Unordentlicher Lebenswandel. – Zawoisti. – Rinaldi. – L’Abbadie. – Die junge Gräfin. – Steffani wird Kapuziner. – Ancilla. – Die Ramon. – Ich steige in San Giobbe in eine Gondel, um nach Mestre zu fahren.

Das Glück schien sich darin zu gefallen, mir eine Probe seiner despotischen Laune zu geben, da es mich auf einem der Weisheit unbekannten Wege glücklich machte; es besaß nicht die Macht, mich ein System der Mäßigung und Klugheit befolgen zu lassen, das meine Zukunft hätte sicher begründen können.

Mein feuriger Charakter, meine unwiderstehliche Neigung zum Vergnügen und meine unbesiegbare Unabhängigkeitsliebe erlaubten mir nicht, mir die Mäßigung aufzuerlegen, zu der meine neue Lage mir zu raten schien. Ich begann daher ohne Rücksicht auf alles, was meine Neigungen hätte beschränken können, zu leben, und glaubte mich über alle Vorurteile schwingen zu können, wenn ich nur die Gesetze achtete. Ich glaubte in einem Lande, das einer durch und durch aristokratischen Regierung unterwarfen war, vollkommen frei leben zu können; aber ich würde mich getäuscht haben, selbst wenn das Glück mich zum Regierungsmitglied gemacht hätte; denn die Republik Venedig, die als erste Pflicht ihre Selbsterhaltung ansieht, findet sich so selbst als Sklavin der gebieterischen Staatsräson. Sie muß, wenn nötig, alles dieser Pflicht opfern, der gegenüber selbst die Gesetze nicht mehr unverletzlich sind.

Aber verlassen wir dieses bereits allzubekannte Thema; denn das menschliche Geschlecht ist wenigstens in Europa überzeugt, daß eine grenzenlose Freiheit nirgends mit dem gesellschaftlichen Zustande vereinbar ist. Ich streife diesen Stoff nur, um dem Leser einen Begriff von meiner Aufführung in meinem Vaterlande zu geben, in welchem ich in diesem Jahre einen Weg zu betreten begann, der mich in ein Staatsgefängnis führen sollte, das eben durch seine Ungesetzlichkeit von der Außenwelt undurchdringlich abgeschlossen war.

Ich war hinlänglich reich, von der Natur mit einem angenehmen und stattlichen Äußern begünstigt, ein kühner Spieler, ein unverbesserlicher Verschwender, redselig, immer scharf in meinem Witz, nichts weniger als bescheiden, furchtlos, stellte den hübschen Weibern nach, schlug die Nebenbuhler aus dem Felde, erkannte nur eine Gesellschaft, die mich unterhielt, als gute an, und so konnte ich nur gehaßt sein; da ich aber stets bereit war, mit meiner Person einzustehen, so glaubte ich, es sei mir alles erlaubt, denn dem Mißbrauch, der mich behinderte, glaubte ich schroff gegenübertreten zu müssen.

Eine solche Aufführung konnte den drei Ehrenmännern, deren Orakel ich geworden war, nur mißfallen; aber sie wagten es nicht mir dies zu sagen. Der gute Herr von Bragadino begnügte sich, mir anzudeuten, daß ich ihm das tolle Leben, das er selber in meinem Alter geführt hätte, wieder vor Augen führte, allein ich sollte mich darauf vorbereiten, dafür zu büßen und mich bestraft zu sehen, wenn ich sein Alter erreicht hätte. Ohne die Achtung zu verletzen, die ich ihm schuldete, gab ich seinen fürchterlichen Prophezeiungen eine scherzhafte Wendung und ging meinen Weg. Doch gab er mir auch Proben von seiner wahren Weisheit; die erste bei folgender Gelegenheit:

Ich hatte bei Frau Avogadro, einer geistreichen und trotz ihren sechzig Jahren sehr liebenswürdigen Frau, die Bekanntschaft eines jungen polnischen Edelmannes, namens Zawoiski, gemacht. Er erwartete Geld aus seiner Heimat; aber während er wartete, verschafften die Venezianerinnen ihm solches zur Genüge, da seine hübsche Figur und seine polnischen Manieren sie entzückten. Wir wurden gute Freunde, und ich öffnete ihm meine Börse; aber zwanzig Jahre später in München öffnete er mir die seinige noch freigebiger. Er war ein Ehrenmann, der nur geringe Geistesgaben, aber für sein Wohlbefinden immerhin genug besaß. Er ist vor fünf oder sechs Jahren in Dresden als Geschäftsträger des Kurfürsten von Trier gestorben. Ich werde an der gehörigen Stelle darüber sprechen.

Dieser liebenswürdige junge Mensch, den alle Welt gern hatte, und den man für einen Freigeist hielt, da er die Herren Angelo Querini und Lunardo Veniero besuchte, machte mich auf dem Spaziergang im Garten der Zueeca mit einer fremden Gräfin bekannt, die mir gefiel. Wir machten ihr am Abend unseren Besuch, und nachdem sie mich ihrem Gatten, dem Grafen Rinaldi, vorgestellt hatte, lud sie uns zum Abendessen ein.

Der Gemahl hielt eine Pharaobank; ich spielte mit seiner Frau halbpart gegen ihn und gewann einige fünfzig Dukaten.

Entzückt über diese schöne Bekanntschaft besuchte ich sie am nächsten Morgen ganz allein. Nachdem sich der Graf entschuldigt hatte, daß seine Frau noch nicht aufgestanden wäre, ließ er mich eintreten. Sie empfing mich auf die ungezwungenste Art, ich blieb mit ihr allein, und sie besaß die Kunst, mich, ohne sich bloßzustellen, alles erhoffen zu lassen; als sie mich im Begriff sah fortzugehen, lud sie mich zum Abendessen ein. Ich willigte ein; indem ich wie am Vorabend mit ihr halbpart spielte, gewann ich abermals. Als ich ging, war ich völlig verliebt. Natürlich besuchte ich sie am nächsten Morgen in der Hoffnung, sie gefügig oder wenigstens gefällig zu finden; aber als ich mich anmeldete, sagte man mir, sie sei ausgegangen.

Ich beeilte mich, am Abend wieder hinzugehen; nach tausend Entschuldigungen wurde Bank gehalten, und ich verlor alles, was ich mit ihr zur Hälfte gewonnenn hatte. Wir speisten zu Abend, und als sich nach dem Essen die Fremden entfernt hatten, blieb ich mit Zawoiski zurück, weil Graf Rinaldi uns Revanche geben wollte. Da ich kein Geld mehr hatte, so spielte ich auf Wort; als jedoch der Graf sah, daß ich ihm fünfhundert Zechinen schuldete, legte er die Karten nieder. Ich entfernte mich sehr traurig. Die Ehre verpflichtete mich, am nächsten Tage zu zahlen, und ich hatte keinen Soldo. Die Liebe erhöhte meine Verzweiflung, denn ich sah mich in Gefahr, in den Augen einer Frau, in die ich verliebt war, eine klägliche Figur zu spielen; die Unruhe wegen dieser Lage malte sich auf meinen Zügen und entging am nächsten Tage Herrn von Bragadino nicht. Er fühlte mir freundschaftlich auf den Zahn und ermutigte mich, ihm mich anzuvertrauen. Ich fühlte, daß ich nichts Besseres tun könnte, erzählte ihm unbefangen die ganze Geschichte und schloß damit, daß ich mich für entehrt hielte und daß ich daran sterben würde. Er tröstete mich mit den Worten, er werde meine Schuld im Laufe des Tages zahlen, wenn ich ihm versprechen wolle, niemals wieder auf Wort zu spielen. Ich leistete ihm den Schwur, indem ich ihm die Hand küßte, und ging, einer ungeheuren Last ledig, spazieren. Ich war gewiß, daß mein würdiger Vater mir im Laufe des Tages fünfhundert Dukaten geben würde, und schon im voraus freute mich die Ehre, die meine Pünktlichkeit mir bei der reizenden Gräfin einlegen würde. Das richtete meine Hoffnungen wieder auf und hinderte mich, eine so große Summe zu beklagen; aber durchdrungen von der außerordentlichen Großmut meines Wohltäters, fühlte ich mich fest entschlossen, ihm Wort zu halten.

Ich aß sehr vergnügt mit den drei Freunden, ohne daß ein Wort über den Vorgang gefallen wäre. Einen Augenblick nachdem wir uns von der Tafel erhoben hatten, übergab ein Bedienter Herrn Bragadino einen Brief und ein Päckchen. Nachdem mein Vater den Brief gelesen und den Diener fortgeschickt hatte, bat er mich, ihm in sein Kabinett zu folgen, und sobald wir darin waren, sagte er: »Hier, ein Paket, das dir gehört.« Ich öffne es und finde einige vierzig Zechinen. Als mich Herr von Bragadino überrascht sah, begann er zu lachen und übergab mir den Brief, der folgende Worte enthielt: »Herr von Casanova kann überzeugt sein, daß unser Spiel in der vergangenen Nacht nur ein Scherz gewesen ist; er ist mir nichts schuldig. Meine Frau schickt ihm die Hälfte des Goldes, das er bar verloren hat. Graf Rinaldi.«

Erstaunt blicke ich Herrn von Bragadino an; der lacht aus vollem Halse. Ich errate alles, danke ihm, umarme ihn zärtlich und schwöre ihm, in Zukunft verständiger zu sein. Die Binde, die meine Augen bedeckte, zerreißt, ich fühle mich von meiner Liebe geheilt und ganz beschämt, doppelt, vom Manne wie von der Frau, betrogen worden zu sein.

»Heute abend«, sagt mir mein weiser Arzt, »wirst du sehr vergnügt mit deiner reizenden Gräfin speisen.«

»Heute abend, mein würdiger Wohltäter, werde ich mit Ihnen speisen. Sie haben mir als Großmeister eine Lehre gegeben.«

»Das nächstemal, wenn du auf Ehrenwort verlierst, wirst du gut tun, nichts zu bezahlen.«

»Ich würde mich entehren.«

»Gleichviel; je mehr du dich beeilst, dich zu entehren, desto mehr wirst du dabei ersparen, denn du wirst ohnehin genötigt sein, dich zu entehren, sobald du dich völlig außerstande befindest zu bezahlen. Es ist daher viel klüger, diesen fatalen Augenblick nicht abzuwarten.«

»Aber es ist noch viel hesser, ihm auszuweichen, indem man nur mit barem Gelde spielt.«

»Ohne Zweifel, denn dadurch würdest du zugleich Ehre und Geld retten. Aber da du die Hazardspiele liebst, so rate ich dir niemals zu pointieren. Zieh selbst ab, und du wirst im Vorteil sein.«

»Ja, aber nur in einem kleinen.«

»Klein, das geb‘ ich gerne zu; aber du wirst ihn haben, und du wirst sehen, daß zwischen Verlust und Gewinn am Ende der Rechnung ein ungeheurer Unterschied ist. Der Pointeur ist verrückt, der Bankier verständig. Dieser letztere sagt: >Ich wette, daß du nicht errätst,< der erstere sagt: >Ich wette, daß ich errate.< Welcher ist der Narr? Welcher der Vernünftige?«

»Die Antwort ist leicht.«

»Um Gottes willen sei vernünftig; solltest du aber beim Pointieren gewinnen, so erinnere dich, daß du nur ein Dummkopf bist, wenn du schließlich verlierst.«

»Wieso ein Dummkopf? Das Glück ist veränderlich.«

»Und es muß nach der Natur der Sache veränderlich sein, wenn nicht aus anderen Gründen. Glaube mir, höre auf zu spielen, sobald du das Glück sich ändern siehst, und solltest du auch nur einen Deut gewonnen haben.«

Ich hatte Plato gelesen, und ich verwunderte mich, einen Mann zu finden, der weise wie Sokrates sprach.

Am nächsten Tage besuchte mich Zawoiski in aller Frühe, um mir zu sagen, man habe mich zum Souper erwartet und habe meine Pünktlichkeit in der Bezahlung von Ehrenschulden gerühmt. Ich glaubte nicht nötig zu haben, ihm seinen Irrtum zu benehmen, aber ich ging nicht mehr zu dem Grafen Rinaldi, den ich erst sechzehn Jahre später in Mailand wiedergesehen habe. Zawoiski hat die Geschichte erst vierzig Iahre später in Karlsbad erfahren, wo ich ihn taub wiederfand.

Drei oder vier Monate darauf gab mir Herr von Bragadino eine andere, noch stärkere Lektion. Zawoiski hatte mich mit einem Franzosen, namens L’Abbadie, bekannt gemacht, der bei der Regierung sich um die Stelle eines Inspektors aller Landtruppen der Republik bewarb. Seine Ernennung hing vom Senate ab, und ich stellte ihn meinem Beschützer vor, der ihm seine Stimme versprach; aber ein Zwischenfall, den ich erzählen will, verhinderte ihn, sein Versprechen zu halten.

Da ich hundert Zechinen brauchte, um Schulden zu zahlen, bat ich ihn eines Tages, sie mir geben zu wollen.

»Warum, mein Lieber, erbittest du diese Gefälligkeit nicht von Herrn L’Abbadie?«

»Ich wage es nicht, Vater!«

»Wage es; ich bin sicher, daß er dir diese Summe gern vorstrecken wird.«

»Ich zweifle stark daran, aher ich will es versuchen.«

Ich ging am nächsten Tage zu ihm, und nach einer kurzen höflichen Einleitung bat ich ihn um den Dienst, den ich von ihm erwartete. Er entschuldigte sich mit vieler Artigkeit und begründete seine Weigerung mit einem Wortschwall jener tausend Gemeinplätze, die man stets zu wiederholen pflegt, wenn man einen Dienst nicht leisten kann oder will. Da Zawoiski hinzukam, grüßte ich und ging. Schnell eilte ich zu meinem Beschützer, um ihn von meinem fruchtlosen Schritt in Kenntnis zu setzen Er sagte mir lachend, der Franzose habe wenig Verstand.

Gerade an diesem Tage sollte der Beschluß seiner Ernennung im Senate verhandelt werden. Ich verließ den Palazzo, um meinen Geschäften, das heißt meinen Vergnügungen nachzugehen, und da ich erst nach Mitternacht nach Hause kam, legte ich mich zu Bett, ohne meinen Vater zu sehen. Am nächsten Tage wünschte ich ihm einen guten Morgen und sagte ihm, ich wolle dem neuen Inspektor meinen Glückwunsch darbringen.

»Erspare dir diese Mühe, mein Freund; der Senat hat den Antrag verworfen.«

»Wie kommt das? Vor drei Tagen war L’Abbadie von dem Gegenteil überzeugt.«

»Er täuschte sich nicht, denn der Beschluß würde zu seinen Gunsten ausgefallen sein, hätte ich nicht dagegen gesprochen. Ich habe dem Senat bewiesen, daß eine gesunde Politik uns nicht gestatten dürfte, diesen wichtigen Posten einem Ausländer anzuvertrauen.«

»Ich bin ganz überrascht, denn Eure Exzellenz dachten vorgestern nicht so.«

»Das ist wahr, aber damals kannte ich ihn nicht recht. Ich bemerkte gestern, daß dieser Mensch nicht genug Verstand für das Amt hat, das er anstrebte. Kann er dir wirklich hundert Zechinen verweigern, wenn er gescheit ist? Durch diese Weigerung hat er ein hohes Amt verloren und ein Einkommen von dreitausend Talern, in deren Besitz er jetzt sein würde.«

Ich ging aus und traf Zawoiski mit L’Abbadie, dem ich keineswegs auszuweichen suchte. Der letztere war wütend, und man konnte es allerdings schon aus geringerem Anlaß sein.

»Wenn Sie mir angedeutet hätten,« sagte er mir, »daß die hundert Zechinen dazu gedient haben würden, Herrn von Bragadino den Mund zu stopfen, so würde ich schon das Mittel gefunden haben, sie Ihnen zu verschaffen.«

»Wenn Sie den Kopf eines Inspektors gehabt hätten, so würden Sie das wohl leicht erraten haben.«

Dieser Herr war mir mit seinem Ärger sehr nützlich; er erzählte die Geschichte jedem, der sie hören wollte, und seitdem wandten sich alle, die die Stimme meines Beschützers brauchten, an mich. Ich will darüber nichts sagen; das war vorher so und wird noch lange so sein, denn um die größte Gunst zu erlangen, braucht man nur den Günstling eines Ministers oder oft nur seinen Kammerdiener für sich zu gewinnen. Bald waren meine Schulden bezahlt.

In jener Zeit kam mein Bruder Giovanni nach Venedig mit dem getauften Juden Guarienti, dem großen Bilderkenner, der auf Kosten Seiner Majestät des Königs von Polen, Kurfürsten von Sachsen, reiste. Dieser frühere Jude hatte dem Monarchen die Erwerbung der Galerie des Herzogs von Modena für hunderttausend Zechinen vermittelt. Sie gingen zusammen nach Rom, wo mein Bruder in der Schule des berühmten Raphael Mengs blieb. Ich werde später von ihm sprechen.

Als getreuer Geschichtsschreiber bin ich jetzt meinen Lesern die Nachricht eines Ereignisses schuldig, von dem die Ehre und das Glück einer der liebenswürdigsten Frauen Italiens anhingen; sie wäre unglücklich geworden, wenn ich nicht ein leichtsinniger Windbeutel gewesen wäre.

Eines Tages zu Anfang des Monats Oktober 1746 ging ich maskiert spazieren, da die Theater geöffnet waren. Plötzlich bemerkte ich wenige Schritte vor dem Römischen Tor eine Frauengestalt, die, von der Kapuze ihres Mantels verhüllt, aus dem eben landenden Marktschiff von Ferrara ausstieg. Da ich sah, daß sie allein war und offenbar nicht Bescheid wußte, fühlte ich mich wie durch eine geheime Macht zu ihr hingetrieben. Ich nähere mich und biete ihr meine Dienste an, wenn sie in der Lage sei, diese zu benötigen.

Sie erwiderte mir mit schüchterner Stimme, sie habe einige Erkundigungen einzuziehen.

»Wir sind hier an keinem passenden Ort,« sage ich ihr, »aber haben Sie die Güte, mir in eine Weinstube zu folgen, wo Sie frei mit mir werden sprechen können.«

Sie zögert, ich bestehe auf meiner Einladung, und sie gibt nach. Die Schenke ist keine zwanzig Schritte entfernt, wir treten ein und sind uns allein gegenüber. Ich demaskiere mich, und die Höflichkeit verpflichtet sie, ihre Kapuze herabzuziehen. Eine große Tüllhaube verbirgt die Hälfte ihres Gesichtes; aber ihre Augen, ihre Nase und ihr hübscher Mund genügen mir, um in ihren Zügen Schönheit, Adel, Schmerz und jene Unschuld der Tugend zu erkennen, die der Jugend einen unbeschreibbaren Reiz verleiht. Ich brauche nicht zu sagen, daß dieser Empfehlungsbrief ihr sofort meine vollste Teilnahme sicherte. Nachdem sie einige Tränen getrocknet hatte, die sich wie unwillkürlich Bahn brachen, sagte sie mir, sie sei ein junges Mädchen von Adel und dem väterlichen Hause allein, unter dem Schutze Gottes, entflohen, um einen Venezianer aufzusuchen, der sie verführt und betrogen habe, um sie für ihre übrige Lebenszeit unglücklich zu machen.

»Sie haben also einige Hoffnung, ihn zu seiner Pflicht zurückzuführen? Ich denke mir, er hat Ihnen seine Hand versprochen.«

»Er hat mir ein schriftliches Versprechen gegeben. Ich bitte Sie um die einzige Gunst, mich zu ihm zu führen, mich dort allein zu lassen und verschwiegen zu sein.«

»Zählen Sie, meine Gnädige, auf die Gefühle eines Ehrenmannes. Ich bin einer; vertrauen Sie sich mir an, denn ich interessiere mich schon für alles, was Sie angeht. Sagen Sie mir seinen Namen.« »Ach, mein Herr, ich liefere mich meinem Schicksal aus.«

Mit diesen Worten zieht sie aus ihrem Busen ein Papier, das sie mir übergibt Ich erkannte die Schrift Zanetto Steffanis. Es war ein Heiratsversprechen, wodurch er sein Wort gab, binnen acht Tagen die junge Gräfin A. S. in Venedig zu heiraten. Nachdem ich es gelesen hatte, gab ich es ihr mit den Worten zurück, daß ich den Schreiber genau kenne; er sei bei der Cancelleria angestellt, ein großer Wüstling, mit Schulden beladen, werde aber nach dem Tode seiner Mutter reich sein.

»Bitte, bitte, führen Sie mich zu ihm.«

»Ich werde tun, Fräulein, was Sie mir befehlen; aber haben Sie volles Vertrauen zu mir und hören Sie mich, bitte, an. Ich rate Ihnen, nicht zu ihm zu gehen. Er hat Ihnen schon eine große Beleidigung zugefügt und wenn Sie ihn auch wirklich zu Hause antreffen würden, so wäre es leicht möglich, daß er sich soweit erniedrigte, Sie schlecht zu empfangen; ist er nicht zu Hause, so werden Sie wahrscheinlich von seiner Mutter unfreundlich aufgenommen werden, wenn Sie sich zu erkennen geben. Vertrauen Sie sich mir an und glauben Sie, daß Gott mich auf Ihren Weg verschlagen hat, um Ihnen als Beschützer zu dienen. Ich verspreche Ihnen, daß Sie spätestens morgen erfahren werden, ob Steffani in Venedig ist, was er mit Ihnen zu tun gedenkt und was man von ihm durch Zwang erreichen kann. Einstweilen aber ist mein Rat, lassen Sie den jungen Mann nicht erfahren, daß Sie in Venedig sind.«

»Großer Gott! Wohin soll ich aber diese Nacht gehen?«

»In ein ehrbares Haus.«

»Zu Ihnen, wenn Sie verheiratet sind.«

»Ich bin Junggeselle.«

Ich kannte eine ehrbare Witwe, die in einer stillen Gasse wohnte und zwei Zimmer zu vermieten hatte. Ich überredete das Mädchen, sich meiner Führung anzuvertrauen. Wir stiegen in eine Gondel und fuhren ab. Unterwegs sagte sie mir, Steffani hätte sich vor einem Monat in ihrem Wohnorte aufgehalten, um seinen Wagen ausbessern zu lassen und an demselben Tage noch hätte er ihre Bekanntschaft in einem Hause gemacht, wohin sie mit ihrer Mutter gegangen wäre, um einer Jungvermählten zu gratulieren.

»Ich war so unglücklich,« sagte sie, »ihm Liebe einzuflößen, und er dachte nicht mehr ans Abreisen. Er blieb einen Monat in C. und ging nur am Abend aus. Er verbrachte alle Nächte unter meinem Fenster, um sich mit mir zu unterhalten. Tausendmal schwur er, daß er mich anbete und daß seine Absichten rein seien. Ich sagte ihm, er solle sich meinen Eltern vorstellen und um meine Hand anhalten; aber er schützte gute oder schlechte Gründe vor, indem er mir versicherte, er könnte sich nur dann glücklich fühlen, wenn ich ihm volles Vertrauen entgegenbrächte. Ich sollte mich entschließen, ohne Wissen eines Menschen mit ihm abzureisen, und er versicherte mir, daß meine Ehre dabei nicht leiden würde, da drei Tage nach meiner Flucht die ganze Stadt erfahren würde, daß ich seine Frau wäre; er versprach mir, mich öffentlich als solche wieder zurückzuführen. Ach, was soll ich Ihnen sagen, mein Herr? Die Liebe machte mich blind; ich stürzte in den Abgrund; ich glaubte ihm und willigte in alles ein. Er übergab mir die Schrift, die Sie gelesen haben, und in der folgenden Nacht gestattete ich ihm, durch das Fenster, an dem wir uns sprachen, in mein Zimmer zu kommen. Ich willigte in ein Verbrechen, das in drei Tagen getilgt werden sollte, und er verließ mich mit dem Schwure, in der folgenden Nacht wieder unter dasselbe Fenster zu kommen, um mich in seine Arme zu nehmen. Konnte ich wohl nach dem ungeheuren Fehltritte, den ich soeben begangen hatte, daran zweifeln? Ich schnürte mein Bündel, und in der folgenden Nacht erwartete ich ihn, aber vergeblich. Welch grausame Nacht! Am nächsten Morgen erfuhr ich, daß das Ungeheuer mit seinem Bedienten abgereist sei – eine Stunde nachdem er mich geschändet hatte! Stellen Sie sich meine Verzweiflung vor. Ich faßte den Entschluß, den diese mir eingab, und der natürlich nur böse sein konnte. Eine Stunde vor Mitternacht verließ ich allein das väterliche Dach, um mich vollends zu entehren, aber ich war entschlossen, zu sterben, wenn der grausame Mann, der mir das Teuerste geraubt hatte und den hier zu finden eine Ahnung mich hoffen ließ, mir nicht ein Gut zurückgäbe, das er allein ersetzen konnte. Ich bin die ganze Nacht und beinahe den ganzen folgenden Tag zu Fuß gegangen, ohne irgendwelche Nahrung zu mir zu nehmen, bis ich das Marktschiff bestieg, das mich in vierundzwanzig Stunden hierher brachte. In der Barke waren fünf Männer und zwei Frauen, aber niemand hat mein Gesicht gesehen noch den Klang meiner Stimme gehört. Ich bin beständig mit gesenktem Kopf in halber Betäubung dagesessen, und in den Händen hielt ich immer dieses Gebetbuch. Man ließ mich in Ruhe, niemand richtete ein Wort an mich und ich habe dafür Gott gedankt. Als ich kaum den Kai betreten hatte, haben Sie mir keine Zeit gelassen, um nachzudenken, wie ich zu dem treulosen Verführer kommen könnte. Aber Sie können sich den Eindruck vorstellen, den die Erscheinung eines maskierten Mannes auf mich machen mußte, der mir, wie wenn die Vorsehung dabei ihr Spiel hätte, sofort seine Dienste anbot. Es hat mir geschienen, als ob Sie meine Not errieten, und weit entfernt, irgendeinen Widerwillen zu empfinden, war ich geneigt, auf Ihr Anerbieten einzugehen, indem ich mich Ihnen anvertraute, obgleich Vorsicht mich gegen Ihre Sprache und die Einladung, allein mit Ihnen in das Weinhaus zu treten, hätte taub machen sollen. Jetzt wissen Sie alles, mein Herr, aber ich bitte Sie, mich nicht zu streng zu beurteilen. Ich war mein ganzes Leben ehrbar; vor einem Monat noch brauchte ich über keinen Fehltritt zu erröten, und die grausamen Tränen, die ich nun jeden Tag vergieße, werden mir dazu dienen, meinen Flecken vor Gott auszulöschen. Ich habe eine sorgsame Erziehung genossen, aber Liebe und Mangel an Erfahrung haben mich in den Abgrund gestürzt. Ich bin in Ihren Händen, und ich glaube nicht, daß ich jemals werde zu bereuen haben, mich Ihnen anvertraut zu haben.«

Ihre lange Erzählung diente dazu, mich in dem Interesse, das sie mir bereits eingeflößt hatte, zu bestärken. Ich sagte ihr grausamerweise, daß Steffani sie mit Überlegung verführt und betrogen hätte und daß sie sich seiner nur erinnern sollte, um sich für seine Treulosigkeit zu rächen. Bei diesen Worten erschauderte sie und verbarg ihr schönes Gesicht in den Händen.

Als wir bei der Witwe angelangt waren, brachte ich sie in ein hübsches Zimmer und bestellte für sie ein kleines Abendessen, indem ich der guten Frau auftrug, für sie alle Sorge zu tragen und es ihr an nichts mangeln zu lassen. Einen Augenblick darauf nahm ich teilnahmsvoll Abschied von ihr, wobei ich ihr versprach, sie am nächsten Morgen wieder zu sehen.

Nachdem ich die interessante Unglückliche verlassen, begab ich mich zu Steffani. Ich erfuhr von einem der Gondoliere seiner Mutter, daß er vor drei Tagen nach Venedig zurückgekehrt, aber vierundzwanzig Stunden darauf wieder ganz allein abgereist wäre; niemand wüßte wohin, selbst seine eigene Mutter nicht. Am selben Abend traf ich im Theater einen Abbate aus Bologna und erkundigte mich nach der Familie meines unglücklichen Schützlings, und da es sich herausstellte, daß der Abbate sie genau kannte, so erfuhr ich alles, was zu wissen mir wichtig war, unter anderem auch, daß die junge Gräfin einen Bruder hätte, der als Offizier in päpstlichen Diensten stände.

Früh am nächsten Morgen begab ich mich zu ihr. Sie schlief noch. Die Witwe sagte mir, daß sie bei gutem Appetit, jedoch ohne ein Wort zu sprechen, gespeist und sich dann sogleich eingeschlossen hätte. Sobald sie sich hören ließ, trat ich ein, und nachdem ich alle ihre Entschuldigungen kurz abgeschnitten hatte, teilte ich ihr alles mit, was ich erfahren hatte.

Ihre Züge trugen den Ausdruck einer tiefen Trauer, dabei aber war ihr Gesicht leicht gerötet, und sie sah ganz ruhig aus.

»Es ist nicht wahrscheinlich,« sagte sie, »daß Steffani abgereist ist, ohne nach C. zurückzukehren.«

Da ich diese Betrachtung in ihrer Lage sehr natürlich fand, bot ich ihr an, mich sofort in ihre Heimat zu begeben, um mich von der Wahrheit zu überzeugen, und ohne Zögern wiederzukommen und sie zu holen, wenn ihre Ahnungen begründet wären. Ohne ihr Zeit zur Antwort zu lassen, erzählte ich ihr hierauf alles, was ich von ihrer ehrenwerten Familie erfahren hatte, worüber sie eine außerordentliche Freude empfand.

»Ich habe nichts dagegen,« sagte sie mir, »daß Sie nach C. gehen, und ich erkenne die ganze Großmut Ihres Anerbietens an, aber haben Sie die Güte, die Ausführung dieses Planes noch aufzuschieben. Ich hege einige Hoffnung, daß Steffani zurückkehren wird, und dann werde ich mit ruhigem Kopf einen Entschluß fassen können.«

»Ich finde«, sagte ich, »Ihre Bemerkung sehr verständig. Wollen Sie mir gestatten, mit Ihnen zu frühstücken?«

»Dürfen Sie eine Weigerung erwarten?«

»Ich wäre in Verzweiflung, Sie zu belästigen. Womit verbrachten Sie zu Hause Ihre Tage?«

»Ich liebe die Lektüre und die Musik über alles; und das Klavier verschaffte mir die höchste Wonne.«

Ich verließ sie nach dem Frühstück, und am Abend kehrte ich wieder zurück mit einem Korb voll guter Bücher und Noten und mit einem guten Klavier. Diese Aufmerksamkeit brachte sie in Verwirrung, aber ich vermehrte ihre Überraschung, als ich aus meiner Tasche drei Paar Pantoffeln zog. Die Röte stieg ihr in das Gesicht, als sie mir mit einem unaussprechlichen Gefühle dankte. Da sie einen, für eine junge Dame wie sie, sehr langen Weg zu Fuße zurückgelegt hatte, so mußten ihre Schuhe abgenützt und ihre Füße sehr empfindlich sein; sie mußte also meine Aufmerksamkeit sehr zart finden. Da ich keine böse Absicht auf sie hatte, so genoß ich ihre Dankbarkeit und freute mich, daß meine Aufmerksamkeit ihr nur einen hohen Begriff von meinem Zartgefühl geben konnte. Ich hatte kein anderes Ziel, als ihr Herz zu beruhigen und den schlimmen Eindruck in ihr zu verwischen, den sie durch den unwürdigen Steffani von den Männern hatte erhalten müssen. Ich beabsichtigte keineswegs, ihr Liebe einzuflößen, und dachte nicht einen Augenblick daran, daß ich in sie verliebt werden könnte. Sie war unglücklich, daher in meinen Augen geheiligt, und verdiente meinerseits um so mehr die redlichste Teilnahme, als sie mir, ohne mich zu kennen, ihr ganzes Vertrauen zugewandt hatte. Ich würde sie in ihrer Lage nicht einer neuen Neigung für fähig gehalten haben und hätte einen Abscheu davor gehabt, sie in irgendeiner Weise zu verführen.

Ich blieb nur eine Viertelstunde bei ihr und verließ sie, um ihr die Verlegenheit zu benehmen, die meine Anwesenheit in diesem Augenblick ihr verursachen konnte, zumal da sie nicht wußte, in welchen Ausdrücken sich ihre Dankbarkeit äußern sollte.

Ich sah mich in eine delikate Angelegenheit verwickelt, deren Ausgang ich keineswegs vorhersah; aber das kühlte meinen Eifer nicht ab, und da mich ihr Unterhalt nicht in Verlegenheit setzte, so wünschte ich den Ausgang nicht herbei. Dieses merkwürdige Zusammentreffen, das mir den unschätzbaren Vorteil bot, bei mir edle Neigungen zu entdecken, die stärker waren als mein Hang zur Ausschweifung, schmeichelte mir über alle Maßen. Ich machte eine große Erfahrung an mir selbst, und da ich wußte, daß ich es nötig hätte, mich selbst zu studieren, so gab ich mich dieser Neigung voll und ganz hin.

Am dritten Tage, als sie sich wieder in Danksagungen erschöpfte, denen ich vergeblich Einhalt zu gebieten mich bemühte, sagte sie mir, sie begreife nicht, wie ich ihr so großes Interesse beweisen könne, da die Leichtigkeit, mit der sie mir in die Schenke gefolgt sei, mir keine hohe Meinung von ihr hätte geben können. Aber als ich ihr antwortete, ich begriffe ebensowenig, wie ich ihr mit einer Maske vor dem Gesicht Vertrauen genug zu meiner Tugend hätte einflößen können, zumal da mein Anzug gerade den entgegengesetzten Eindruck hätte erwecken müssen, da lächelte sie.

»Mir, meine Gnädige, war es leicht, die unglückliche Schönheit zu erkennen, als ich Ihre Jugend, den Adel Ihrer Züge und besonders Ihre Offenherzigkeit bemerkte. Der Charakter der Wahrheit, deren Gepräge Ihre ersten Worte trugen, ließ mir keinen Zweifel zu, daß Sie ein Opfer des natürlichsten aller Gefühle wären und daß die Ehre allein Sie gezwungen hätte, das väterliche Haus zu fliehen. Ihr Fehltritt war der eines verführten Herzens, über das die Vernunft ihre Herrschaft verloren hatte, und Ihre Flucht, die Wirkung einer edlen Seele, die nach Genugtuung oder Rache schrie, rechtfertigt Sie vollkommen. Ihr unwürdiger Verführer muß sein Verbrechen mit dem Leben büßen und darf nicht dadurch belohnt werden, daß er Sie heiratet; denn er hat nicht das Recht, Sie zu besitzen, nachdem er sich durch die ehrloseste Handlung erniedrigt hat.«

»Alles, was Sie sagen, ist wahr. Ich habe einen Bruder, der, wie ich hoffe, mich rächen wird.«

»Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, daß Steffani sich schlägt; er ist ein Feigling, der nicht imstande ist, sich einem ehrenvollen Tode auszusetzen.«

Wie ich diese Worte beendete, griff sie in die Tasche, überlegte einige Augenblicke, zog einen sechs Zoll langen Dolch hervor und legte ihn auf den Tisch.

»Was ist das?«

»Das ist eine Waffe, von der ich bis auf diesen Augenblick gegen mich selbst Gebrauch zu machen dachte, wenn es mir nicht gelingen sollte, meinen Fehltritt auszulöschen. Sie haben mich soeben aufgeklärt. Ich bitte Sie, nehmen Sie diesen Dolch weg; ich brauche ihn nicht mehr. Ich zähle auf Ihre Freundschaft und fühle, daß ich Ihnen Ehre und Leben schulde.«

Ich war betroffen über diese Rede und fühlte, daß ihre Worte und Blicke den Weg zu meinem Herzen auf eine andere Art als durch ein edelmütiges Mitgefühl gefunden hätten. Ich nahm den Dolch und verließ sie mit einer Verwirrung, die mir die Schwäche eines Heldentums ankündigte, über das ich beinahe laut herausgelacht hätte, so komisch begann ich es jetzt zu finden; ich hatte aber die Stärke, bis zum siebenten Tage ein halber Cato zu sein.

Ich muß indessen gestehen, daß mir ein Argwohn in Bezug auf die junge Person aufstieg. Dieser Argwohn bedrückte mein Herz, denn, wäre er begründet gewesen, so war ich angeführt, und dieser Gedanke war demütigend. Sie hatte mir gesagt, sie sei musikalisch, ich hatte ihr an demselben Tage ein Klavier und Noten verschafft; aber obwohl das Instrument seit drei Tagen zu ihrer Verfügung stand, hatte sie es noch nicht geöffnet, wie die Alte mir versichert hatte. Es schien mir doch, als hätte sie mir für meine Aufmerksamkeiten dadurch danken müssen, daß sie mir eine Probe ihrer Talente gab. Sollte sie mich getäuscht haben? Das würde sie bei mir bedeutend herabgesetzt haben. Da ich ein voreiliges Urteil vermeiden wollte, so war ich auf meiner Hut und beschloß, den ersten günstigen Augenblick zu benützen, um meine Zweifel aufzuklären.

Am nächsten Tage besuchte ich sie gegen meine Gewohnheit nach dem Essen, um diesen Augenblick auf irgendeine Weise herbeizuführen. Ich überraschte sie vor dem Spiegel sitzend, ihren Kopf unter den Händen der Witwe, die ihr das wunderschönste blonde Haar frisierte. Ich entschuldigte mich wegen meines ungewöhnlichen Erscheinens, und sie ließ sich weiter nicht stören, nachdem sie sich ihrerseits wegen der Unordnung entschuldigt hatte. Zum erstenmal sah ich ihr ganzes Gesicht, ihren Hals und die Hälfte ihrer von den Grazien gerundeten Arme. Ich schwieg und betrachtete. Zufällig lobte ich den Geruch der Pomade, und die Alte benützte diesen Umstand, um ihr zu sagen, daß sie für Kämme, Puder und Pomade die drei Livres ausgegeben hätte, die sie ihr verabreicht hätte. Ich erinnerte mich nun, daß sie mir am ersten Tage gesagt hatte, sie sei mit zehn Paoli in der Tasche fortgegangen. Ich fühlte vor Verwirrung mir die Röte ins Geficht steigen, denn ich hätte daran denken sollen.

Sobald die Witwe fertig war, ging sie hinaus, um uns Kaffee zu machen. Ich nehme einen Ring von der Toilette und sehe ein Porträt, das ihr vollkommen gleicht, allein ich lachte über ihre Laune, daß sie sich als Mann mit schwarzen Haaren hatte malen lassen.

»Sie täuschen sich,« sagte sie mir, »es ist das Porträt meines Bruders. Er ist um zwei Jahre älter als ich und jetzt Offizier im Dienste des Heiligen Vaters, wie ich Ihnen schon sagte.«

Ich bat sie um die Erlaubnis, ihr den Ring anzustecken. Sie streckte den Finger aus, aber als ich ihr mit üblicher Galanterie die Hand küssen wollte, zog sie sie errötend zurück. Da ich fürchtete, sie möchte sich beleidigt fühlen, beeilte ich mich, sie meiner Ehrfurcht zu versichern.

»Ach, mein Herr,« sagte sie zu mir, »in der Lage, in der ich mich befinde, muß ich viel mehr daran denken, mich gegen mich selbst zu verteidigen als gegen Sie.«

Das Kompliment schien mir so fein und so schmeichelhaft für mich, daß ich glaubte, es lieber überhören zu sollen, allein sie konnte in meinen Augen lesen, daß sie weder ein vergebliches Verlangen nach mir empfinden könnte, noch fürchten durfte, mich undankbar zu finden. Indessen nahm durch diese Unterredung meine Liebe derart zu, daß ich nicht mehr wußte, wie ich sie verheimlichen sollte.

Bald darauf ergriff sie die Gelegenheit, mir für die Bücher zu danken, die ich für sie ausgesucht hatte, ich hätte ihren Geschmack erraten, denn sie liebte die Romane nicht, und sie sagte:

»Ich muß mich vielmals entschuldigen, daß ich Ihnen noch kein Lied vorgesungen habe, so gut ich es eben kann, denn ich weiß, daß Sie die Musik lieben.«

Ich atmete bei diesen Worten auf und, ohne meine Antwort abzuwarten, setzte sie sich an das Klavier und spielte mehrere Stücke mit einer Leichtigkeit, Sicherheit und einem Ausdruck, die sich nicht wiedergeben lassen. Ich war entzückt. Ich bat sie ein Lied zu singen, und nachdem sie sich ein wenig hatte bitten lassen, nahm sie eines der Hefte, die ich ihr gebracht hatte, und sang vom Blatt mit einer Begleitung, die mich hinriß. Ich flehte sie an, mir ihre Hand zum Kusse zu reichen, sie tat es nicht; aber sie setzte keinen Widerstand entgegen, als ich sie nahm, und trotz dem Feuer, das mich verzehrte, besaß ich die Mäßigung, sie nur mit einer Zärtlichkeit zu küssen, die mit Bewunderung und Achtung gemischt war.

Ich verließ sie endlich, ungeheuer verliebt und fest entschlossen, mich zu erklären. Die Zurückhaltung wird Dummheit, wenn wir erkannt haben, daß der angebetete Gegenstand unsere Gefühle teilt. Ich hatte jedoch diese Überzeugung noch nicht erlangt.

Die ganze Stadt sprach von dem Verschwinden Steffanis, aber ich sagte meiner schönen Gräfin nichts davon. Man war sich allgemein darüber einig, daß seine Mutter sich geweigert hätte, seine Schulden zu bezahlen, und daß er entflohen wäre, um nicht von seinen Gläubigern verfolgt zu werden. Die Sache hatte etwas für sich. Aber, ob er nun zurückkam oder nicht, ich konnte mich auch nicht in den Verlust eines Schatzes fügen, den ich in den Händen hatte. Da ich indessen nicht wußte, wie oder unter welchem Vorwand ich mir den Genuß desselben verschaffen sollte, so befand ich mich in einem wahren Labyrinth. Zuweilen faßte ich den Gedanken, meinen Vater um Rat zu fragen, aber bald verwarf ich ihn wieder mit Abscheu, denn ich hatte ihn in der Angelegenheit des Rinaldi und noch mehr in der mit L’Abbadie als zu großen Freund von Kraftkuren befunden. Ich fürchtete seine Heilmittel so sehr, daß ich lieber krank sein wollte, als mich durch ihre Benützung heilen zu lassen.

Eines Morgens beging ich die Dummheit, die Witwe zu fragen, ob die Dame sich erkundigt hätte, wer ich wäre. Welche Tölpelei! Ich erkannte das sehr schnell, als die gute Frau, anstatt mir zu antworten, sagte:

»Weiß sie denn nicht, wer Sie sind?«

»Antworten Sie doch und fragen Sie nicht!« sagte ich ihr, um meine Verwirrung zu verbergen.

Die gute Frau hatte recht. Sie war natürlich jetzt neugierig geworden, was eigentlich los sei; der Klatsch würde sich hineinmengen und alles das durch eine schülerhafte Unbesonnenheit! Das war unverzeihlich. Man muß niemals mehr auf seiner Hut sein, als wenn man an halbdumme Leute Fragen stellt. Seit vierzehn Tagen war die Gräfin unter meiner Obhut und hatte sich niemals neugierig bezeigt, zu erfahren, wer ich wäre; allein darum glaubte ich doch nicht, daß sie es nicht gern gewußt hätte.

Ich hätte gut getan, es ihr am ersten Tag zu sagen, aber noch an demselben Abend machte ich mein Unrecht aufs beste wieder gut und, nachdem ich sie von allem unterrichtet hatte, bat ich sie um Verzeihung, es nicht früher getan zu haben. Sie gestand mir, indem sie mir für mein Vertrauen dankte, daß sie sehr neugierig gewesen sei, mich kennenzulernen, aber sie versicherte mir auch, daß sie niemals die Unklugheit begangen haben würde, sich über mich bei ihrer Wirtin zu erkundigen. Die Frauen haben einen zarteren und sichereren Takt als die Männer, und ich nahm von diesen letzten Worten den Teil, der mir gebührte.

Da sich unser Gespräch um Steffanis unbegreiflich lange Ahwesenheit drehte, sagte sie mir, ihr Vater glaube möglicherweise, er hielte sich irgendwo mit ihr verborgen auf. »Er muß es erfahren haben,« fügte sie hinzu, »daß ich alle Nächte mit ihm unter meinem Fenster sprach, und es wird ihm nicht schwer gewesen sein zu entdecken, daß ich auf dem Marktschiff von Ferrara nach Venedig gefahren bin. Mein Vater muß in Venedig sein, und ich bin überzeugt, daß er insgeheim alles aufbietet, um mich zu entdecken. Er wohnt gewöhnlich bei Boncousin; suchen Sie zu erfahren, ob er dort ist.«

Von Steffani sprach sie nur noch mit einem Ausdruck des Schreckens und des Hasses; sie wollte fern von ihrer Heimat sich in ein Kloster einschließen, wo ihre schmachvolle Geschichte niemandem bekannt wäre.

Ich verließ sie mit der Absicht, am nächsten Tage Erkundigungen einzuziehen, aber ich hatte das nicht nötig, denn am Abend beim Speisen sagte uns Herr Barbaro: »Man empfiehlt mir einen Edelmann, Untertan des Papstes, den ich in einer delikaten und schwierigen Angelegenheit mit meinem Einfluß unterstützen soll. Einer unserer Mitbürger hat seine Tochter entführt, und seit vierzehn Tagen soll er irgendwo mit ihr verborgen sein; aber niemand weiß wo. Die Sache mußte vor den Rat der Zehn gebracht werden. Die Mutter des Entführers behauptet, meine Verwandte zu sein, ich denke aber, mich nicht hineinzumischen.«

Ich tat, als ob ich diese Erzählung ohne Interesse anhörte, und am nächsten Morgen begab ich mich sehr zeitig zu meiner reizenden Gräfin, um ihr diese interessante Neuigkeit mitzuteilen. Sie schlief noch, aber da ich es eilig hatte, schickte ich die Witwe hinein, ihr zu sagen, daß ich nur zwei Minuten brauchte, um ihr etwas Wichtiges mitzuteilen. Sie empfing mich im Bett liegend und hatte die Decke bis zum Kinn hinaufgezogen.

Sobald sie alles wußte, bat sie mich inständig, Herrn Barbaro zu beschwören, zwischen ihrem Vater und ihr zu vermitteln, indem sie mir versicherte, sie würde lieber sterben, als die Frau des Ungeheuers werden, das sie entehrt hätte. Ich versprach es ihr und sie übergab mir, um es ihrem Vater zu zeigen, das Eheversprechen, dessen sich der Nichtswürdige bedient hatte, um sie zu verführen.

Um Herrn Barbaro zur Erfüllung ihrer Wünsche zu veranlassen, hätte ich ihm sagen müssen, daß sie sich in meiner Obhut befände; aber ich fühlte, daß diese Mitteilung meinem Schützling schaden würde. Ich konnte keinen Entschluß fassen, und daran war zum Teil schuld, daß ich den Augenblick nahe fühlte, wo ich sie verlieren müßte, und das war mir gar nicht recht.

Nach dem Mittagsmahl meldete man Herrn Bararo den Grafen A.S. Er trat mit seinem Sohn, dem leibhaftigen Ebenbild seiner Schwester, ein. Herr Barbaro führte sie in sein Kabinett, um mit ihnen von ihrer Angelegenheit zu sprechen, und eine Stunde später kamen sie zurück. Sobald diese Herren fort waren, bat mich der gute Herr Barbaro, wie ich es erwartet hatte, meinen Engel zu befragen, ob er sich zugunsten des Grafen A.S. verwenden könnte. Er schrieb selbst die Frage auf, und ich schrieb ihm nachlässig folgende Antwort nieder: »Sie müssen sich in diese Angelegenheit mischen, aber nur um den Vater dazu zu bringen, daß er seiner Tochter verzeiht und die Idee aufgibt, sie zur Heirat mit ihrem Verführer zu zwingen: denn Steffani ist durch den Willen Gottes zum Tode verurteilt.«

Diese Antwort erregte Verwunderung, und ich war selbst erstaunt, daß ich gewagt hatte, sie zu geben; aber ich wurde durch eine Ahnung bewogen, daß Steffani durch die Hand irgendeines Menschen enden würde, und vielleicht war es die Liebe, die mich so denken ließ. Herr von Bragadino, der mein Orakel für unfehlbar hielt, sagte, es hätte noch nie so klar gesprochen, und Steffani wäre zu dieser Stunde sicherlich tot.

»Laden Sie«, sagte Barbaro, »den Vater und den Sohn ein, morgen zum Speisen herzukommen. Wir müssen sachte zu Werke gehen und, bevor wir ihn überreden, seiner Tochter zu verzeihen, müssen wir wissen, wo sie ist.«

Herr Barbaro ergriff das Wort und hätte mich bald um meinen Ernst gebracht, als er sagte, ich könnte ihnen das sogleich mitteilen, wenn ich wollte.

»Ich verspreche Ihnen,« erwiderte ich ihm, »morgen meinen guten Genius darüber zu befragen.«

So gewann ich Zeit, um vorher die Ansicht des Vaters und des Sohnes kennenzulernen. Indessen lachte ich bei mir selbst darüber, daß ich mich in die Notwendigkeit versetzt hatte, Steffani in eine andere Welt zu befördern, um nicht mein Orakel zu beschämen.

Ich verbrachte den ganzen Abend bei der jungen Gräfin, die an der Güte ihres Vaters nicht zweifelte und zu mir volles Vertrauen hatte.

Welches Vergnügen machte es dem reizenden Mädchen, als ich ihr sagte, daß ich am nächsten Tage mit ihrem Vater und ihrem Bruder zusammen speisen und ihr alles wiederholen würde, was über sie gesprochen werden würde! Aber welch ein Vergnügen fand auch ich in ihrer Überzeugung, daß sie mich schätzen müßte, und daß sie ohne mich unfehlbar in einer Stadt zugrunde gegangen wäre, in der die Regierungspolitik gerne die Ausschweifung duldet, als einen Beweis der angeblich vorhandenen persönlichen Freiheit, die man aber durch tausend Mittel wieder einzuschränken weiß. Wir beglückwünschten uns gegenseitig zu unserer so unverhofften Begegnung und zu der Übereinstimmung unserer Entschlüsse, die wir als wunderbar erachteten. Wir waren entzückt, es nicht der Anziehungskraft unserer Gesichter zuschreiben zu können, daß sie so bereitwillig meiner Einladung gefolgt war, daß ich sie so eifrig überredet hatte, mir zu folgen und sich meinen Ratschlägen zu überlassen, denn ich war maskiert, und ihre Kapuze wirkte wie eine Maske.

Wir zweifelten nicht daran, daß der Himmel dies alles so geordnet hätte, um uns miteinander bekannt zu machen, und wir verliebten uns ineinander, ohne es zu merken.

»Gestehen Sie,« sagte ich in einem Augenblick der Schwärmerei, während ich ihre Hand mit tausend Küssen bedeckte, »gestehen Sie, daß Sie mich fürchten würden, wenn Sie mich verliebt fänden.«

»Ach, ich fürchte nur, Sie zu verlieren.«

Diese Erklärung, in einem Ton gesprochen und von einem Blicke begleitet, die die Wahrheit verbürgten, war der elektrische Funke, der mich ganz in Feuer setzte. Ich nahm sie plötzlich in meine Arme, preßte meinen Mund auf ihre Lippen, und als ich in ihren schönen Augen weder stolzen Unwillen, noch die Spur einer kalten Gefälligkeit sah, überließ ich mich der süßen Regung, die die Liebe mir einflößte. Und als ich in einem Meer von Entzückungen schwamm, fühlte ich diese wachsen, indem ich in den Zügen des reizenden Wesens, das sie mir verschaffte, die Befriedigung, die Liebe, die Scham und alle jene Gefühle las, die die Reize des schönsten Triumphes erhöhen.

Kaum wieder zu sich gekommen, schlug sie die Augen nieder, und ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Da ich die Ursache zu erraten glaubte, stürzte ich zu ihren Füßen und bat sie im zärtlichsten Ton, mir zu verzeihen.

»Welche Beleidigung, mein Freund, hätte ich Ihnen zu verzeihen. Sie haben meine Gedanken schlecht erraten. Ihre Zärtlichkeit ließ mich an mein Glück denken, und in diesem Augenblick hat mir eine grausame Erinnerung diesen Seufzer entrissen. Stehen Sie auf.«

Es hatte schon Mitternacht geschlagen; ich sagte ihr, ihre Ehre verlange, daß ich sie verlasse. Ich maskierte mich wieder und ging. Ich war so ergriffen, so verwundert, ein Glück erlangt zu haben, dessen ich mich noch nicht würdig glaubte, daß ihr meine Entfernung ein wenig schroff erscheinen mußte. Ich schlief nicht. Ich verbrachte eine jener unruhigen Nächte, in der die Einbildungskraft eines jungen verliebten Mannes unablässig dem Scheine der Wirklichkeit nachjagt. Diese Wirklichkeit hatte ich genossen, aber nicht ausgekostet, und ich stürmte im Geiste auf den Gegenstand los, der meinen Genuß vollständig machen sollte. In diesem nächtlichen Drama waren Liebe und Phantasie die Hauptdarsteller; die Hoffnung kam erst in zweiter Linie und spielte mehr eine stumme Rolle. Was man auch sagen mag, die Hoffnung ist im Grunde nur ein schmeichlerisches Wesen, das die Vernunft nur duldet, weil sie Scheinmittel nötig hat. Glücklich die Menschen, die, um das Leben zu genießen, weder zu hoffen noch vorzusorgen brauchen!

Als ich bei meinem Erwachen an das Todesurteil dachte, das ich über Steffani gefällt hatte, war ich ein wenig verlegen. Ich hätte gewünscht, es zurücknehmen zu können, sowohl zur Ehre meines Orakels, das ich auf eine gefährliche Art bloßgestellt sah, als auch für Steffani selbst, den ich schon nicht mehr so sehr haßte, seitdem ich ihm den Schatz verdankte, den ich besaß.

Der Graf und sein Sohn kamen zum Speisen. Der Vater war ein ganz einfacher Mann, ungekünstelt und ungeziert. Man las in seinen Zügen Traurigkeit über das unangenehme Abenteuer sowie Verlegenheit, wie er es zu Ende führen sollte; aber nicht die geringste Spur von Zorn. Der Sohn, schön wie ein Liebesgott, besaß Geist und ein angenehmes Wesen. Seine Ungezwungenheit gefiel mir, und in der Absicht, seine Freundschaft zu gewinnen, beschäftigte ich mich besonders mit ihm.

Beim Nachtisch wußte Herr Barbaro den Grafen so zu überzeugen, wir seien vier Personen mit einem Geist, daß der brave Mann ohne Rückhalt sprach. Er lobte in jeder Beziehung seine Tochter. Hierauf versicherte er uns, Steffani habe nie einen Fuß in sein Haus gesetzt, und er könne daher nicht begreifen, durch welche Hexerei es ihm gelungen sei, das Mädchen, mit dem er nie anders als in der Nacht, auf der Straße und am Fenster gesprochen habe, derart zu verführen, daß sie zwei Tage, nachdem er selber mit der Post abgereist war, allein und zu Fuß fortgegangen sei.

»Man kann also«, entgegnete Herr Barbaro, »weder behaupten, daß sie verführt, noch beweisen, daß sie von Steffani entführt worden ist.«

»Ich fühle das wohl; aber obwohl man es nicht kann, ist die Tatsache doch nicht minder gewiß. Denn er kann gegenwärtig, wo niemand weiß, wo er ist, nur mit ihr beisammen sein. Aber ich verlange weiter nichts, als daß er sie heiratet.«

»Mir scheint, es wäre besser, keine gezwungene Heirat herbeizuführen, die Ihre Tochter unglücklich machen würde, denn Steffani ist in jeder Beziehung einer der größten Taugenichtse unter unseren Sekretären.«

»Wenn ich an Ihrer Stelle wäre,« sagte Herr von Bragadino, »würde ich mich durch die Reue meiner Tochter erweichen lassen und ihr verzeihen.«

»Wo ist sie? Ich bin bereit, sie in meine Arme zu schließen, aber ich kann nicht glauben, daß sie reuig ist; ich wiederhole es, sie kann nur bei ihm sein.«

»Ist es gewiß, daß sie hierher kam, als sie von C. wegging?«

»Ich weiß es vom Patron des Marktschiffes selbst; sie stieg zwanzig Schritte vor dem Römischen Tore an das Ufer. Eine maskierte Person, die sie erwartete, trat zu ihr, und alle beide verschwanden, ohne daß man weiß, wohin sie gegangen sind.«

»Das war vielleicht Steffani.«

»Nein, denn er ist klein, und die Maske war groß. Ich habe außerdem erfahren, daß Steffani zwei Tage vor der Ankunft meiner Tochter abgereist war. Die Maske, mit der sie gegangen ist, muß ein Freund Steffanis gewesen sein, der sie ihm zugeführt haben wird.«

»Aber das sind nur Mutmaßungen, mein lieber Graf.«

»Vier Personen, die die Maske gesehen haben, behaupten zu wissen, wer sie war; aber sie sind nicht unter sich einig. Hier die Anzeige. Ich werde indessen alle diese vier Namen den Häuptern des Rates der Zehn anzeigen, wenn Steffani leugnet, meine Tochter in seiner Gewalt zu haben.«

Der Zettel, den er Herrn Barbaro übergab, enthielt nicht allein die Namen der vier Angeklagten, sondern auch die Namen der Ankläger. Der letzte Name, den Herr Barbaro las, war der meine. Ich machte, als ich ihn hörte, eine Kopfbewegung, worüber die drei Freunde gleichzeitig in ein lautes Gelächter ausbrachen.

Als Herr von Bragadino sah, daß der Graf sich über diese Heiterkeit verwunderte, sagte er zu ihm: »Casanova hier ist mein Sohn, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Ihre Tochter, wenn sie in seinen Händen ist, sich in Sicherheit befindet, obwohl er nicht gerade danach aussieht, daß man ihm junge Mädchen anvertrauen könnte.«

Das Erstaunen, die Überraschung und die Verwirrung des Vaters und des Sohnes waren zum Malen. Der gute und zärtliche Vater bat mich mit Tränen in den Augen um Entschuldigung und sagte, ich möchte mich nur an seine Stelle versetzen. Als Antwort umarmte ich ihn mehrere Male. Der Denunziant, der mich erkannt hatte, war ein Kuppler, den ich einige Zeit vorher geprügelt hatte, weil er mich betrogen hatte. Wenn ich nur einen einzigen Augenblick gezögert hätte, mich der unglücklichen Gräfin zu bemächtigen, würde sie ihm nicht entgangen sein, und er würde sie völlig zugrunde gerichtet haben, indem er sie an irgendeinen schlechten Ort gebracht hätte.

Unsere Unterhaltung führte zu dem Schluß, daß der Graf nicht eher seine Zuflucht zum Rat der Zehn nehmen sollte, als bis man entdeckt hätte, wo Steffani wäre.

»Seit sechs Monaten, Herr Graf,« sagte ich zu ihm, »verkehre ich nicht mehr mit ihm; aber ich verspreche Ihnen, ihn im Zweikampf zu töten, sobald er auftaucht.«

»Sie werden ihn erst töten,« sagte der junge Graf mit kalter Miene, »wenn er mich getötet hat.«

»Meine Herren,« rief Herr von Bragadino, »ich versichere Ihnen, daß keiner von Ihnen beiden sich mit Steffani schlagen wird, denn er ist tot.«

»Tot?« sagte der Graf.

»Sie dürfen dieses Wort nicht buchstäblich nehmen,« sagte der vorsichtige Barbaro, »aber ganz gewiß ist der Unglückliche für die Ehre tot.«

Nach dieser wahrhaft dramatischen Szene, die mir zeigte, daß das Stück dem Ende zueilte, begab ich mich zu meiner anbetungswürdigen Gräfin, indem ich dreimal die Gondel wechselte, eine notwendige Vorsicht, um die Spione irrezuführen.

Ich erstattete meiner neugierigen Gräfin, die ich sehr ungeduldig fand, mich zu sehen, genauen Bericht über alles. Sie weinte vor Freude, als ich ihr die Äußerungen ihres Vaters und die Sehnsucht, die er bekundet hatte, sie in seine Arme zu schließen, mitteilte. Aber als ich ihr die Versicherung gab, daß niemand wußte, daß Steffani in ihrem Zimmer gewesen war, da warf sie sich auf die Erde, um Gott zu danken.

Ich wiederholte ihr hierauf die Worte, die ihr Bruder mit so kaltblütiger Miene geäußert hatte: Sie werden ihn erst töten, wenn er mich getötet hat. Da umarmte sie mich, nannte mich ihren Schutzengel, ihren Retter und überströmte mein Gesicht mit Tränen. Ich versprach ihr spätestens am übernächsten Tag den geliebten Bruder zuzuführen; dann speisten wir, und von Steffani oder von Rache wurde kein Wort gesprochen. Nach dieser köstlichen Mahlzeit nahm uns die Liebe zwei volle Stunden lang schrankenlos in Besitz. Ich verließ sie gegen Mitternacht mit dem Versprechen, daß sie mich sehr zeitig am Morgen wiedersehen würde; ich brachte nicht die Nacht bei ihr zu, damit die Wirtin nötigenfalls mit gutem Gewissen schwören konnte, daß ich nie eine Nacht dort verbracht hätte. Es war übrigens ein guter Einfall von mir, denn als ich nach Hause kam, fand ich meine drei alten Freunde noch wach, die mich mit Ungeduld erwarteten, um mir eine überraschende Neuigkeit mitzuteilen, die Herr von Bragadino im Senat erfahren hatte.

»Steffani«, sagte er mir, »ist tot, wie unser Engel Paralis uns entdeckt hat: er ist tot für die Welt, denn er ist Kapuziner geworden. Der ganze Senat ist natürlich davon unterrichtet. Wir im besonderen wissen ja, daß es eine Strafe Gottes ist. Beten wir den Schöpfer aller Dinge und die himmlischen Mächte an, die uns würdig machen, zu wissen, was niemand weiß. Jetzt aber muß das Werk zu Ende geführt und der gute Vater getröstet werden. Wir müssen Paralis fragen, wo dieses Mädchen ist; sicherlich ist sie nicht bei Steffani, denn sie ist nicht dazu verdammt, Kapuzinerin zu werden.«

»Ich brauche meinen Engel nicht zu Rate ziehen, lieber Vater, denn nur um ihm zu gehorchen, mußte ich bisher den Ort geheimhalten, wo sich die junge Gräfin befindet.«

Ich erzählte ihnen hierauf die ganze Geschichte mit Ausnahme dessen, was sie nicht zu wissen brauchten; denn in den Köpfen dieser drei ausgezeichneten Männer, die selber der Liebe in sehr hohem Maße zinspflichtig gewesen waren, hatte jetzt sündhafte Liebe etwas Entsetzliches an sich. Die Herren Dandolo und Barbaro bezeugten große Überraschung, als sie erfuhren, daß die junge Dame seit vierzehn Tagen unter meinem Schutze stand; aber Herr von Bragadino sagte ihnen, dabei sei nichts zu verwundern, denn das läge im kabbalistischen System, und überdies wäre es ihm bekannt.

»Nur«, fügte er hinzu, »muß dem Grafen ein Geheimnis daraus gemacht werden, bis wir überzeugt sind, daß er ihr verzeihen und sie in ihre Vaterstadt führen wird oder wohin sie sonst wünscht.«

»Er muß ihr wohl verzeihen,« sagte ich, »denn das ausgezeichnete Mädchen hätte C. niemals verlassen, wenn der Verführer ihr nicht ein schriftliches Heiratsversprechen gegeben hätte. Sie erreichte zu Fuß das Marktschiff, aus dem sie in dem Augenblick ausstieg, als ich aus dem Römischen Tore trat. Eine Eingebung hieß mich, sie anzusprechen und sie einzuladen, mir zu folgen. Sie selbst gehorchte wie aus Eingebung, und ich habe sie an einen der Neugier unzugänglichen Ort unter den Schutz einer gottesfürchtigen Frau gebracht.«

Meine drei Freunde hörten mich so aufmerksam an, daß sie wie drei Bildsäulen aussahen. Ich sagte ihnen, sie möchten den Grafen für den übernächsten Tag zum Speisen einladen, weil ich Zeit haben müßte, Paralis de modo temendi zu befragen. Hierauf sagte ich Barharo, er möchte dem Grafen mitteilen, inwiefern er Steffani für tot ansehen müßte. Das wurde abgemacht, dann gingen wir schlafen.

Ich schlief nur vier oder fünf Stunden, dann kleidete ich mich hastig an, eilte zu meinem Engel und befahl der Witwe, den Kaffee erst zu bringen, wenn wir sie rufen würden, da wir einige ruhige Stunden brauchten, um mehrere Briefe zu schreiben.

Ich fand meine Göttin im Bette, aber wach, und ich las in ihren Blicken Genugtuung und Befriedigung. Ich hatte sie ein Dutzend Tage lang nur traurig, düster und nachdenklich gesehen. Ihre neue Zufriedenheit, die ich mir zuschreiben konnte, erfüllte mich mit Jubel. Zum erstenmal waren wir als glückliche Liebende zusammen und beschenkten uns gegenseitig verschwenderisch mit Beweisen der Liebe, der Zärtlichkeit und Dankbarkeit.

Nach unseren köstlichen Liebeskämpfen erstattete ich ihr Rechenschaft über alles, aber die Liebe hatte diese reine und gefühlvolle Seele so erfüllt, daß die Hauptsache für sie gänzlich zur Nebensache geworden war. Doch war sie von der Neuigkeit, daß ihr Verführer Kapuziner geworden sei, ganz verblüfft; sie stellte über dieses Ereignis sehr gescheite Betrachtungen an und beklagte ihn schließlich. Wenn man bedauert, haßt man nicht mehr, aber nur große und edelmütige Seelen sind solchen Vergebens fähig. Es war ihr ganz recht, daß ich meinen drei Freunden anvertraut hatte, sie sei in meiner Obhut, und sie überließ es mir, alle Anordnungen zu treffen, um sie mit ihrem Vater zusammenzubringen.

Von Zeit zu Zeit dachten wir daran, daß der Augenblick unserer Trennung nahe wäre, und dann empfanden wir eine peinliche Angst, die wir einen Augenblick darauf in der höchsten Wollust vergaßen. »Warum können wir uns nicht für das ganze Leben angehören?« sagte das anbetungswürdige Mädchen zu mir. »Ach, nicht die Bekanntschaft mit Steffani hat mich unglücklich gemacht, aber dein Verlust wird dies verursachen!«

Endlich mußten wir das süße Beisammensein abbrechen, denn die Stunden flossen mit unglaublicher Schnelligkeit dahin. Ich verließ sie glücklich, die Augen feucht von Tränen des Glückes.

Bei Tische sagte mir Herr Barbaro, er habe die Mutter Steffanis, seine angebliche Verwandte, besucht, und sie sei über den Entschluß ihres Sohnes nicht erzürnt gewesen, obwohl er ihr einziges Kind sei. »Er hatte zwischen dem Tod und der Kapuzinerkutte zu wählen,« sagte sie, »und er hat das klügste Teil erwählt.«

Die Frau sprach als gute Christin, und sie machte Anspruch darauf, eine zu sein, aber sie sprach als schlechte Mutter, und das war sie auch; denn da sie reich war, so wäre ihr Sohn niemals vor die Wahl zwischen Tod und Kloster gestellt worden, wenn sie nicht so furchtbar geizig gewesen wäre.

Der letzte und stärkste Grund zur Verzweiflung Steffanis, der noch lebt, blieb jedermann unbekannt. Meine Memoiren werden ihn kundmachen, wenn er niemanden mehr interessieren wird.

Der Graf und sein Sohn, von diesem Ereignis sehr überrascht wünschten nur noch die junge Gräfin wiederzufinden, um sie nach C., in den Schoß ihrer Familie zurückzuführen. Aber um ihren Aufenthalt zu erfahren, war der Graf entschlossen, die vier Beschuldigten und Anzeiger, außer mir, vorladen zu lassen. Dies zwang uns, ihm zu erklären, daß sie in meiner Obhut wäre, und Herr von Bragadino übernahm es, ihm die Sache zu entdecken.

Wir waren sämtlich zum Abendessen bei dem Grafen eingeladen, mit Ausnahme des Herrn von Bragadino, der sich entschuldigt hatte; wir gingen hin, und dies hinderte mich, meine Göttin diesen Abend zu besuchen; aber am nächsten Tage in aller Frühe war ich bei ihr, die verlorene Zeit einzuholen, und da es entschieden war, daß der Vater noch an diesem Tage alles erfahren sollte, so trennten wir uns erst zu Mittag.

Wir hatten keine Hoffnung, uns allein wieder beisammen zu finden, denn am Nachmittag sollte ich ihren Bruder zu ihr führen.

Der Graf und fein Sohn speisten mit uns und als wir uns vom Tisch erhoben, sagte Herr von Bragadino: »Freuen wir uns, Herr Graf, Ihre teure Tochter ist wieder gefunden!«

Welch angenehme Überraschung für Vater und Sohn! Herr von Bragadino zeigte ihnen das Heiratsversprechen, das Steffani der Gräfin geschrieben hatte, und sagte: »Dies, meine Herren, hat einen Augenblick der liebenswürdigen jungen Dame den Kopf eingenommen, als sie erfuhr, daß er C. ohne sie verlassen hätte. Sie ging allein zu Fuße fort und, kaum hier angelangt, führte sie der Zufall mit dem großen jungen Manne zusammen, den Sie hier sehen.

Dieser überredete sie, ihm zu folgen, und er hat sie den Händen einer ehrbaren Frau übergeben, von der sie sich seither nicht getrennt hat und von der sie nur fortgehen wird, um sich in Ihre Arme zu werfen, sobald sie sicher ist, Verzeihung und Vergessenheit des begangenen Fehltrittes zu finden.«

»Meiner Verzeihung darf sie gewiß sein,« sagte der Vater in zärtlicher Begeisterung. Und sich zu mir wendend, fuhr er fort: »O, mein Herr, haben Sie die Güte und zögern Sie nicht, mir eine Befriedigung zu verschaffen, von der das Glück meines Lebens abhängt.«

Ich umarmte ihn herzlich und sagte ihm, sie werde ihm morgen zurückgegeben werden, allein noch heute würde ich seinen Sohn zu ihr führen, damit er sie auf diese süße Wiedervereinigung durch einen allmählichen Übergang vorbereite. Herr Barbaro wünschte dabei zu sein, und der junge Graf umarmte mich, von dieser Anordnung entzückt, und schwor mir ewige Freundschaft.

Wir gingen fort, und eine Gondel führte uns in wenigen Augenblicken an den Ort, wo ich einen kostbareren Schatz als die Äpfel der Heseriden bewahrte. Aber ach! Diesen Schatz, der mir heute noch ein süßes Beben verursacht, sollte ich für immer verlieren.

Ich ging meinen beiden Begleitern voraus, um meine junge und schöne Freundin über ihre Annäherung zu verständigen, und als ich ihr gesagt hatte, daß ich die Sache so geordnet hätte, daß ihr Vater sie erst am nächsten Tage sehen würde, rief sie mit dem Ausdruck des Glückes: »Ach, wir können also noch einige Stunden zusammen verbringen! Geh, mein Freund, und hole meinen Bruder.«

Ich kehre mit den Herren zurück. Aber wie soll ich die dramatische Szene beschreiben, die sich nun abspielte? O, wie weit wird die Kunst immer hinter der Natur zurückbleiben! Die geschwisterliche Liebe und das Entzücken, die sich auf diesen beiden reizenden Gesichtern mit einer kleinen Beimischung von Verwirrung auf dem der anbetungswürdigen Schwester ausdrückten, die reine Freude, die durch die zärtlichsten Umarmungen leuchtete, die beredtesten Ausrufe, gefolgt von einem noch beredteren Schweigen, ihre zärtlichen Blicke, die wie Blitze über einem Tau gefühlvoller Tränen funkelten, dann ihre Verwirrung, als ihr plötzlich einfiel, die Pflichten der Höflichkeit gegenüber einem hochstehenden vornehmen Herrn, den sie zum erstenmal sah, vergessen zu haben, schließlich meine Person, der stumme und eigentliche Urheber dieser Szene, der aber über allen diesen Gefühlsausbrüchen gänzlich vergessen war – alles das gewährte ein Bild, das der geschickteste Maler nur mit Mühe hätte wiedergeben können.

Schließlich setzten wir uns, die Gräfin zwischen ihrem Bruder und Herrn Barbaro auf einem Sofa, ich ihr gegenüber auf einem Taburett.

»Wem, meine teure Schwester, verdanken wir das Glück, dich wiedergefunden zu haben?«

»Meinem Schutzengel,« sagte sie, mir die Hand reichend, »diesem edelmütigen Manne, der mich erwartete, als ob es ihm vom Himmel eingegeben worden wäre, über deiner Schwester zu wachen. Er hat mich gerettet, hat mich vor dem Abgrund bewahrt, der sich vor meinen Füßen auftat. Er hat mich vor der Schmach gerettet, die mich bedrohte und von der ich keinen Begriff hatte, und er küßt, wie Sie sehen, meine Hand zum erstenmal.«

Sie drückte ihr Taschentuch auf ihre schönen Augen, um einige Tränen wegzuwischen, mit denen wir die unsrigen mischten.

Das ist die wahre Tugend, die nie ihren edlen Charakter verliert, selbst wenn ihr die Scham eine unschuldige Lüge entreißt. Übrigens wußte die liebenswürdige Gräfin in diesem Augenblicke nicht, daß sie log. Aus ihrem hübschen Munde sprach eine reine, tugendhafte Seele, und sie überließ sich einfach dem, was diese ihr eingab. Diese Tugend wollte ihr Wesen darstellen, gleichsam um ihr zu sagen, daß sie trotz ihren Verirrungen sich niemals von ihr getrennt hatte. Ein junges Mädchen, das der Liebe und dem Gefühl gehorcht, kann kein Verbrechen begehen und daher auch keinen Gewissensbissen zugänglich sein.

Als der zärtliche Besuch zu Ende ging, sagte sie, sie sehne sich danach, sich ihrem Vater zu Füßen zu werfen, aber sie wünsche, daß es erst gegen Abend geschehe, um nicht der Nachbarschaft Stoff zum Klatsch zu geben. Es wurde also abgemacht, daß diese Zusammenkunft, die die Lösung des dramatischen Knotens bringen sollte, erst mit Anbruch der folgenden Nacht stattzufinden habe.

Wir gingen zum Grafen, der uns zum Essen eingeladen hatte, und dieser gute und wackere Mensch, der fest überzeugt war, daß er mir seine Ehre und die seiner Tochter und ihrer Familie verdankte, sprach nur mit mir und blickte mich nur mit Bewunderung an. Er freute sich indessen, daß er, schon vor meinem Geständnis, gewußt hätte, daß ich es war, der nach ihrem Aussteigen aus dem Marktschiff zuerst mit ihr gesprochen hätte. Bevor wir uns trennten, bat Herr Barbaro sie für den nächsten Tag zum Mittagsmahl.

Ich begab mich sehr frühzeitig zu meiner Schönen und obwohl es gefährlich war, zu lange beisammen zu bleiben, beschäftigte uns diese Sorge wenig, oder vielmehr, wenn wir daran dachten, so geschah es nur deshalb, um die wenigen Augenblicke, die uns die Liebe noch ließ, besser zu benützen.

Nachdem wir bis zur Erschöpfung alles durchgekostet hatten, was die lebhafteste Zärtlichkeit an süßer Wollust zwei jungen, starken und leidenschaftlichen Verliebten verschaffen kann, kleidete sich meine junge Gräfin an, zog ihre Schuhe an und, indem sie ihre Pantoffeln küßte, sagte sie, sie werde sich gewiß nur im Tode von ihnen trennen. Ich hat sie um eine Locke von ihrem Haar, die ich augenblicklich erhielt. Ich ließ daraus das Gegenstück zur Schnur von den Haaren der Frau F. verfertigen, die ich noch trug.

Mit der Abenddämmerung begaben der Graf, sein Sohn, die Herren Dandolo, Barbaro und ich uns zur Gräfin. Sobald sie ihren Vater erblickte, stürzte sie sich zu seinen Füßen; heiße Tränen vergießend, hob er sie schnell auf, umarmte sie, verzieh ihr und gab ihr seinen väterlichen Segen. Alles dies ging mit Zärtlichkeit, mit Gefühl und Liebe vor sich. Eine Stunde später begleiteten wir die Familie nach dem Gasthof und, nachdem wir ihnen die glücklichste Reise gewünscht hatten, kehrte ich mit meinen beiden Freunden zu Herrn von Bragadino zurück, dem ich alles erzählte, was vorgegangen war.

Am nächsten Morgen glaubten wir, sie wären schon abgereist, als wir sie in einer sechsruderigen Peotte zu dem Palast kommen sahen. Sie hatten Venedig nicht verlassen wollen, ohne uns wiederzusehen und uns für den großen Dienst zu danken, den wir und ich besonders, wie sie glaubten, ihnen geleistet hatten. Herr von Bragadino, der die junge Gräfin noch nicht gesehen hatte, war von der außerordentlichen Ähnlichkeit des Bruders mit der Schwester ganz überrascht.

Nachdem sie einige Erfrischungen zu sich genommen hatten, bestiegen sie ihre Peotte wieder, die sie in vierundzwanzig Stunden nach Pontelagoscuro am Po bringen sollte, also an die Grenze des Kirchenstaates. Ich konnte nur mit den Augen dem anbetungswürdigen Mädchen alles ausdrücken, was mein Herz in diesem Augenblick empfand, aber sie verstand ihre Sprache, und die der ihrigen wußte ich leicht zu deuten.

Niemals kam eine Empfehlung gelegener als in dieser Angelegenheit die an Herrn Barbaro gerichtete. Sie diente zur Rettung einer ehrenwerten Familie und ersparte mir die Unannehmlichkeiten, die ich gehabt haben würde, wenn ich vor dem Rat der Zehn hätte Rechenschaft ablegen sollen, was aus dem Fräulein geworden wäre; denn zweifellos wäre ich überführt worden, daß ich sie mit mir genommen hatte.

Wenige Tage darauf reisten wir alle vier nach Padua, um bis zum Ende des Herbstes dort zu bleiben. Ich hatte den Schmerz, den Doktor Gozzi nicht mehr dort zu finden; er war Pfarrer in einem Städtchen geworden, wo er mit Bettina lebte; denn sie hatte es bei dem Taugenichts nicht aushalten können, der sie nur geheiratet hatte, um sie ihrer kleinen Mitgift zu berauben, und der sie außerordentlich unglücklich machte.

Der ruhige Müßiggang der großen Stadt konnte mir wenig gefallen, und um die Langweile zu töten, verliebte ich mich in die berühmteste Kurtisane Venedigs. Sie hieß Ancilla und ist dieselbe, die der berühmte Tänzer Campioni später heiratete und die er nach London führte, wo sie die Todesursache eines sehr liebenswürdigen Engländers wurde. Ich werde nach vier Jahren ausführlicher von ihr sprechen; jetzt will ich nur von einem Ereignis sprechen, das schuld daran war, daß meine Liebe nur drei oder vier Wochen dauerte.

Graf Medini, ein junger Brausekopf wie ich und von denselben Neigungen wie ich, stellte mich dem Mädchen vor. Der Graf war ein unerschrockener Spieler und ein erklärter Feind des Glückes. Man spielte bei Ancilla, deren Hauptliebhaber er war, und der gute Apostel verschaffte mir die Bekanntschaft seiner Mätresse nur, um mich beim Kartenspiel betrügen zu können.

In der Tat wurde ich anfangs betrogen, aber da ich nichts merkte, so machte ich gute Miene zum bösen Spiel. Als ich mich jedoch eines Tages auf eine sehr auffallende Art bestohlen sah, zog ich eine Pistole aus meiner Tasche, setzte ihm die Mündung auf die Brust und drohte ihn zu töten, wenn er mir nicht augenblicklich zurückerstattete, was er mir gestohlen hätte. Ancilla wurde ohnmächtig, er aber gab mir mein Geld zurück und forderte mich auf, mit ihm hinauszugehen, um unsere Degen zu messen. Dies nahm ich an, legte meine Pistole auf den Tisch, und wir gingen hinaus. An einem geeigneten Ort angelangt, zogen wir bei Mondschein die Klingen, und ich hatte das Glück, ihm einen Stich durch die Schulter beizubringen. Da der Graf den Arm nicht mehr ausstrecken konnte, war er gezwungen, mich um Schonung zu bitten.

Nach dieser Waffentat legte ich mich nieder und schlief sehr gut. Als ich aber in der Frühe den Handel meinem Vater erzählt hatte, glaubte ich seinem Rate folgen und Padua augenblicklich verlassen zu müssen.

Graf Medini war sein Leben lang mein Feind; ich werde Gelegenheit haben, wieder von ihm zu sprechen, wenn der Leser mich in Neapel finden wird.

Der übrige Teil des Jahres verfloß in gewohntem Lebenswandel, ohne große Ereignisse, und ich war mit dem Glück bald zufrieden, bald unzufrieden.

Gegen Ende des Januars 1747 empfing ich einen Brief von der jungen Gräfin A. S., die nicht mehr ihren Namen trug, da sie den Marchese von *** geheiratet hatte. Sie bat mich, wenn der Zufall mich in die Stadt führte, wo sie wohnte, so zu tun, als ob ich sie nicht kennte, denn sie hätte das Glück, mit einem Manne verbunden zu sein, der ihr Herz gewonnen hätte, nachdem sie ihm ihre Hand gegeben.

Ich hatte schon durch ihren Bruder erfahren, daß ihre Mutter sie gleich nach ihrer Heimkehr nach der Stadt gebracht hatte, von wo sie mir schrieb, und daß sie dort bei einem Verwandten, wo sie wohnte, die Bekanntschaft eines Mannes gemacht hatte, der sich zur Aufgabe gestellt hatte, sie glücklich zu machen. Ich sah sie ein Jahr darauf und ohne den Brief, den sie mir geschrieben hatte, würde ich mich sicherlich ihrem Gemahl vorgestellt haben. Die Süßigkeiten des Friedens sind den Reizen der Liebe vorzuziehen, aber so denkt man nicht, wenn man verliebt ist.

In dieser Zeit fesselte mich etwa vierzehn Tage lang eine junge, sehr hübsche Venezianerin, die ihr Vater Ramon der Bewunderung des Publikums zur Schau stellte, indem er sie auf dem Theater tanzen ließ. Ich würde vielleicht meine Fesseln länger getragen haben, wenn Hymen sie nicht zerbrochen hätte. Ihre Beschützerin, Frau Cecilia Valmarauo, fand für sie einen passenden Gatten in einem französischen Tänzer, namens Binet, der den Namen Binetti annahm. Seine junge Gattin konnte daher Italienerin bleiben und brauchte keine Französin zu werden. Diese Binetti besaß das eigentümliche und seltene Vorrecht, daß die Jahre auf ihren Zügen nur leichte Spuren hinterließen. Sie erschien immer allen ihren Liebhabern jung, selbst den feinsten Kennern gealterter Züge. Die Männer verlangen im allgemeinen nichts weiter, und sie haben recht, wenn sie sich nicht noch die Mühe machen, sich zu überzeugen, daß sie vom Schein betrogen werden. Der letzte Liebhaber, dem diese einzige Frau durch das Übermaß des Vergnügens den Tod brachte, war ein gewisser Mosciuski, ein Pole, den sein Schicksal vor sieben oder acht Jahren nach Venedig rief. Die Binetti war damals dreiundsechzig Jahre alt.

Das Leben, welches ich in Venedig führte, hätte mir glücklich erscheinen können, wenn ich mich hätte enthalten können, in der Bassette zu pointieren. Das Bankhalten war auf den Ridotti nur den Nobili allein erlaubt; sie durften nicht maskiert sein und mußten das Patrizierkleid tragen, mit der großen Perücke auf dem Kopfe, die seit Beginn des Jahrhunderts zur Amtstracht gehörte. Ich spielte und tat unrecht daran, denn ich besaß weder die Klugheit, aufzuhören, wenn das Glück gegen mich war, noch die Willenskraft, einzuhalten, wenn ich einen Gewinn gemacht hatte. Ich spielte damals wirklich nur aus Geiz. Ich liebte die Verschwendung, aber jede Ausgabe tat mir leid, wenn sie nicht auf Kosten des im Spiel gewonnenen Geldes ging, denn dieses allein schien mir nichts gekostet zu haben.

Am Ende des Monats Januar sah ich mich in die Notwendigkeit versetzt, mir zweihundert Zechinen zu verschaffen. Frau Manzoni ließ mir durch eine andere Dame einen Brillanten leihen, der fünfhundert wert war. Ich beschloß, mich nach Treviso, fünfzehn Meilen von Venedig, zu begeben, um ihn in das Leihhaus zu tragen, das Gelder zu fünf auf Hundert leiht. Diese schöne und nützliche Anstalt fehlt in Venedig, wo die Juden ihre Zulassung stets zu verhindern gewußt haben.

Ich stand früh auf und ging zu Fuß bis an das Ende des Canal regio, in der Absicht, eine Gondel nach Mestre zu nehmen, wo ich einen Postwagen genommen haben würde, der mich in nicht ganz zwei Stunden nach Treviso gebracht haben würde; von dort wäre ich noch an demselben Tage, nachdem ich den Brillanten versetzt hätte, zurückgekehrt und hätte die Nacht wieder in Venedig schlafen können.

Als ich über den Kai von San Giobbe ging, sah ich in einer zweirudrigen Gondel ein sehr reich geputztes Bauernmädchen. Ich blieb stehen, um sie zu betrachten. Der Barkarole am Steuer dachte, ich wolle die Gelegenheit benützen, um billiger nach Mestre zu kommen, und sagte dem Barkarolen auf dem Schiffshinterteil, er solle auf das Ufer zuhalten. Ich zögerte nicht einen Augenblick, als ich das hübsche Gesicht des Bauernmädchens sah, stieg ein und zahlte ihm das Doppelte, damit er niemand mehr aufnähme. Ein alter Priester nahm den ersten Platz neben dem Mädchen ein, er erhob sich, um mir Platz zu machen, aber ich nötigte ihn höflich, sich wieder zu setzen.