Mein Aufenthalt in Aix in der Provence. – Schwere Krankheit. – Ich werde von einer Unbekannten gepflegt. – Der Marquis d’Argens. – Cagliostro. – Meine Abreise. – Brief von Henrietten. – Marseille. – Geschichte der Nina. – Nizza. – Turin. – Lugano. –Frau von ***.

Da mein Zimmer von der kastilianischen Eminenz nur durch eine leichte Scheidewand getrennt war, so hörte ich beim Abendessen den Kardinal seinem Haushofmeister einen derben Verweis erteilen, daß er auf der Reise an den Mahlzeiten und Wohnungen sparte, wie wenn er der armseligste aller Spanier wäre. »Eure Gnaden, ich spare durchaus nicht; aber es ist nicht möglich, mehr auszugeben, wenn ich nicht etwa die Wirte zwinge, für die Mahlzeiten, die sie mir geben, das Doppelte zu verlangen. Eure Eminenz finden ja selber, daß das Essen ausgezeichnet und reichlich ist.«

»Das mag sein, aber wenn Sie ein bißchen Geist hätten, könnten Sie zum Beispiel durch reitende Boten Mahlzeiten bestellen, die ich unterwegs nicht einnehmen würde und die Sie natürlich trotzdem zu bezahlen hätten; ferner könnten Sie für zwölf bestellen, während wir nur sechs sind; vor allen Dingen müssen stets drei Tafeln da sein: eine für mich, die zweite für die Beamten meines Haushaltes, die dritte für die Bedienten. Ich sehe aus dieser Rechnung, daß Sie den Postillonen immer nur einen Franken Trinkgeld geben; Sie müßten ihnen wenigstens einen Taler geben; denn über eine solche Knickerei muß ich ja erröten. Wenn man Ihnen auf einen Louis herausgibt, müssen Sie das Geld auf dem Tische liegen lassen, statt es in Ihre Tasche zu stecken. Von Schäbigkeiten will ich nichts wissen. Man wird in Versailles und Madrid, vielleicht sogar in Rom sagen: der Kardinal de la Cerda ist ein Geizhals. Ich bin es nicht und will nicht in solchem Rufe stehen. Ich verlange, daß Sie mich fernerhin nicht mehr entehren; sonst müssen Sie gehen.«

Dieses eigentümliche Gespräch würde mich ein Jahr früher sehr überrascht haben; jetzt aber hörte ich es ohne Erstaunen an, denn ich hatte inzwischen den spanischen Charakter einigermaßen kennen gelernt: alles für den Ruhm, oder vielmehr für das Großtun!

Wenn ich die freigebige Verschwendung des *Senor de la Cerda bewunderte, so konnte ich andererseits nicht umhin, es kläglich zu finden, wie dieser Kirchenfürst in einem Augenblick, wo er an der Wahl des Oberhauptes der Christenheit teilnehmen sollte, sich mit seinen Reichtümern brüstete.

Was ich aus dem Munde des Prälaten gehört hatte, machte mir Lust, ihn zu sehen, und ich paßte auf, als er abreiste. Was für ein Mann! Er war nicht nur klein, braun von Farbe, schlecht gewachsen, sondern es war auch ein Gesicht so häßlich, der Ausdruck seiner Züge so gemein, daß neben Seiner Eminenz Äsop wie ein Liebesgott hätte aussehen müssen. Nun begriff ich, warum er das Bedürfnis hatte, sich durch Verschwendung Achtung zu verschaffen und sich durch äußeren Prunk auszuzeichnen; denn sonst hätte man ihn für einen Stallknecht halten können. Sollte jemals das Konklave die sonderbare Laune haben, ihn zum Papst zu machen, so würde Gottes Sohn niemals einen häßlicheren Statthalter auf Erden gehabt haben.

Sogleich nach der Abfahrt Seiner Eminenz erkundigte ich mich nach dem Marquis d’Argens und erfuhr, er sei auf dem Lande bei seinem Bruder, dem Parlaments-Präsidenten, Marquis l’Eguille. Ich begab mich dorthin.

Der Marquis, der mehr durch die beständige Freundschaft Friedrichs des Zweiten als durch seine heutigentags von keinem Menschen mehr gelesenen Werke berühmt geworden ist, war damals schon alt. Ehrenhaft und sinnlich, liebenswürdig und witzig, ein überzeugter Epikuräer, lebte der Marquis d’Argens mit der Schauspielerin Cochois zusammen, die er geheiratet hatte und die es verstand, sich dieser Ehre würdig zu zeigen. Der Marquis selber besaß ein gründliches gelehrtes Wissen und eine große Kenntnis der lateinischen, griechischen und hebräischen Sprache; er war mit einem wunderbaren Gedächtnis begabt und infolgedessen vollgepfropft mit Kenntnissen.

Er empfing mich sehr gut, da er sich erinnerte, was sein Freund, Mylord Marishal, ihm über mich geschrieben hatte. Er stellte mich seiner Frau und seinem Bruder vor. Dieser war ein ausgezeichneter Beamter, ziemlich reich, ein Freund der Wissenschaften. Er führte einen streng sittlichen Lebenswandel, und dazu veranlaßte ihn noch mehr sein Charakter als sein religiöser Glaube. Das will viel sagen; denn er war aufrichtig fromm, obwohl er ein kluger Mann war. Übrigens können nach meiner Meinung diese beiden Eigenschaften sich sehr wohl miteinander vertragen.

Trotzdem überraschte es mich sehr, daß er ein sogenannter Jesuit von der kurzen Robe war; er liebte seinen Bruder zärtlich und seufzte fortwährend über dessen sogenannte Irreligiosität; doch hoffte er immer noch, daß die werktätige Gnade ihn früher oder später in den Schoß der Kirche zurückführen würde. Sein Bruder ermutigte ihn zu diesen Hoffnungen und lachte zugleich darüber. Da sie beide vernünftige Leute waren, so vermieden sie es, von Religion zu sprechen, um sich nicht zu ärgern.

Man stellte mich einer zahlreichen Gesellschaft vor, die aus Verwandten beiderlei Geschlechtes bestand. Alle waren liebenswürdig und höflich, wie eben der Adel der Provence durchweg ist.

Man spielte Komödie auf einem hübschen kleinen Theater, aß und trank gut und ging trotz der Jahreszeit spazieren. Aber in der Provence macht sich die Strenge des Winters nur fühlbar, wenn der Nordwind weht, was leider oft der Fall ist.

Eine Berlinerin, die Witwe eines Neffen des Marquis d’Argens, war nebst ihrem Bruder auf dem Schlosse anwesend. Der noch sehr junge Mann, ein lustiger Tollkopf, hatte seine Freude an allen Vergnügungen des Hauses, kümmerte sich aber gar nicht um den Gottesdienst, der jeden Tag abgehalten wurde. Als geborener Ketzer dachte er höchst selten einmal an die Kirche, während das ganze Haus der Messe beiwohnte, die der Jesuit, bei dem die ganze Familie beichtete, jeden Tag las, spielte er auf seiner Flöte lustige Walzer. Er lachte über alles. Mit seiner Schwester war es anders; sie war nicht nur katholisch geworden, sondern auch so fromm, daß das ganze Haus sie für eine Heilige ansah, obgleich sie erst zweiundzwanzig Jahre alt war. Das war das Werk des Jesuiten.

Ihr Bruder erzählte mir, ihr Mann, der an der Schwindsucht gestorben sei, habe im Augenblick seines Todes zu ihr gesagt: er könne nicht hoffen, sie im Jenseits wiederzusehen, wenn sie nicht katholisch werde.

Diese Worte hatten sich in ihre Seele eingegraben, und da sie ihren Gatten anbetete, hatte sie sich entschlossen, Berlin zu verlassen und bei den Verwandten ihres Mannes zu leben. Niemand hatte gewagt, sich ihrer Absicht zu widersetzen. Ihr Bruder erklärte sich bereit, sie zu begleiten, und sobald sie sich den Verwandten des Verstorbenen entdeckt hatte, herrschte die größte Freude in der ganzen Familie.

Diese angehende Heilige war häßlich.

Ihr junger Bruder wurde bald mein Freund, da er mich in meinen Ansichten weniger starr fand als seine Verwandten. Er kam alle Tage nach Aix, um mich in allen adligen Familien einzuführen.

Wir waren jeden Tag mindestens dreißig Personen bei Tisch; das Essen war gut und lecker, aber ohne Übertreibung. Es herrschte der Ton der guten Gesellschaft, die Scherze waren geschmackvoll und alle Bemerkungen anständig. Ausgeschlossen waren doppelsinnige Bemerkungen, die sich auf die Geschlechtsliebe bezogen oder darauf hätten bezogen werden können. Wenn dem Marquis d’Argens eine derartige Bemerkung auch nur in ganz verschleierter Form entschlüpfte, so schnitten die Damen jedesmal Gesichter, und der Herr Beichtvater beeilte sich, ein anderes Gespräch zu beginnen. Dieser Beichtvater hatte nichts von der jesuitischen Weltgewandtheit an sich, denn er ging auf dem Lande wie ein einfacher Abbé gekleidet, und ich hätte nicht erraten, daß er Jesuit wäre, obwohl man doch dieses Wild von weitem wittern muß. Der Marquis d’Argens hatte mich darauf aufmerksam gemacht; übrigens übte die Gegenwart des Pfaffen durchaus keine Wirkung auf meine natürliche Heiterkeit aus.

Ich erzählte in sorgfältig gewählten Ausdrücken die Geschichte von dem Bilde der Jungfrau, die ihren göttlichen Sprößling säugte und von den Spaniern nicht mehr angebetet wurde, als der unglückselige Pfarrer ihren schönen Busen mit einem häßlichen Tuch hatte bedecken lassen. Ich weiß nicht mehr auf welche besondere Art ich diese Geschichte erzählte, aber alle Damen lachten darüber. Dieses Lachen mißfiel dem Jünger Loyolas so sehr, daß er sich erlaubte, mir zu sagen, man dürfe Geschichten, die sich zweideutig auslegen ließen, nicht öffentlich erzählen. Ich dankte ihm mit einer Neigung des Kopfes, und um das Gespräch abzulenken, fragte der Marquis d’Argens mich, wie man auf italienisch eine große Fleischpastete nenne, die Madame d’Argens gerade eben verteilte und die von allen ausgezeichnet gefunden wurde.

»Wir nennen das eine Crostata, doch weiß ich nicht, wie man die Beatilien bezeichnet, mit denen sie gefüllt ist.«

Diese Beatilien waren kleine Schweserwürstchen, Champignons, Artischockenböden, Gänseleber usw.

Der Jesuit fand, ich machte mich über den ewigen Ruhm lustig, indem ich dieses Allerlei Beatilien nannte.

Über diese dumme Empfindlichkeit mußte ich unwillkürlich laut auflachen. Der Marquis d’Eguille nahm meine Partei und sagte, Beatilles sei in gutem Französisch die Bezeichnung für alle Leckereien.

Nachdem er sich in dieser Weise erlaubt hatte, gegen seinen Gewissensbeirat aufzutreten, hielt der verständige Mann es für besser, von etwas anderem zu sprechen. Unglücklicherweise trat er erst recht ins Töpfchen, indem er mich fragte, welchen Kardinal man nach meiner Meinung zum Papst machen würde.

»Ich möchte darauf wetten, daß man den Pater Ganganelli wählen wird, denn er ist der einzige Kardinal, der zugleich Mönch ist.«

»Warum muß man denn durchaus einen Mönch zum Papst wählen?«

»Weil nur ein Mönch imstande ist, das zu tun, was Spanien von dem neuen Pontifex verlangt.«

»Sie meinen die Unterdrückung des Jesuiten-Ordens?«

»Ganz recht.«

»Spanien verlangt sie vergebens.«

»Ich wünsche es; denn in den Jesuiten liebe ich meine Lehrer; aber ich hege große Befürchtungen, denn ich habe einen schrecklichen Brief gelesen. Abgesehen davon wird Kardinal Ganganelli noch aus einem anderen Grund gewählt werden, über den Sie lachen werden, der aber nichtsdestoweniger ausschlaggebend ist.«

»Was ist das für ein Grund? Nennen Sie ihn uns; wir werden lachen.«

»Er ist der einzige Kardinal, der keine Perücke trägt. Solange das Papsttum besteht, hat auf Sankt Peters Stuhl niemals ein Papst mit einer Perücke gesessen.«

Da ich allen diesen Bemerkungen den Anstrich eines leichten Scherzes gab, so wurde viel darüber gelacht; hierauf aber veranlaßte man mich, in Ernst über die Aufhebung des Ordens zu sprechen, und als ich alles sagte, was ich vom Abbate Pinzi erfahren hatte, sah ich meinen Jesuiten erbleichen.

»Der Papst«, sagte er, »kann diesen Orden nicht unterdrücken.«

»Augenscheinlich, Herr Abbé haben Sie nicht bei den Jesuiten studiert; denn Sie haben den Satz aufgestellt: Der Papst kann alles et aliquid pluris.«

Infolge dieser Worte glaubten alle, ich wüßte nicht, daß ich mit einem Jesuiten spräche, und da er nicht antwortete, so begannen wir von etwas anderem zu reden.

Nach dem Essen bat man mich, zur Aufführung des Polieucte dazubleiben; aber ich entschuldigte mich und fuhr mit dem jungen Berliner nach Aix zurück. Dieser erzählte mir die Geschichte seiner Schwester und schilderte den Charakter der verschiedenen Personen, aus denen die tägliche Gesellschaft des Marquis d’Eguille bestand. Ich sah, daß es mir unmöglich sein würde, mich ihren Gewohnheiten und Vorurteilen anzuschmiegen, und wenn ich nicht durch den jungen Berliner reizende Bekanntschaften gemacht hätte, so wäre ich nach Marseille gegangen.

Mit Gesellschaften, Bällen, Soupers und Liebeleien mit sehr hübschen Provencalinnen verbrachte ich den Karneval und einen Teil der Fastenzeit in Aix.

Ich hatte dem Marquis d’Argens, der ebenso gut griechisch sprach wie französisch, eine Ilias von Homer zum Geschenk gemacht. Ferner hatte ich seiner Adoptivtochter eine lateinische Tragödie geschenkt, denn sie verstand die lateinische Sprache sehr gut.

Meine Iliade hatte die Anmerkungen des Porphyrius. Es war ein seltenes Exemplar in reichem Einbande.

Der Marquis kam nach Aix, um mir zu danken, und ich mußte, seiner Einladung folgend, noch einmal auf das Land hinausgehen.

Am Abend fuhr ich ohne Mantel in einem offenen Wagen bei sehr kaltem Nordwind nach Aix zurück. Ich kam ganz erstarrt an. Anstatt sogleich zu Bett zu gehen, begleitete ich den jungen Berliner zu einer Frau, die eine junge Tochter von seltener Schönheit hatte, ein Mädchen von herrlichem Wuchs, mit allen Zeichen vollständiger Mannbarkeit, obgleich sie nur vierzehn Jahre alt war. Dieses kleine Wunder forderte alle Liebhaber heraus, es zu entjungfern. Mein Berliner hatte sich bereits mehrere Male bemüht, es war ihm jedoch nicht gelungen. Ich lachte ihn aus, denn ich wußte, daß es nur Spiegelfechterei war, und war entschlossen, die junge Spitzbübin aus dem Sattel zu heben, wie mir ähnliches bereits in England und in Metz gelungen war.

Da das Mädchen uns zur Verfügung stand, so gingen wir ans Werk. Die junge Spitzbübin dachte nicht an Widerstand, sondern sagte, sie wünsche gar nichts Besseres, als von ihrem unangenehmen Leiden befreit zu werden.

Ich bemerkte sofort, daß die Schwierigkeit nur von ihrer schlechten Haltung herrührte; ich hätte sie vor allen Dingen durchprügeln sollen, wie ich es fünfundzwanzig Jahre früher in Venedig getan hatte; aber törichterweise wollte ich durch Anwendung von Kraft siegen, denn ich glaubte, ich könnte sie vergewaltigen.

Die Zeit der Wundertaten war jedoch vorbei.

Nachdem ich zwei Stunden lang mich vergeblich bemüht hatte, ging ich allein in meinen Gasthof zurück, indem ich den jungen Preußen weiterarbeiten ließ.

Als ich mich zu Bett legte, verspürte ich sehr heftiges Seitenstechen, und nachdem ich sechs Stunden geschlafen hatte, fühlte ich mich sehr unwohl. Es war eine Lungenentzündung ausgebrochen. Ein alter Arzt, den der Wirt holen ließ, wollte mich zu Ader lassen. Ich hatte einen heftigen Husten, und am nächsten Tage begann ich Blut zu spucken. Nach sechs oder sieben Tagen war die Krankheit so ernst, daß ich beichtete und die letzte Wegzehrung erhielt.

Am zehnten Tage, nachdem ich drei Tage lang bewußtlos gewesen war, erklärte der alte Arzt, ein geschickter Mann, ich werde bestimmt mit dem Leben davonkommen; aber erst am achtzehnten Tage hörte ich auf, Blut zu spucken.

Hierauf begann eine Rekonvaleszenz, die drei Wochen dauerte und die ich schwerer zu ertragen fand als meine Krankheit; denn ein Kranker, der leidet, hat keine Zeit sich zu langweilen. Während der ganzen Krankheit wurde ich Tag und Nacht von einer Frau gepflegt, die ich nicht kannte. Ich wußte nicht einmal, woher sie kam. Da ich mich aber mit unendlicher Sorgfalt und Aufmerksamkeit bedient sah, so wartete ich nur meine vollständige Heilung ab, um sie zu belohnen und wieder fortzuschicken.

Diese Frau war nicht alt, sah aber auch nicht so aus, um mir den Wunsch einzuflößen, mich mit ihr zu belustigen. Sie hatte während meiner Krankheit beständig in meinem Zimmer geschlafen.

Gleich nach dem Osterfest fühlte ich mich bereits wohl genug, um wieder ausgehen zu können. Ich belohnte sie nach besten Kräften, dankte ihr, und fragte sie, wer sie zu mir gebracht habe. Sie antwortete mir, der Arzt habe sie zu meiner Pflege angenommen; hierauf dankte sie mir und entfernte sich.

Als ich ein paar Tage später meinem alten Doktor dafür dankte, daß er mir eine so gute Krankenpflegerin besorgt habe, war er sehr erstaunt und versicherte mir, er kenne sie gar nicht! Dies machte mich neugierig; ich fragte meine Wirtin, ob sie sie kenne, und sie verneinte ebenfalls. Kurz und gut, kein Mensch wollte die gute Frau kennen, und ich konnte trotz der größten Mühe nicht herausbringen, wie sie zu mir gekommen war.

Als ich wieder gesund war, holte ich von der Post alle Briefe, die für mich dort lagen. Eine eigentümliche Nachricht erhielt ich von meinem Bruder in Paris in seiner Antwort auf meinen von Perpignan an ihn gerichteten Brief. Er dankte mir für das Vergnügen, das ich ihm durch meinen Brief bereitete, indem ich durch diesen die ihm zugegangene schreckliche Nachricht widerlegt hätte, ich sei in den ersten Tagen des Januar an der Grenze von Katalonien ermordet worden. »Die Trauerbotschaft brachte mir einer deiner besten Freunde, der Graf Manucci von der venetianischen Gesandtschaft, und er versicherte mir, sie sei durchaus zuverlässig.«

Dies war für mich ein Lichtstrahl. Der beste meiner Freunde hatte seine Rachsucht so weit getrieben, Mörder zu bezahlen, um mir das Leben zu nehmen.

Bis dahin war Manucci entschuldbar, von diesem Augenblicke an aber hatte er unrecht.

Er mußte seiner Sache offenbar sehr sicher sein, da er meinen Tod als bereits eingetreten meldete. Indem er die Todesart bekannt gab, zu der seine fürchterliche Rachsucht mich verurteilt hatte, enthüllte er seinen verbrecherischen Anschlag.

Als ich diesen verächtlichen Menschen zwei Jahre später in Rom traf und ihn von der Schimpflichkeit seiner Handlungsweise überzeugen wollte, leugnete er alles und behauptete, er hätte die Nachricht ganz frisch von Barcelona erhalten; aber davon werden wir später sprechen.

Ich speiste täglich mittags und abends an der Gasttafel, wo die Gesellschaft ausgezeichnet und das Essen köstlich war. Eines Mittags sprach man von einem Pilger und einer Pilgerin, die soeben angekommen waren. Sie waren Italiener; sie kamen zu Fuß von Santiago de Compostella in Galizien und mußten Leute von hoher Geburt sein, denn sie hatten gleich nach ihrer Ankunft in der Stadt reichliche Almosen ausgeteilt.

Man sagte, die Pilgerin solle reizend sein; sie sei ungefähr achtzehn Jahre alt und habe sich, sehr ermüdet, gleich nach ihrer Ankunft zu Bett gelegt. Sie wohnten in demselben Gasthof. Wir wurden alle neugierig, und ich mußte mich als Italiener an die Spitze der Gesellschaft stellen, um den beiden Personen einen Besuch zu machen, die offenbar entweder fanatisch fromm oder Betrüger waren.

Wir fanden die Pilgerin, die allem Anschein nach sehr ermüdet war, in einem Lehnstuhl sitzend. Sie erregte unsere Teilnahme durch ihre große Jugend, durch ihre Schönheit, die durch einen Schimmer von Frömmigkeit noch besonders gehoben wurde, und durch einen sechs Zoll langen Kruzifixus von gelbem Metall, den sie in den Händen hielt. Als wir eintraten, legte sie den Kruzifixus fort und stand auf, um uns eine anmutige Verbeugung zu machen. Der Pilger, der auf seinem Mäntelchen von schwarzer Wachsleinwand Muschelschalen ordnete, rührte sich nicht; indem er seine Frau ansah, schien er uns zu sagen, wir müßten uns nur mit ihr beschäftigen. Er war anscheinend vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt, klein von Gestalt und ziemlich gut gewachsen. Auf seinem nicht unangenehmen Gesicht las man Kühnheit, Frechheit, Spottsucht und Betrügerei; er war gerade das Gegenteil von einer Frau, die offenbar edel, bescheiden und sanft war und jene schüchterne Schamhaftigkeit zeigte, die ein junges Weib so reizvoll macht. Da die beiden nur so viel Französisch sprachen, wie unumgänglich notwendig ist, um sich verständlich zu machen, so atmeten sie erleichtert auf, als ich sie auf italienisch anredete.

Die Pilgerin sagte mir, sie sei Römerin; sie hätte es mir nicht zu sagen gebraucht, denn ihre hübsche Aussprache verriet es mir. Den jungen Mann hielt ich für einen Neapolitaner oder Sizilianer. Sein in Rom ausgestellter Paß lautete auf den Namen Balsamo. Sie trug die Namen Serafina Feliciani, die sie seitdem immer beibehalten hat; ihn werden wir zehn Jahre später unter dem Namen Cagliostro wieder finden.

Sie erzählte mir: »Wir sind auf dem Rückwege nach Rom, nachdem wir Santiago von Compostella und Unsere liebe Frau del Pilar verehrt haben. Wir sind den ganzen Weg zu Fuß gegangen und haben nur von Almosen gelebt, damit Gott, den ich in meinem Leben so oft beleidigt habe, uns eher seine Barmherzigkeit schenke. Vergebens bat ich, mir aus Barmherzigkeit nur einen Sou zu geben; man hat mir stets Silbermünzen und sogar Goldstücke gegeben, so daß wir nach unserer Ankunft in jeder Stadt das uns verbliebene Geld unter die Armen verteilen mußten, damit wir nicht die Sünde begingen, kein Vertrauen zur ewigen Vorsehung zu haben. Mein Mann ist kräftig und hat nicht viel gelitten; ich aber habe große Leiden ausgestanden, um einen so langen Weg zu Fuß zu machen, auf Stroh oder in schlechten Betten zu schlafen, und zwar stets angekleidet, um nicht von Krankheiten angesteckt zu werden, die man nicht leicht wieder los wird.«

Ich fand es ziemlich wahrscheinlich, daß sie den letzten Umstand nur anführte, um uns Lust zu machen, die Sauberkeit ihrer Haut noch an anderen Stellen als an ihren Armen und Händen zu sehen, deren Weiße und tadellose Sauberkeit sie uns einstweilen gratis sehen ließ.

»Gedenken Sie sich hier einige Tage aufzuhalten, Madame?«

»Meine Ermüdung wird uns zwingen, drei Tage hier zu verbringen; von hier werden wir uns nach Rom begeben, und zwar über Turin, wo wir zum heiligen Schweißtuch beten werden.«

»Sie wissen ohne Zweifel, daß es in Europa mehrere Schweißtücher gibt?«

»Man hat es uns gesagt, aber zugleich uns versichert, das Turiner Schweißtuch sei das echte: es ist das Tuch, dessen die heilige Veronika sich bediente, um unserem Erlöser den Schweiß abzutrocknen, wodurch das göttliche Gesicht dem Tuche sein Bild eindrückte.«

Wir verabschiedeten uns sehr befriedigt von der schönen Pilgerin, an deren Frömmigkeit wir jedoch wenig glaubten. Ich war noch zu schwach von meiner Krankheit her und hatte daher keine Absichten auf sie; aber alle anderen Herren, die mit mir bei ihr gewesen waren, hätten gerne mit ihr zu Abend gespeist, um sie zu erobern. Am nächsten Tage kam der Gatte der schönen Römerin zu mir und fragte mich, ob ich hinaufkommen und mit ihnen frühstücken wolle oder ob es mir lieber wäre, wenn sie zu mir herunterkämen. Es wäre unhöflich gewesen, ihm zu antworten: keines von beiden; ich sagte ihm daher, sie würden mir ein Vergnügen bereiten, wenn sie herunterkämen.

Beim Frühstücken fragte ich den Pilger nach seinem Beruf; er antwortete mir, er mache Federzeichnungen in sogenannter helldunkler Art.

Seine Kunst bestand darin, einen Kupferstich zu kopieren, nicht aber einen neuen Stich zu entwerfen. Er versicherte mir jedoch, er verstehe seine Kunst ganz ausgezeichnet und könne einen Stich so getreu abzeichnen, daß die Kopie vom Urbilde nicht zu unterscheiden sei.

»Ich mache Ihnen mein Kompliment dazu. Wenn Sie nicht reich sind, so sind Sie sicher, mit solchem Talent Ihr Brot zu verdienen, einerlei, wo Sie sich niederlassen.«

»Von allen Seiten wird mir dasselbe gesagt, aber es ist ein Irrtum, denn mit meinem Talent kann man Hungers sterben. Wenn ich in Rom oder Neapel diese Beschäftigung ausübe, verdiene ich höchstens einen halben Franken täglich, und das ist nicht genug, um zu leben.«

Hierauf zeigte er mir Fächer, die er gemacht hatte, und man konnte nichts Schöneres sehen; sie waren mit Federzeichnungen geschmückt, die nicht von den besten Kupferstichen übertroffen wurden.

Um mich vollends zu überzeugen, zeigte er mir eine von ihm kopierte Rembrandt-Zeichnung, die beinahe noch schöner war als das Original. Trotzdem schwor er mir, sein Talent verschaffe ihm nicht den Lebensunterhalt; ich glaubte ihm nicht; nach meiner Meinung war er einer von jenen Faulenzern, die lieber in der Welt herumziehen, als ein arbeitsames Leben führen.

Ich bot ihm für einen seiner Fächer einen Louis; er wies jedoch das Geld zurück, bat mich, den Fächer umsonst anzunehmen und für ihn bei Tisch eine Sammlung zu veranstalten, denn er wünsche am dritten Tage weiterzureisen.

Ich nahm sein Geschenk an und versprach ihm, die Sammlung zu veranstalten.

Ich brachte ein paar hundert Franken zusammen, die die Pilgerin sich holte, als wir noch bei Tisch saßen.

Die junge Frau sah in höchstem Grade tugendhaft aus. Als sie gebeten wurde, ihren Namen auf ein Lotteriebillett zu schreiben, entschuldigte sie sich mit der Bemerkung: Kinder, die man zu ehrbaren und tugendhaften Mädchen erziehen wolle, lasse man in Rom nicht schreiben lernen.

Alle lachten über diese Entschuldigung, außer mir; sie tat mir leid, und ich wollte sie nicht gerne erniedrigt sehen. Aber es schien mir nunmehr offenbar zu sein, daß sie den allerniedrigsten Klassen des Volkes angehörte.

Am nächsten Tage kam die Pilgerin in mein Zimmer und bat mich, ihr einen Empfehlungsbrief für Avignon zu geben. Ich schrieb sofort zwei, den einen an den Bankier Audifret, den andern an den Wirt des Gasthofes zum heiligen Homer. Am Abend brachte sie mir den für Herrn Audifret zurück, indem sie mir sagte, ihr Mann habe diesen für überflüssig erklärt. Zugleich bat sie mich, genau nachzusehen, ob es auch wirklich der Brief sei, den ich ihr gegeben habe. Ich sah die Schrift genau an und sagte, es sei ganz gewiß mein Brief.

Hierauf antwortete sie mir lachend: »Sie irren sich, das ist nur eine Abschrift.«

»Das ist nicht möglich!«

Sie rief ihrem Mann, und dieser kam mit meinem echten Brief in der Hand. Da ich nicht mehr zweifeln konnte, so sagte ich zu ihm: »Ihr Talent ist wunderbar; denn ein Brief ist viel schwerer nachzumachen, als eine Zeichnung zu kopieren ist. Sie können es bei Ihrer Begabung weit bringen und aus Ihrer Geschicklichkeit großen Vorteil ziehen; aber wenn Sie nicht vernünftig sind, kann es Ihnen das Leben kosten.«

Am nächsten Tage reiste das Paar ab. Ich werde später erzählen, wann und wie ich zehn Jahre später diesen Menschen unter dem Namen eines Grafen Pellegrini wiedersah; seine Frau und unzertrennliche Begleiterin, die gute Serafina, war immer noch bei ihm.

Im Augenblick, da ich dieses schreibe, befindet er sich im Gefängnis, das er wahrscheinlich nicht mehr verlassen wird; seine Frau befindet sich in einem Kloster und ist, vielleicht, glücklich.

Als ich meine Kräfte völlig wiedererlangt hatte, begab ich mich zum Marquis d’Argens und seinem Bruder, um mich zu verabschieden. Nachdem ich am Familientische mit dem Jesuiten gespeist hatte, den ich gar nicht beachtete, verbrachte ich drei Stunden mit dem guten und gelehrten alten Herrn, und es waren drei köstliche Stunden, denn sie waren mit Geist, Gelehrsamkeit, Philosophie und Heiterkeit gewürzt. Er erzählte mir eine Menge Züge aus dem Privatleben Friedrichs des Zweiten. Der Leser würde mir gewiß dankbar sein, wenn ich ihm diese charakteristischen Anekdoten mitteilte, um so mehr, da sie zum größten Teil für die Geschichte verloren sein werden. Aber eine unerklärliche Faulheit quält mich in diesem Augenblick, ich werde alt, oder ich bin alt geworden, das fühle ich. In einem anderen Augenblick vielleicht, wenn das Schloß zu Dux nicht von so dichten Nebeln umgeben ist, wenn mein Geist von einigen Strahlen einer belebenden Sonne aufgeweckt wird – ein anderes Mal vielleicht, sage ich, werde ich dies alles zu Papier bringen; heute fühle ich nicht den Mut dazu.

Friedrich hatte große Eigenschaften und große Schwächen, wie fast alle großen Menschen; aber sicherlich war die Gesamtheit seiner Schwächen geringer als die seiner hohen Eigenschaften, und die Weltgeschichte wird in diesem Herrscher stets einen großen Mann sehen und in ihm ein Merkzeichen des achtzehnten Jahrhunderts verehren.

Der ermordete König von Schweden fand ein Vergnügen darin, Haß zu erregen, weil es in seinen Augen ein Ruhm war, solchem Hasse zu trotzen. Er hatte eine Despotenseele, und er mußte ein Despot sein, um seine herrschende Leidenschaft zu befriedigen: nämlich von sich reden zu machen und für einen großen Mann zu gelten. Darum haben seine Feinde sich dem Tode geweiht, um ihm das Leben zu entreißen. Der König hätte sein Ende voraussehen müssen, denn seine Gewalttaten hatten schon lange die von ihm Unterdrückten zur Verzweiflung getrieben. Zwischen ihm und Friedrich ist kein Vergleich möglich.

Der Marquis d’Argens schenkte mir alle seine Werke. Ich fragte ihn, ob ich mich wirklich rühmen könnte, alle zu besitzen, und er antwortete mir: »Ja, mit Ausnahme eines Teils meiner Lebensgeschichte, die ich in meiner Jugend geschrieben und später vernichtet habe, weil ich es bereute, sie veröffentlicht zu haben.«

»Warum?«

»Weil ich die Manie hatte, nur die Wahrheit sagen zu wollen, und mich damit unsterblich lächerlich gemacht habe. Sollten Sie jemals eine solche Lust verspüren, so weisen Sie sie als eine unvernünftige Versuchung von sich ab. Ich kann Ihnen versichern, Sie würden es bereuen; denn als Ehrenmann könnten Sie nur die Wahrheit schreiben und als wahrhaftliebender Geschichtschreiber wären Sie nicht nur verpflichtet, nichts zu verschweigen, sondern Sie dürften nicht einmal mit den von Ihnen begangenen Fehlern eine feige Nachsicht üben und müßten sie als guter Moralist geißeln, wie Sie als echter Philosoph das von Ihnen bewirkte Gute hervorheben müßten. Sie wären genötigt, auf jeder Seite sich selber zu loben oder zu tadeln. Nun würde man alles Böse, das Sie von sich selber sagen, für bare Münze nehmen, alle Ihre kleinen Sünden für Verbrechen erklären, und wenn Sie etwas Gutes von sich sagen, würde man es Ihnen nicht nur nicht glauben, sondern Ihnen obendrein Stolz, Eitelkeit usw. vorwerfen. Außerdem würden Sie durch die Abfassung von Lebenserinnerungen sich alle jene zu Feinden machen, von denen Sie Unvorteilhaftes berichten müßten. Glauben Sie mir, lieber Freund, wenn es einem Ehrenmann nicht erlaubt ist, von sich selber zu sprechen, so ist es ihm noch weniger erlaubt, über sich selber zu schreiben, es sei denn, daß Verleumdung uns zwingt, uns zu verteidigen. Ich hoffe, Sie werden niemals Rousseaus Fehler begehen – einen Fehler, den ich von einem so hervorragenden Mann niemals habe begreifen können.«

Durch seine weisen Reden überzeugt, versprach ich ihm, niemals eine solche Torheit zu begehen; trotzdem tue ich seit sieben Jahren nichts anderes, und es ist für mich allmählich eine Notwendigkeit geworden, die Sache zu Ende zu bringen, obwohl ich sehr bereue, sie angefangen zu haben. Aber ich schreibe in der Hoffnung, daß meine Geschichte niemals das Tageslicht der Öffentlichkeit erblicken wird; denn abgesehen davon, daß die niederträchtige Zensur, dieses Löschhorn des Geistes, niemals den Druck erlauben würde, so hoffe ich, daß ich in meiner letzten Krankheit vernünftig werde, da ich nicht mehr verrückter werden kann, und alle meine Hefte vor meinen Augen verbrennen lasse. Sollte dies nicht der Fall sein können, so rechne ich auf die Nachsicht meiner Leser, und diese werden sie mir nicht vorenthalten, wenn sie erfahren, daß die Niederschrift meiner Erinnerungen für mich das einzige Heilmittel war, um nicht wahnsinnig zu werden oder vor Ärger zu sterben – vor Ärger über die Unannehmlichkeiten und täglichen Scherereien von seiten der neidischen Halunken, die sich mit mir zusammen auf dem Schloß des Grafen von Waldstein oder Wallenstein in Dux befinden.

Indem ich täglich zehn oder zwölf Stunden schrieb, habe ich verhindert, daß der düstere Kummer mein Leben verzehrte oder mir die Vernunft raubte. Wir werden später darüber sprechen, wenn ich nicht etwa früher sterbe.

Am Tage nach dem Fronleichnamsfest reiste ich von Aix ab und begab mich nach Marseille. Ich habe jedoch eine wichtige Sache zu erwähnen vergessen, die ich noch nachtragen will. Ich spreche von der Fronleichnamsprozession.

Wie ein jeder weiß, wird das Fest des heiligen Sakraments in der ganzen Christenheit mit Pomp gefeiert; aber in Aix in der Provence sind mit dieser Feier so anstoßende Gebräuche verbunden, daß jeder vernünftige Mensch eine derartige Verirrung beklagen muß.

Dem Wesen aller Wesen, das unter dem Bilde der Eucharistie in Leib und Seele verkörpert wird, folgen bekanntlich überall sämtliche religiöse Körperschaften. Hierüber will ich also nichts sagen, denn dasselbe findet auch in Aix statt. Was aber unangenehm überraschen und anstößig wirken muß, das sind die Maskeraden und unpassenden Späße, die man sich bei einer so heiligen Handlung erlaubt, bei welcher man alles darauf berechnen müßte, die der Religion unentbehrliche Ehrfurcht noch zu vermehren, indem man Liebe und Dankbarkeit und fromme Verehrung für den Schöpfer aller Dinge und Spender alles Guten erregte.

Statt dessen sieht man den Teufel, den Tod und die sieben Todsünden, auf die lächerlichste Art gekleidet, tausend komische Gliederverrenkungen machen, sich schlagen und stoßen, heulen und schreien, wie wenn sie außer sich darüber wären, dem Herrn der Welt dienen zu müssen. Das Volk lacht und schreit und pfeift die greulichen Gestalten aus, singt Spottlieder auf sie, foppt sie auf alle möglichen Arten. Dies alles zusammen bildet ein Schauspiel, das mehr an Karnevalssaturnalien erinnert als an eine Prozession christlicher Völker, und das an schmutziger Unsittlichkeit alles überbietet, was wir über die Bacchanalien des Heidentums lesen. Die ganze Landbevölkerung von fünf bis sechs Wegstunden in der Runde kommt an diesem Tage nach Aix, um Gott zu ehren. Es ist sein Fest. Gott kommt im ganzen Jahre nur an diesem einen Tage auf die Straße. Ohne Zweifel hat eine Geistlichkeit, die entweder aus Verrückten oder aus Betrügern bestand, es für notwendig gehalten, den lieben Gott zum Lachen zu bringen. Die niedrigen Klassen des Volkes glauben dies allen Ernstes, und wenn einer sich erlauben sollte, etwas dagegen zu sagen, so würde es ihm übel ergehen, denn der Bischof marschiert an der Spitze des ganzen Mummenschanzes; folglich muß alles fromm und heilig sein.

Als ich gegen das tolle Treiben sprach, das die Religion nur in Verruf bringen könnte, sagte ein gewisser Herr der St. Marc, ein Mann von Bedeutung und Mitglied des Parlaments, in ernstem Tone zu mir, dieses Fest wäre eine ausgezeichnete Sache, denn dadurch kämen an einem einzigen Tage mehr als hunderttausend Franken in die Stadt.

Diese Anschauungsweise war so gewichtig, daß ich mir keine Antwort erlaubte.

Während meines Aufenthaltes in Aix verging kein Tag, daß ich nicht an Henriette dachte. Da ich ihren richtigen Namen kannte, so hatte ich nicht vergessen, was sie mir durch Marcolina hatte sagen lassen; ich erwartete, sie in Aix in irgendeiner Gesellschaft zu finden, und ich würde mich alsdann gegen sie so benommen haben, wie sie es gewünscht hätte. Oft hatte ich ihren Namen nennen gehört, aber ich hatte mir niemals eine Frage erlaubt, da ich sorgfältig vermeiden wollte, daß man vermuten konnte, sie sei mir bekannt. Ich hatte stets geglaubt, sie sei auf dem Lande, und da ich beschlossen hatte, ihr einen Besuch zu machen, war ich nur deswegen so lange in Aix geblieben, um vollständig gesund bei ihr anzukommen. Als ich nun von Aix abreiste, hatte ich in meiner Tasche einen Brief, wodurch ich mich bei ihr anmeldete. Ich beabsichtigte vor dem Tor des Schlosses zu halten, ihr den Brief hineinzuschicken und den Wagen nicht zu verlassen, wenn sie mich nicht dazu auffordern würde.

Ich hatte dem Postillon Bescheid gesagt; ihr Schloß lag anderthalb französische Meilen diesseits von Croix d’Or. Es war elf Uhr, als wir ankamen.

Ein Mann kam heraus. Ich gab ihm meinen Brief, und er sagte mir, er werde nicht verfehlen, ihn der gnädigen Frau zu schicken.

»Ist sie denn nicht hier?«

»Nein, mein Herr; sie ist in Aix.«

»Seit wann?«

»Seit sechs Monaten.«

»Wo wohnt sie?«

»In ihrem Hause; sie wird erst in drei Wochen hier hinauskommen, um nach ihrer Gewohnheit den Sommer hier zu verbringen.«

»Würden Sie so freundlich sein, mich einen Brief schreiben zu lassen?«

»Bitte, steigen Sie nur aus! Ich werde Ihnen das Zimmer der gnädigen Frau öffnen lassen; dort werden Sie alles finden, was Sie brauchen.«

Ich stieg aus, trat ins Haus und sah zu meiner größten Überraschung meine Krankenwärterin vor mir.

»Sie wohnen hier?« »Jawohl, mein Herr.« »Seit wann?« »Seit zehn Jahren.« »Wie kam es denn, daß Sie mich während meiner Krankheit pflegten?« »Das werde ich Ihnen oben sagen.«

Ihre Erzählung lautete folgendermaßen:

»Die gnädige Frau ließ mich in aller Eile holen und befahl mir, zu Ihnen zu gehen und Sie so zu pflegen, wie wenn sie selber krank gewesen wäre, und Ihnen zu sagen, ich sei auf Anordnung des Arztes bei Ihnen, falls Sie etwa irgendeine Frage an mich stellen sollten.«

»Der Arzt hat mir gesagt, er kenne Sie nicht.«

»Vielleicht hat er Ihnen die Wahrheit gesagt; wahrscheinlicher aber ist es, daß er von der gnädigen Frau Befehl erhalten hatte, Ihnen so zu antworten. Mehr weiß ich übrigens nicht; aber ich bin überrascht, daß Sie die gnädige Frau nicht in Aix gesehen haben.«

»Sie muß wohl nicht in Gesellschaft verkehren, denn ich bin überall gewesen.«

»Allerdings empfängt Madame keine Besuche, aber sie geht überall hin.«

»Das ist sehr wunderbar! Ich muß sie gesehen haben, und kann nicht begreifen, daß ich sie nicht erkannt habe. Sie sind seit zehn Jahren bei ihr?«

»Jawohl, mein Herr, wie ich bereits die Ehre hatte. Ihnen zu sagen.«

»Ist sie verändert? Hat sie irgendeine Krankheit gehabt, durch die ihr Gesicht sich geändert hat? Ist sie gealtert?«

»Durchaus nicht. Sie ist stärker geworden, aber ich versichere Ihnen, man würde sie für eine Frau von dreißig Jahren halten.«

»Ich muß blind sein, oder ich habe sie nicht ein einziges Mal zu sehen bekommen. Ich werde ihr schreiben.«

Die Frau ging hinaus.

Ich fühlte mich ratlos in dieser seltsamen Lage und fragte mich: soll ich augenblicklich nach Aix umkehren? Sie wohnt in ihrem Hause, sie empfängt niemanden. Wer kann sie verhindert haben, mit mir zu sprechen, und wer könnte sie verhindern, mich zu empfangen? Wenn sie mich nicht vorläßt, werde ich sofort wieder abfahren, und dann hätte ich eben einfach den Weg vergebens gemacht. Damit wäre dies erledigt. Aber Henriette liebt mich noch. Sie hat mich während meiner Krankheit pflegen lassen, und das würde sie nicht getan haben, wenn ich ihr gleichgültig geworden wäre. Sie wird empfindlich darüber sein, daß ich sie nicht wiedererkannt habe. Sie weiß, daß ich von Aix abgereist bin, und kann nicht daran zweifeln, daß ich in diesem Augenblick hier bin. Soll ich zu ihr fahren? Oder soll ich ihr schreiben?

Zu dem letzteren entschloß ich mich endlich. Ich schrieb ihr, ich würde in Marseille auf ihre Antwort warten. Ich gab meiner Pflegerin den Brief und das nötige Geld, um ihn sofort durch einen besonderen Boten zu befördern, und stieg wieder in meinen Wagen. Zum Mittagessen war ich in Marseille, wo ich in einem geringen Gasthof abstieg, da ich nicht erkannt werden wollte. Kaum war ich ausgestiegen, so sah ich die Donna Schizza, Ninas Schwester. Sie kam mit ihrem Mann von Barcelona; sie reisten nach Livorno und befanden sich seit drei oder vier Tagen in Marseille.

Signora Schizza war in diesem Augenblick allein, denn ihr Mann war ausgegangen. Ich hatte eine brennende Lust, hundert Dinge zu erfahren, und bat sie daher, in mein Zimmer zu kommen, bis man mir mein Essen brächte.

»Was macht Ihre Schwester? Ist sie immer noch in Barcelona?«

»Ja; aber sie wird nicht lange mehr dort bleiben, denn der Bischof will sie weder in der Stadt noch in seinem Sprengel dulden, und der Bischof ist mächtiger als Graf Ricla. Sie ist von Valencia zurückgekehrt, weil Graf Ricla geltend machte, man könne es ihr nicht verwehren, durch Katalonien nach ihrer Heimat zurückzureisen. Man bleibt aber nicht neun oder zehn Monate in einer Stadt, wenn man nur auf der Durchreise ist. In einem Monat wird sie sicherlich abreisen, aber daraus macht sie sich nicht viel; denn sie ist sicher, daß der Graf ihr überall einen mehr als reichlichen Lebensunterhalt gewähren wird, und es wird ihr vielleicht gelingen, ihn zugrunde zu richten. Einstweilen freut sie sich, daß sie seinen guten Ruf vernichtet hat.«

»Ich weiß ja, wie sie zu denken pflegt; aber schließlich kann sie doch nicht einen Mann hassen, durch den sie jetzt reich geworden sein muß.«

»Reich? Sie hat nur Diamanten. Aber können Sie annehmen, daß dieses Scheusal Dankbarkeit kennt? Glauben Sie, sie denke wie ein Mensch? Sie ist ein Scheusal; das weiß niemand so gut wie ich. Sie hat nur darum den Graf gezwungen, hundert Ungerechtigkeiten zu begehen, weil ganz Spanien von ihr sprechen und weil alle Welt wissen soll, daß sie Herrin über seinen Leib, sein Hab und Gut, seine Seele und seinen Willen ist. Je haarsträubender eine Ungerechtigkeit ist, zu der sie ihn veranlaßt, desto sicherer ist sie, daß man von ihr sprechen wird, und weiter will sie nichts. Ihre Verpflichtungen gegen mich, mein Herr, sind unzählig; denn sie verdankt mir alles, sogar das Leben; aber anstatt mir Gutes zu tun, indem sie meinem Mann einen besseren Posten mit einer Gehaltserhöhung verschaffte, was ihr nur ein Wort gekostet hätte, hat sie ihn verabschieden lassen.«

»Ich wundere mich, daß sie bei einer solchen Denkungsweise sich gegen mich so edel benommen hat.«

»Ja, ich weiß alles; aber wenn Sie ebenfalls alles wüßten, würden Sie ihr für das, was sie für Sie getan hat, keinen Dank wissen.«

»Nun, sprechen Sie!«

»Sie hat Ihre Rechnung im Gasthof und die Verpflegung im Gefängnisturm nur deshalb bezahlt, damit das Publikum zur Schande des Grafen glauben sollte, Sie wären ihr Liebhaber. Ganz Barcelona weiß, daß man Sie vor ihrer Tür hat ermorden wollen, und daß der Mordbube an dem Degenstich gestorben ist, den Sie zu Ihrem großen Glück ihm versetzt hatten.«

»Aber sie hat doch nicht meine Ermordung befehlen können! Sie hat nicht einmal Mitschuldige sein können; denn das wäre nicht natürlich!«

»Das weiß ich wohl, aber an Nina ist eben nichts Natürliches. Aber ich kann Ihnen für gewiß sagen, was ich selber mit angehört habe: Während der Stunden, die Graf Ricla bei ihr verbrachte, sprach sie unaufhörlich von Ihnen, von Ihrem Geist, von Ihrem edlen und galanten Auftreten, das sie mit dem der Spanier verglich, um diese verächtlich zu machen und herunterzusetzen. Der Graf ärgerte sich und sagte ihr schließlich, sie möchte von etwas anderem sprechen; aber vergeblich. Um nichts mehr davon zu hören, entfernte er sich mit einem Fluch auf Sie. Zwei Tage vor jenem Vorfall war er wieder ganz außer sich; er verließ sie mit den Worten: »Valga me Dios! Ich werde Ihnen eine Höflichkeit erweisen, auf die Sie nicht gefaßt sind!« Als wir dann den Büchsenschuß gleich nach Ihrem Fortgehen hörten, sagte sie ohne die geringste Gemütsbewegung, dieser Schuß sei ohne Zweifel die Höflichkeit, die ihr ekliger Spanier ihr in Aussicht gestellt habe. Ich sagte ihr, vielleicht habe man Sie getötet. »Um so schlimmer für den Grafen!« sagte sie zu mir; »denn er wird ebenfalls an die Reihe kommen.« Hierauf lachte sie wie eine Wahnsinnige bei dem Gedanken, welchen Lärm diese Neuigkeit in Barcelona verursachen würde. Am anderen Morgen um acht Uhr – dies muß ich zu ihrem Lobe sagen – war sie recht erfreut, als Ihr Bedienter ihr meldete, man habe Sie auf die Zitadelle gebracht.«

»Wie? Mein Bedienter? Ich habe niemals gewußt, daß er Beziehungen zu ihr hatte.«

»Sie sollten das auch nicht wissen. Übrigens kann ich Ihnen versichern, daß der ein braver Mann war, der Sie liebte.«

»Davon bin ich überzeugt gewesen. Fahren Sie fort.«

»Nina schrieb Ihrem Wirt ein Briefchen. Sie zeigte es mir nicht; aber ohne Zweifel hat sie ihm darin befohlen, Ihnen alles zu besorgen, was Sie wünschen würden. Der Bediente sagte uns, er habe den blutbefleckten Degen gesehen, und Ihr Mantel sei von einer Kugel durchlöchert worden. Sie freute sich darüber, aber nicht etwa, weil sie Sie liebte; glauben Sie das nur nicht! Sie freute sich, weil Sie dem Mordanfall entronnen waren und sich daher rächen könnten. In Verlegenheit brachte sie nur der Vorwand, dessen der Graf sich bedient hatte, um Sie verhaften zu lassen. – An jenem Abend kam der Graf nicht, aber am nächsten Tage kam er um acht Uhr, und das niederträchtige Weib empfing ihn lachend, wie wenn sie ganz glücklich wäre. Sie sagte ihm, sie wisse, daß er Sie ins Gefängnis gesteckt habe; daran habe er wohl getan, denn er könne sich dazu doch nur entschlossen haben, um Ihr Leben gegen neue Nachstellungen zu sichern. Er antwortete kurz angebunden, Ihre Verhaftung habe mit dem Vorfall der Nacht nichts zu tun. Sie seien nur für einige Tage gefangen gesetzt, denn man untersuche Ihre Papiere und werde Sie wieder in Freiheit setzen, wenn man daran nichts finde, was eine strenge Haft rechtfertigen könnte. Nina fragte ihn, wer der Mann wäre, den Sie verwundet hätten. Er antwortete: >Die Polizei stellt Nachforschungen an, denn man hat weder einen Toten noch einen Verwundeten, ja nicht einmal Blutspuren gefunden. Man hat nur Casanovas Hut gefunden, und diesen hat man in seinen Gasthof geschickt.« – Hierauf blieben sie bis Mitternacht miteinander allein; so daß ich nicht hören konnte, was sie noch weiter über Sie sagten; aber drei Tage darauf erfuhr alle Welt, daß Sie in den Turm gesperrt worden seien.

Am Abend fragte Nina den Grafen nach dem Grunde dieser strengen Maßregel; er antwortete, man hätte Verdacht, daß Ihre Pässe falsch seien; denn der vom Botschafter in Ildefonso ausgestellte müsse falsch sein. Da Sie nämlich bei der Staatsinquisition von Venedig in Ungnade seien, so sei es nicht wahrscheinlich, daß der Gesandte Ihnen einen Paß gegeben habe; ohne diesen aber hätten Sie weder den des Königs noch den vom Grafen Aranda erhalten können. In dieser Annahme habe man Sie in den Turm setzen müssen, denn das Verbrechen könne Ihnen teuer zu stehen kommen.

Diese Nachrichten beunruhigten uns, und als wir erfuhren, daß Pogomas verhaftet worden war, waren wir überzeugt, daß er Sie angezeigt hätte, um sich dafür zu rächen, daß Sie ihn aus unserem Hause hatten jagen lassen. Als wir erfuhren, daß der Kerl aus dem Gefängnisse entlassen, aber zu Schiff nach Genua gebracht worden war, glaubten wir, nun könne Ihre Freilassung nicht lange mehr dauern, denn man hätte doch längst die Nachricht erhalten müssen, daß ihre Pässe in Ordnung seien. Als wir aber sahen, daß man Sie immer noch in Haft behielt, da wußten wir nicht mehr, was wir darüber denken sollten; denn der Graf antwortete nicht mehr auf ihre Fragen nach Ihrem Befinden. Falsch, wie sie ist, hatte sie den Entschluß gefaßt, zu schweigen. Da erfuhren wir endlich, daß Sie in Freiheit gesetzt und vollkommen gerechtfertigt seien.

Nina zweifelte nicht, daß sie Sie im Parkett sehen und daß sie in ihrer Loge triumphieren würde; sie gedachte sich in dem ganzen Schmuck ihrer Diamanten zu zeigen; sie war daher in Verzweiflung, als sie von dem unerwarteten Ausfall der Theatervorstellungen hörte. Am Abend erfuhr sie vom Grafen, man habe Ihnen Ihre Pässe wiedergegeben, aber auch zugleich Ihnen den Befehl erteilt, binnen drei Tagen abzureisen. Die falsche Spitzbübin lobte die Vorsicht ihres Liebhabers, obgleich sie im geheimen ihn in die Hölle wünschte.

Sie dachte sich wohl, daß Sie nicht wagen würden, sie zu besuchen, denn sie glaubte, Sie hätten gewiß geheime Befehle empfangen, keinerlei Beziehungen zu ihr zu unterhalten; da erfuhr sie, daß Sie abgereist seien, ohne ihr auch nur ein ganz kleines Briefchen zu schreiben; sie geriet in eine rasende Wut gegen Ricla und schrie: >>Wenn Casanova den Mut gehabt hätte, mich zur Reise mit ihm einzuladen, so würde ich es getan haben.«

Durch Ihren Bedienten erfuhr sie, daß Sie glücklich drei Mördern entronnen seien. Am Abend machte sie Ricla ein Kompliment darüber, er schwor aber, er wisse nichts davon. Nina glaubte es ihm nicht. Ach! danken Sie Gott, daß Sie aus Spanien heraus gekommen sind, nachdem Sie Nina kennen gelernt hatten, dieses Scheusal, das Ihnen schließlich noch das Leben gekostet hätte und das mich dafür bestraft, es ihr gegeben zu haben.«

»Wie, Sie sind ihre Mutter?«

»Ja, Nina, dieses abscheuliche Geschöpf, ist meine Tochter.«

»Ist es möglich! Alle Welt hält sie für Ihre Schwester.«

»Das ist ja eben das Entsetzliche. Alle Welt hat recht.«

»Wie? Erklären Sie mir dies.«

»Ich will es tun, obgleich es mich in Verlegenheit bringt: sie ist meine Tochter und meine Schwester; denn sie ist die Tochter meines Vaters.«

»Was höre ich! Ihr Vater hat Sie geliebt.«

»Ob der Barbar mich geliebt hat, weiß ich nicht; jedenfalls hat er mich als seine Frau behandelt. Ich war damals sechzehn Jahre alt. Sie ist aus einem Verbrechen entsprossen, und der gerechte Gott bestraft mich durch sie. Mein Vater ist der Rache Gottes entgangen; möchte er auch der ewigen Höllenstrafe entgehen! Was soll aus mir werden? Ich hätte das niederträchtige Geschöpf in der Wiege erdrosseln sollen; vielleicht aber werde ich sie noch erdrosseln, bevor sie mich tötet.«

Außer mir vor Entsetzen, hörte ich schweigend diese furchtbare Erzählung an, deren Wahrheit nicht anzuzweifeln war.

»Ihr eigener Vater hat es ihr gesagt, als sie zwölf Jahre alt war. Er weihte sie zuerst in den Lebenswandel ein, den sie seitdem geführt hat, und er würde schließlich auch sie zur Mutter gemacht haben, wenn er nicht in demselben Jahre gestorben und dadurch vielleicht dem Galgen entgangen wäre.«

»Wie kam es, daß Graf Ricla sich in sie verliebte?«

»Hören Sie! Die Geschichte ist nicht lang, und sie ist eigenartig. Als sie vor zwei Jahren von Portugal nach Barcelona kam, wurde sie nur wegen ihres schönen Wuchses als Ballettfigurantin angenommen; denn Talent hat sie ja nicht; das einzige, was sie gut macht, ist die Rebaltade, eine Art Rückwärtssprung mit Pirouetten. Bei ihrem ersten Auftreten klatschte das Parkett lebhaften Beifall, weil sie bei der Rebaltade ihre Unterhosen bis zum Gürtel sehen ließ. Nun muß man wissen, daß in Spanien ein Gesetz besteht, daß jede Tänzerin, die auf der Bühne dem Publikum ihre Unterhosen zeigt, zu einem Taler Strafe verurteilt wird. Nina wußte davon nichts; als sie den Beifall hörte, machte sie es gleich noch einmal; aber nach dem Ballett sagte der Inspektor ihr, er würde zur Strafe für ihre schamlosen Sprünge zwei Taler von ihrem Monatsgehalt zurückbehalten. Nina fluchte und wetterte, konnte aber gegen das Gesetz nichts machen. Wissen Sie, was sie am nächsten Tage tat, um das Gesetz zu umgehen und sich zu rächen?«

»Vielleicht tanzte sie schlecht?«

»Sie tanzte ohne Unterhosen und machte wieder ihre Rebaltade. Dies erregte im Parkett eine so stürmische Heiterkeit, wie man sie in Barcelona noch niemals erlebt hatte.

Graf Ricla, der von seiner Loge alles gesehen hatte und sich von Entsetzen und zugleich von Bewunderung ergriffen fühlte, ließ den Inspektor rufen und sagte ihm, er müsse diese freche Tänzerin auf ganz andere Weise als durch Geldbuße exenplarisch bestrafen. ‚Einstweilen schicken Sie sie mal sofort zu mir!‘

Gleich darauf stand Nina in der Loge des Vizekönigs und fragte ihn mit ihrem schamlosen Gesicht, was er von ihr wünsche.

‚Sie sind eine schamlose Person und haben das Publikum beschimpft.‘

‚Was habe ich getan?‘

‚Sie haben denselben Sprung gemacht wie gestern.‘

‚Allerdings; aber ich habe Ihr Gesetz nicht verletzt; kein Mensch kann behaupten, daß er eine Unterhose gesehen hat; denn, um sicher zu sein, daß man sie nicht sehen würde, habe ich keine angezogen. Konnte ich mehr für Ihr verdammtes Gesetz tun, das mir bereits zwei Taler kostete? Antworten Sie nur!‘

Der Vizekönig und alle die ernsten würdigen Herren, die zugegen waren, mußten sich auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen; denn im Grunde hatte Nina recht, und wenn es zu einer Diskussion über diese Gesetzesübertretung gekommen wäre, hätte man sich sehr lächerlich darüber gemacht.

Der Vizekönig begriff, daß er sich in einer falschen Lage befand; er sagte zur Tänzerin nur: wenn sie noch einmal ohne Unterhose tanze, werde sie einen Monat bei Wasser und Brot im Gefängnis sitzen.

Nina war gehorsam. Acht Tage darauf gab man ein Ballett meines Mannes. Es wurde mit solchem Beifall aufgenommen, daß das Publikum stürmisch die Wiederholung verlangte.

Ricia befahl, den Wunsch des Publikums zu erfüllen, und den Tänzern wurde gesagt, daß sie noch einmal aufzutreten hätten.

Nina, die sich inzwischen fast gänzlich entkleidet hatte, sagte meinem Mann, er möchte sich einrichten, wie er wollte, sie würde nicht tanzen. Da sie nun die erste Rolle hatte, so konnte das Ballett ohne sie nicht aufgeführt werden. Mein Mann schickte daher den Direktor zu ihr, aber diesen warf sie in ihrer Wut mit solcher Kraft zur Türe hinaus, daß der arme Mensch mit der Stirn gegen die Korridorwand fuhr. Der Direktor berichtete jammernd dem Vizekönig von der Weigerung der Tänzerin. Zwei Soldaten erhielten Befehl, sie vor ihn zu führen, und dies war zu seinem Unglück; denn Nina ist, wie Sie wissen, sehr schön, und ihr Anzug war in jenem Augenblicke in einem Zustande, daß sie den kältesten Mann verführt haben würde.

Der Graf sagte ihr mit unsicherer Stimme, was er ihr zu sagen hatte. Seine Verlegenheit machte sie kühn, und sie antwortete ihm, es stehe in seiner Macht, sie in Stücke reißen zu lassen, aber er sei nicht mächtig genug, um sie dazu zu bringen, daß sie gegen ihren Willen tanze; denn in ihrem Vertrage stehe nichts davon, daß sie an einem Abend zweimal tanzen müsse; das könne weder er noch das Publikum von ihr verlangen.

‚Ich bin außer mir‘, rief sie, ‚über Ihr tyrannisches Vorgehen, das mich zwingt, beinahe nackt zwischen zwei Soldaten zu erscheinen, und ich werde Ihnen diesen barbarischen Despotismus niemals vergeben. Sie können machen, was Sie wollen, ich werde nicht tanzen, und ich erkläre Ihnen, ich werde Ihnen nicht mehr die Ehre erweisen, vor Ihnen und Ihrem Publikum zu tanzen. Ich verlange von Ihnen weiter nichts, als daß Sie mich gehen lassen oder mich töten; standhaft werde ich die härteste Behandlung erdulden und Ihnen beweisen, daß ich Venetianerin und ein freies Weib bin!‘ Erstaunt sagte der Vizekönig, Nina sei toll. Hierauf ließ er meinen Gatten kommen und befahl ihm, das Ballett ohne sie tanzen zu lassen und in Zukunft nicht auf sie zu rechnen, denn sie stehe nicht mehr in seinem Dienst.

Dann sagte er zu Nina, sie möchte gehen, und befahl den Soldaten, sie freizulassen.

Sie ging in ihre Ankleidekammer zurück, und als sie sich angezogen hatte, kam sie zu uns, denn sie wohnte bei uns.

Das Ballett wurde wiederholt, so gut es eben ging; der arme Graf sah aber nicht mehr viel davon, denn das Gift hatte bereits seine Wirkung getan. ‚

Am folgenden Tage kam der jämmerliche Sänger Molinari zu Nina und sagte ihr, der Gouverneur wünsche sich zu überzeugen, ob sie wahnsinnig sei oder nicht; er wolle sie in einem gewissen Landhause sehen.

Das war just, was das unglückselige Geschöpf wollte, und sie antwortete Molinari: ‚Sagen Sie Seiner Exzellenz, ich werde der Einladung Folge leisten und der Herr Gouverneur werde mich sanft wie ein Lamm und keusch wie einen Engel finden.‘ So begann ihre Bekanntschaft. Sie wußte die Schwächen ihrer neuen Eroberung so scharfsinnig zu erraten, daß sie den armen Spanier ebensosehr durch ihre schlechte Behandlung fesselte wie durch ihre verführerischen Reize und durch die schlaueste Koketterie.«

Dieses erzählte die unglückselige Schizza mit der ganzen Leidenschaft einer von Reue und Rachsucht gepeinigten Italienerin.

Am nächsten Tage erhielt ich, wie ich erwartet hatte, die Antwort meiner Henriette. Sie schrieb mir:

»Nichts, mein lieber Freund, ist romantischer als unsere Begegnung in meinem Landhause vor sechs Jahren und jetzt wieder von neuem, zweiundzwanzig Jahre nach jenem Tage, da wir uns in Genf trennten. Wir sind alle beide gealtert, das ist natürlich. Aber wollen Sie es glauben? Obgleich ich Sie noch liebe, ist es mir doch angenehm, daß Sie mich nicht wiedererkannt haben. Nicht daß ich häßlich geworden wäre, aber ich bin dicker geworden, und dadurch haben sich meine Gesichtszüge verändert. Ich bin Witwe, lebe glücklich und besitze ein genügendes Vermögen, um Ihnen sagen zu können, daß Sie sich an Henriettens Börse wenden mögen, wenn Sie etwa bei den Bankiers kein Geld haben sollten. Kommen Sie nicht nach Aix zurück, um das Wiedersehen mit mir zu feiern, denn Ihre Rückkehr könnte Anlaß zu Gerede geben; wenn Sie aber nach einiger Zeit herkommen, so werden wir uns sehen können, jedoch nicht als alte Bekannte. Ich fühle mich glücklich in dem Gedanken, daß ich vielleicht zur Verlängerung Ihres Lebens beigetragen habe, indem ich Ihnen eine Frau schickte, deren gutes Herz und Treue ich kannte. Wenn Ihnen ein Briefwechsel mit mir recht ist, so werde ich gern mein Bestes tun. Ich bin sehr neugierig, zu erfahren, was Sie seit Ihrer Flucht aus den Bleikammern gemacht haben, und da Sie jetzt einen so schönen Beweis von Verschwiegenheit abgelegt haben, so verspreche ich Ihnen, alles zu erzählen, was unser Zusammentreffen in Cesena und meine Rückkehr in die Heimat veranlaßte. Unsere Bekanntschaft ist ein Geheimnis für alle Welt. Nur Herr d’Antoine kennt einen Teil davon. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie sich bei keinem Menschen nach meiner Existenz erkundigt haben, obwohl Marcolina Ihnen gewiß alles gesagt hat, was ich ihr für Sie auftrug. Schreiben Sie mir, was mit diesem entzückenden Geschöpf geworden ist. Leben Sie wohl!«

Ich antwortete ihr, indem ich den angebotenen Briefwechsel annahm und ihr in großen Umrissen meine wechselvollen Schicksale erzählte. Sie ihrerseits erzählte mir in etwa vierzig Briefen ihre ganze Lebensgeschichte. Wenn sie vor mir stirbt, werde ich diese Briefe meinen Erinnerungen beigeben; aber heutigentags lebt sie noch, und sie ist glücklich, wenngleich alt.

Am nächsten Tage besuchte ich Frau Audibert, und wir fuhren zusammen zu Frau N. N., die bereits Mutter von drei Kindern war. Sie wurde von ihrem Gatten angebetet und war infolgedessen glücklich. Ich brachte ihr gute Nachrichten von Marcolina und erzählte ihr Croces Abenteuer und Charlottens Tod, der ihr sehr zu Herzen ging.

Sie gab mir dafür die allerneuesten Nachrichten über Rosalie, die durch ihren Mann sehr reich geworden war. Ich konnte nicht mehr hoffen, diese reizende Frau wiederzusehen, denn in Genua würde der Anblick des Herrn Grimaldi mir kein Vergnügen gewesen sein.

Meine liebe frühere Nichte betrübte mich, ohne es zu wollen; sie sagte mir, sie finde mich gealtert. Obgleich ein Mann sich aus dem Altwerden nichts zu machen braucht, so mißfällt doch ein solches Kompliment, wenn man noch nicht auf Galanterie verzichtet hat. Sie gab mir zu Ehren ein schönes Diner, und ihr Gatte machte mir Anerbietungen, die ich aus falscher Scham nicht annahm. Ich besaß noch fünfzig Louis, und da ich nach Turin gehen wollte, so wußte ich, daß ich dort Hilfsquellen haben würde.

Ich traf in Marseille den Herzog von Villars, den Tronchin künstlich am Leben erhielt; der hohe Herr war Gouverneur der Provence; er lud mich zum Abendessen ein, und ich fand zu meiner Überraschung bei ihm den angeblichen Marquis d’Arragon, der eine Bank hielt. Ich spielte mit kleinen Einsätzen und verlor. Der Marquis lud mich zum Mittagessen bei seiner Frau, der alten Engländerin, ein, die ihm vierzigtausend Guineen zugebracht hatte, während weitere zwanzigtausend nach ihrem Tode einem Sohne zufallen sollten, den sie in London hatte. Von diesem glücklichen Taugenichts schämte ich mich nicht, fünfzig Louis zu borgen, obwohl es ziemlich sicher war, daß ich sie ihm niemals zurückgeben würde.

Ich reiste allein von Marseille über Antibes, Nizza und den Col di Tenda, die höchste Alpenstraße nach Turin. Auf diesem Wege hatte ich das Vergnügen, das sogenannte Piemont zu sehen, ein Land von großer Schönheit.

In Turin empfingen der Chevalier Raiberti und Graf de la Pérouse mich auf das freundlichste. Beide wiederholten mir das Kompliment meiner Exnichte: sie fanden, daß ich alt geworden wäre. Da ich aber nur im Verhältnis zu den vierundvierzig Jahren alt sein konnte, die ich damals zählte, so tröstete ich mich leicht.

Ich schloß enge Freundschaft mit dem englischen Gesandten, Ritter R., einem liebenswürdigen, wissenschaftlich gebildeten, reichen, geschmackvollen Mann, der eine ausgezeichnete Tafel führte und den alle Welt liebte, unter anderen auch eine Tänzerin aus Parma, namens Campioni, ein Weib von entzückender Schönheit.

Ich teilte meinen Freunden mit, daß ich die Absicht hätte, nach der Schweiz zu gehen, und dort auf meine Kosten in italienischer Sprache eine Widerlegung der Geschichte der venetianischen Regierung von Amelot de la Houssaie drucken zu lassen. Alle beeilten sich, mir Subskribenten zu verschaffen, die mir eine gewisse Anzahl von Exemplaren vorausbezahlten. Der Freigebigste von allen war der Graf de la Pérouse, der mir siebenhundertundfünfzig Franken für fünfzig Exemplare gab. Acht Tage darauf verließ ich Turin mit dreitausend Franken in meiner Börse. Dieses Geld setzte mich in den Stand, das ganze Werk drucken zu lassen, das ich in der Zitadelle von Barcelona niedergeschrieben hatte. Ich mußte es jedoch noch einmal umschreiben, weil ich damals den zu widerlegenden Autor und die venetianische Geschichte des Prokurators Rani nicht vor Augen gehabt hatte.

Nachdem ich mir diese Werke verschafft hatte, begab ich mich in der Absicht, mein Buch drucken zu lassen, nach Lugano, wo eine gute Buchdruckerei und keine Zensur war. Ich wußte außerdem, daß der Buchdruckereibesitzer ein wissenschaftlich gebildeter Mann war, sowie, daß man in Lugano gut aß und gute Gesellschaft fand. Ich war dort dicht bei Mailand, in nächster Nähe von Varese, wo der Herzog von Modena die schöne Jahreszeit verbrachte, von Como, Chiavenna und dem Lago Maggiore mit den berühmten Borromeischen Inseln. Ich befand mich also an einem Ort, wo ich leicht Unterhaltung finden mußte. Ich ging in den Gasthof, der für den besten galt, und der Wirt, ein gewisser Tagoeretti, gab mir das beste Zimmer seines Hauses.

Gleich am nächsten Morgen suchte ich den Dottore Agnelli auf; er war zugleich Buchdrucker, Priester, Theologe und ein recht ehrlicher Mann. Ich machte mit ihm einen Vertrag in einer Form, wonach er sich verpflichtete, mir wöchentlich vier Bögen in zwölfhundert Exemplaren zu liefern. Ich meinerseits verpflichtete mich, jede Woche das Fertige zu bezahlen. Er behielt sich das Recht der Zensur vor, sprach aber die Hoffnung aus, daß seine Meinung stets mit der meinigen übereinstimmen werde.

Ich übergab ihm sofort Vorwort und Einleitung, womit er für eine volle Woche genug zu tun haben mußte, und suchte ein Papier in Großoktavformat aus.

Als ich in den Gasthof zurückgekehrt war, um zu Mittag zu essen, meldete man nur den Bargello oder Polizeimeister.

Obgleich Lugano zu den dreizehn Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft gehört, wird die Polizei dort wie in den italienischen Städten gehandhabt.

Ich war neugierig, was ein solcher Mann von übler Vorbedeutung von mir wünschen könnte, und da ich außerdem verpflichtet war, ihn anzuhören, so ließ ich ihn eintreten. Nachdem er mir eine tiefe Verbeugung gemacht hatte, sagte der Signore Bargello, mit dem Hut in der Hand, er sei gekommen, um mir seine Dienste anzubieten und mir zu versichern, daß ich mich, wenngleich fremd, in Lugano sehr wohl befinden werde und daß ich weder für meine Person etwas zu befürchten habe, falls ich etwa Feinde außerhalb des Kantons habe, noch für meine persönliche Freiheit, falls ich Verdrießlichkeiten mit der venetianischen Regierung haben sollte.

»Ich danke Ihnen, Herr Bargello, und bin vollkommen überzeugt, daß Sie mir die Wahrheit sagen, da ich mich ja in der Schweiz befinde.«

»Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen zu sagen, mein Herr, daß Ausländer, die hierher kommen und der Unverletzlichkeit der ihnen gewährten Zuflucht sicher sein wollen, gewöhnlich eine Kleinigkeit vorauszahlen, sei es wöchentlich oder monatlich oder auf ein Jahr.«

»Und wenn sie nicht zahlen wollen?«

»Dann sind sie nicht so sicher.«

»Schön! – Geld macht alles?«

»Aber mein Herr….«

»Ich verstehe, aber ich will Ihnen etwas sagen: ich habe nichts zu befürchten und halte mich daher für unverletzlich, ohne daß ich mir die Mühe mache, etwas zu bezahlen.«

»Sie werden mir verzeihen, aber ich weiß, daß Sie im Unfrieden mit der venetianischen Regierung leben.«

»Sie täuschen sich, mein guter Freund.«

»Oh nein, hierin täusche ich mich ganz gewiß nicht.«

»Wenn Sie Ihrer Sache sicher zu sein glauben, so bringen Sie mir irgend jemanden, der um zweihundert Zechinen wetten will, daß ich irgend etwas von Venedig zu befürchten habe. Ich werde dagegen wetten und die Summe sofort hinterlegen.«

Der Bargello wurde ganz verlegen, und der Wirt, der zugegen war, sagte ihm, er möchte sich doch vielleicht irren. Er grüßte mich und entfernte sich sehr enttäuscht.

Mein Wirt freute sich, dieses Gespräch mit angehört zu haben, und sagte mir: »Da Sie die Absicht haben, einige Zeit hier am Orte zu verweilen, so tun Sie gut, wenn Sie dem Capitano oder Landvogt einen Besuch machen. Er ist gewissermaßen Gouverneur, und alle Macht liegt in seiner Hand. Er ist ein liebenswürdiger Schweizer Edelmann, und seine Frau ist voller Geist und eine strahlende Schönheit.«

»O, das ist etwas anderes. Verlassen Sie sich darauf, gleich morgen werde ich den Herrn aufsuchen.«

Am nächsten Tage ließ ich mich gegen Mittag beim Landvogt melden; ich wurde sofort vorgelassen und sah vor mir Herrn von R. und seine reizende Gemahlin mit einem hübschen Knaben von fünf oder sechs Jahren.

Man stelle sich unsere gegenseitige Überraschung vor!