Tischkante hinaus, verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Ein oder zwei Minuten lagen wir alle auf den Knien Und lasen in alle Winkel zerstreute Zigaretten auf. Als wir aufstanden, bemerkte ich an Holmes, daß seine Augen glänzten und seine Wangen leicht gerötet waren. Nur in entscheidenden Augenblicken zeigten sich diese Kampfsignale.

»Jawohl,« versetzte er, »ich hab’s aufgedeckt.«

Hopkins und ich starrten ihn erstaunt an. Ueber das hagere Gesicht des alten Professors zuckte es wie Hohnlachen und Spott.

»Tatsächlich! Im Garten?«

»Nein, hier.«

»Hier! Wann?«

»Eben.«

»Sie scherzen gewiß, Herr Holmes. Da muß ich Ihnen freilich sagen, daß die Sache doch zu ernst ist, um in dieser Weise verhandelt zu werden.«

»Ich habe jedes einzelne Glied meiner Kette sorgfältig geschmiedet und geprüft, Herr Professor Coram, und ich weiß bestimmt, daß sie stark und fest ist. Ihre Motive und Ihre ganze Rolle, die Sie in diesem eigenartigen Falle spielen, durchschaue ich noch nicht ganz. In wenigen Minuten werde ich’s wahrscheinlich aus Ihrem eigenen Munde hören. Ich will Ihnen daher, was vorgefallen ist, vorher noch einmal im Zusammenhang erzählen, damit Sie wissen, welcher Aufklärung ich noch bedarf.

»Gestern kam eine Dame in Ihr Studierzimmer, mit der Absicht, sich gewisse Papiere anzueignen, die sich in dem Schränkchen befanden. Einen Schlüssel brachte sie selbst mit. Ich habe den Ihrigen betrachtet, wie Sie wissen, und jene leichte Spur nicht gefunden, welche der Kritzer hätte daran hervorbringen müssen. Sie haben also keine Schuld und, soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, kam sie ohne Ihr Wissen.«

Der Professor blies eine dicke Rauchwolke von sich. »Das ist ja äußerst interessant und lehrreich,« sagte er dann. »Haben Sie nichts mehr hinzuzufügen? Da Sie die Spur dieser Dame so weit verfolgt haben, können Sie gewiß auch sagen, was weiter aus ihr geworden ist.«

»Ich will es versuchen. Zuerst wurde sie von Ihrem Sekretär ergriffen, den sie niederstach, um zu entkommen. Diesen tödlichen Ausgang bin ich geneigt, als einen unglücklichen Zufall anzusehen, denn ich bin überzeugt, daß die Dame nicht die Absicht gehabt hat, ein solches Verbrechen zu begehen. Ein Mörder kommt nicht unbewaffnet. Erschreckt über ihre Tat, verließ sie in wilder Flucht die Stätte des Unglücks. Zu ihrem Leidwesen hatte sie in dem Handgemenge ihren Klemmer eingebüßt, und bei ihrer starken Kurzsichtigkeit war sie ohne die Gläser vollkommen hilflos. Sie lief einen Korridor entlang, durch den sie hereingekommen zu sein glaubte – weil beide mit Strohmatten belegt waren – und als sie gewahr wurde, daß sie in den falschen Gang geraten war, war es zur Rückkehr schon zu spät, sie war ihr bereits abgeschnitten. Was sollte sie machen? Sie konnte nicht zurück, sie konnte aber auch nicht stehen bleiben. Sie mußte vorwärts. Sie lief weiter. Sie kam an eine kleine Treppe, ging diese hinauf, stieß eine Türe auf und befand sich in Ihrer Kammer.«

Der Alte saß mit offenem Mund in seinem Stuhle und starrte meinen Freund groß an. Staunen und Furcht malten sich aus seinem ausdrucksvollen Gesicht. Dann zuckte er mit einiger Anstrengung die Schultern und brach in ein falsches Lachen aus.

»Das ist alles sehr schön, Herr Holmes,« erwiderte er dann. »Aber Ihr Beweis hat eine Lücke. Ich war selbst in meinem Zimmer hier und bin den ganzen Tag nicht hinausgekommen.«

»Das weiß ich wohl, Herr Professor Coram.«

»Und Sie glauben wohl, daß ich hier im Bett liegen könnte, ohne gewahr zu werden, daß ein Weib in mein Zimmer tritt?«

»Das habe ich nicht gesagt. Sie wußten es. Sie haben mit ihr gesprochen. Sie haben sie gekannt, Sie wollen ihr zur Flucht verhelfen.«

Der Professor fing wieder laut zu lachen an. Er war aufgestanden, seine Augen funkelten wild vor Wut. »Sie sind toll!« schrie er. »Sie sprechen wie ein Verrückter. Ich hälfe ihr zur Flucht! Wo ist sie denn nun?«

»Dort,« sagte Holmes und zeigte auf einen hohen Bücherschrank in der Ecke.

Der Alte rang die Hände, ein krampfhaftes Zucken ging über sein grimmes Gesicht und er sank zurück in seinen Stuhl. Im selben Moment ging die Tür des bezeichneten Bücherschrankes auf und ein Weib stand vor uns. »Sie haben recht!« rief sie mit merkwürdigem, fremdländischem Klang. »Sie haben recht! Ich bin hier.«

Sie war mit Staub und Spinnengewebe bedeckt von den Wänden ihres Verstecks. Auch im Gesicht hatte sie Schmutzstreifen. Aber auch davon abgesehen, konnte sie nie hübsch gewesen sein. Sie zeigte genau die körperlichen Merkmale, die Holmes auf den Zettel geschrieben hatte, hinzu kam nur noch ein langes, vorstehendes Kinn. Teils wohl infolge ihrer Kurzsichtigkeit, teils infolge des jähen Wechsels zwischen Dunkelheit und Licht, stand sie wie geblendet und blinzelte unaufhörlich, um zu erkennen, wer und wo wir waren. Und doch, trotz all dieser körperlichen Nachteile lag eine gewisse Vornehmheit in dem Benehmen dieses Weibes, eine Hochherzigkeit in dem unschönen Kinn und dem erhobenen Kopfe, der einem eine Art Achtung und Bewunderung abnötigte. Hopkins hatte sie am Arm gefaßt und sie als seine Gefangene erklärt, aber sie schob ihn sanft zur Seite, und zwar mit einer überlegenen Würde, die Gehorsam erzwingt. Der Alte lag in den Stuhl zurückgelehnt, sein Gesicht zuckte, und die Augen waren starr auf die Frau gerichtet.

»Jawohl, ich bin Ihre Gefangene,« sagte sie. »Von meinem Platz aus konnte ich alles hören, und ich weiß, daß Sie die Wahrheit herausgebracht haben. Ich gestehe alles ein. Ich habe den jungen Mann getötet. Aber Sie haben recht, daß es ein Unglücksfall war. Ich wußte noch nicht einmal, daß es ein Messer war, was ich in meiner Hand hatte, denn in meiner Verzweiflung erwischte ich irgend etwas vom Tisch und schlug nach ihm, damit er mich gehen lassen sollte. Ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht.«

»Gnädige Frau,« bemerkte Holmes, »ich zweifle nicht daran. Mir scheint, Sie werden unwohl.«

Sie hatte sich verfärbt, die Totenblässe trat durch die schwarzen Schmutzstriche auf ihrem Gesicht noch stärker hervor. Sie setzte sich auf den Bettrand und fuhr dann fort:

»Ich habe nur noch wenig Zeit hier, aber Sie sollen die volle Wahrheit von mir erfahren. Ich bin dieses Mannes Frau. Er ist kein Engländer. Er ist ein Russe. Seinen Namen will ich nicht nennen.«

Jetzt rührte sich der Greis zum ersten Male. »Gott segne dich, Anna!« rief er. »Gott segne dich!«

Sie warf ihm einen Blick größter Verachtung zu. »Warum klammerst du dich so krampfhaft an dein elendes Leben, Sergius?« erwiderte sie. »Es hat so viele unglücklich gemacht und niemanden glücklich – dich selbst nicht ‚mal. Doch ist es nicht meine Sache, dich zu veranlassen, den schwachen Lebensfaden vor dem normalen Ende durchzuschneiden. Ich habe schon genug auf mich geladen, seitdem ich diese verfluchte Schwelle übertreten habe. Aber ich muß reden, es wird sonst zu spät.

»Ich habe Ihnen gesagt, meine Herren, daß ich die Frau dieses Mannes bin. Er war fünfzig und ich ein törichtes Mädchen von zwanzig, als wir heirateten. Es war in einer russischen Stadt, einer Universitätsstadt – den Namen will ich nicht nennen.«

»Gott vergelt dir’s, Anna!« murmelte wieder der Alte.

»Wir waren Reformisten – Revolutionäre – Nihilisten, Sie verstehen mich. Er und ich und viele andere. Dann kam eine Zeit der Verfolgung; ein Polizeibeamter wurde getötet, es fanden viele Verhaftungen statt, man suchte einen Zeugen, und um sein eigenes Leben zu retten und die ausgesetzte hohe Belohnung zu verdienen, verriet er seine Frau und seine Genossen. Auf seine Aussage hin wurden wir alle festgenommen. Einige kamen an den Galgen und einige nach Sibirien. Unter den letzteren war ich, aber ich hatte nicht lebenslänglich. Mein Mann ging mit seinem unredlich erworbenen Vermögen nach England und hat hier stets zurückgezogen gelebt. Er weiß wohl, daß, wenn der Bund seinen Aufenthaltsort kennte, er schwerlich länger als eine Woche zu leben haben würde.«

Der Alte streckte die zitternde Hand aus, um sich eine Zigarette zu nehmen, dann sagte er: »Ich bin in deiner Hand, Anna. Du bist mir immer gut gewesen.«

»Aber seine größte Schurkerei habe ich noch nicht erzählt,« fuhr sie fort. »Unter unseren Genossen war einer, der meinem Herzen nahe stand. Er war edel, selbstlos und liebreich – was mein Mann alles nicht war. Er haßte die Gewalttat. Wir waren alle schuldig – wenn man dabei von schuldig sprechen kann – nur er war’s nicht. Er schrieb uns stets, daß wir diesen Weg nicht einschlagen sollten. Auf diese Briefe hin würde er freigesprochen worden sein. Ebenso würde ihn mein Tagebuch gerettet haben, worin ich täglich meine Gefühle gegen ihn, sowie unseren politischen Standpunkt eingetragen hatte. Mein Mann machte Tagebuch und Briefe ausfindig und behielt sie. Er versteckte sie und hätte diesen Mann gerne durch seinen Eid an den Galgen gebracht. Das gelang ihm nicht, aber Alexis wurde in eine Zwangskolonie nach Sibirien gebracht, wo er noch jetzt, bis auf diesen Augenblick, in einem Salzbergwerk arbeitet. Bedenke das, du Schurke, du Elender; jetzt, jetzt, in diesem Augenblick muß Alexis, ein Mann, dessen Namen du nicht würdig bist, auf die Zunge zu nehmen, arbeiten und leben wie ein Sklave, und trotzdem ich dein Leben in meiner Hand habe, laß‘ ich dich gehen.«

»Tu warst immer ein edles Weib, Anna,« warf der Alte dazwischen und zog an seiner Zigarette.

Sie hatte sich erhoben, sank aber mit einem leisen Schrei des Schmerzes wieder nieder.

»Ich muß rasch zu Ende kommen,« sagte sie. »Als meine Zeit um war, nahm ich mir vor, mir das Tagebuch und meine Briefe wieder zu verschaffen, welche, an die russische Regierung gesandt, meines Freundes Freilassung bewirken würden. Ich wußte, daß sich mein Mann nach England gewandt hatte. Nach monatelangem Suchen entdeckte ich seinen Aufenthaltsort. Ich wußte, daß er das Tagebuch noch im Besitz hatte, denn nach Sibirien hat er mir einmal einen Brief geschrieben, worin er mir Vorwürfe machte und einige Stellen daraus anführte. Aber ich kannte seine rachsüchtige Natur zu gut, um zu wissen, daß er mir’s nie freiwillig geben würde. Ich mußte mir’s selbst zu verschaffen suchen. Zu diesem Zweck nahm ich einen Agenten von einem Privatdetektivinstitut an, der als Sekretär bei meinem Manne eintrat – es war dein zweiter Sekretär, Sergius, derjenige, der dich so schnell verlassen hat. Er entdeckte, daß die Papiere in jenem Schränkchen eingeschlossen waren, und machte ein Modell vom Schloß. Weiter wollte er nicht gehen. Er versah mich mit einem Plan des Hauses und sagte mir, daß am Vormittag das Studierzimmer fast stets leer sei, weil der Sekretär hier hinten zu tun habe. So faßte ich endlich den Vorsatz und kam hierher, um die Briefschaften wiederzuerlangen. Es gelang mir, aber um welchen Preis!

»Ich hatte gerade die Papiere herausgenommen und wollte das Schränkchen wieder zuschließen, als mich der junge Herr ergriff. Ich hatte ihn schon am Morgen gesehen. Ich traf ihn auf der Straße und fragte ihn, wo Professor Coram wohne; ich wußte nicht, daß er in seinen Diensten stand.«

»Richtig! richtig!« sagte Holmes. »Der Sekretär ist zurückgekommen und hat seinem Herrn von dem Weibe erzählt, das er getroffen hatte. Dann wollte er in den letzten Sekunden kund tun, daß sie’s war, sie, über die er eben mit dem Professor gesprochen hatte.«

»Sie müssen mich reden lassen,« sagte die Frau in befehlendem Tone, während sie das Gesicht vor Schmerzen verzog. »Als er zu Boden gefallen war, stürzte ich aus dem Zimmer, erwischte die verkehrte Tür und stand meinem Mann gegenüber. Er sagte, daß er mich der Polizei überliefern wolle. Ich bedeutete ihm, daß ich auch sein Leben in der Hand hatte. Wenn er mich der Behörde übergäbe, könnte ich ihn dem Bunde überantworten. Ich wollte nicht meinetwegen mein Leben retten, sondern ich wollte meinen Zweck erfüllen. Er wußte, daß ich Wort halten würde, und daß sein eigenes Schicksal mit meinem verquickt war. Aus diesem Grunde, und nur aus diesem, beherbergte er mich. Er steckte mich in jenen dunkeln Schrank, ein Ueberbleibsel aus vergangenen Zeiten. Er allein kannte meinen Aufenthalt. Er aß in seinem Zimmer und konnte mich so mit einem Teil seiner Speise versehen. Es war abgemacht, daß ich, sobald die Polizei das Haus verlassen hätte, bei Nacht hinausschlüpfen und nie wiederkehren sollte. Aber Sie haben unsere Pläne bis zu einem gewissen Grade erraten und sie durchkreuzt.« Sie riß ein kleines Paketchen aus ihrem Busen. »Jetzt komme ich zum Schluß,« rief sie, »hier sind die Papiere, die Alexis retten werden. Ich vertraue sie Ihrer Ehre und Ihrer Gerechtigkeitsliebe an. Nehmen Sie sie hin! Uebergeben Sie sie der russischen Botschaft. Nun habe ich meine Pflicht erfüllt, und –«

»Haltet sie!« rief Holmes. Er war mit einem Sprung bei ihr und entwand ihrer Hand ein kleines Fläschchen.

»Zu spät!« sagte sie und sank zurück auf das Bett. »Zu spät! Ich habe das Gift genommen, eh‘ ich aus meinem Versteck heraustrat. Mir wird schwindlig! Ich sterbe! Vergessen Sie das Paketchen nicht!«

»Ein einfacher Fall, und in mancher Hinsicht doch ein recht lehrreicher,« bemerkte Holmes, als wir zur Stadt zurückfuhren. »Es drehte sich vom Anfang an um den Klemmer. Wenn der Sterbende dieses Glas nicht erfaßt hätte, so hätten wir womöglich nie die Lösung gefunden. Es war mir klar, daß die Trägerin einer so starken Nummer ohne Augengläser ganz hilflos gewesen sein mußte. Als Sie mir zumuteten, zu glauben, daß sie auf einem so schmalen Rasenstreifchen hingegangen sein sollte, ohne einen einzigen Fehltritt deiner Gegenwart, Watson, ohne daß du freilich meine Absicht ganz verstandest, daß Professor Corams Nahrungsaufnahme zugenommen hatte – wie das ja zu erwarten war bei jemandem, der eine zweite Person mit ernährte. Dann gingen wir wieder hinauf, und durch das Umkippen des Zigarettenkistchens verschaffte ich mir eine günstige Gelegenheit, den Fußboden genau in Augenschein zu nehmen. Ich sah sehr deutlich an den Spuren auf der Zigarettenasche, daß die Gefangene in unserer Abwesenheit ihr Versteck verlassen hatte.

*

Nun, Herr Hopkins, hier ist Charing Croß. Ich gratuliere Ihnen, daß Sie Ihren Fall so glücklich zu Ende geführt haben. Sie werden doch wohl ins Hauptquartier gehen. Wir beide, Watson, wollen zusammen nach der russischen Botschaft fahren.«

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