In der Stadt Danavardan lebte ein Kaufmann, der eine sehr schöne Tochter hatte. Eines Tages kam ein Kaufmann aus einer Stadt, die in der Nachbarschaft lag, nach Danavardan. Er sah das schöne Mädchen, verliebte sich allsogleich in sie, und als er um sie warb, bekam er sie zur Ehefrau. Nach der Hochzeit nahm er sie in seine Heimatstadt mit und er ließ sie, weil er gleich verreisen mußte, in der Obhut seines Vaters zurück.

Als die junge Frau die Freuden der Liebe gekostet hatte, wollte sie nicht gerne darauf verzichten und benutzte die erste Gelegenheit während der Abwesenheit ihres Gatten, sich mit einem Brahmanen in ein zärtliches Verhältnis einzulassen. Nachdem der Gatte seine Geschäfte erledigt hatte, kehrte er heim. Mit den kostbaren Geschenken, die er mitgebracht hat, hoffte er, seine Frau darüber zu trösten, daß er sie nach den kaum begriffenen Genüssen der Liebe in der ersten Nacht der Ehe verlassen mußte. Die junge Frau nahm die Geschenke scheinbar mit großer Freude an, und der Gatte zögerte nun nicht, alles nachzuholen, was nach der ersten Nacht der Ehe versäumt worden war. Als er ermüdet eingeschlafen war, stieg die junge Frau mit ganz leisen Füßen aus dem Bett. Sie rief ihre Amme – ihre Vertraute – und sandte sie zu dem Brahmanen, ihrem heimlichen Geliebten, mit der Botschaft, daß er sie hinter ihrem Hause erwarten möge.

Die Amme führte diesen Auftrag aus, holte den Brahmanen und postierte ihn, wie verabredet war, an der Mauer hinter ihrem Hause. Hernach verständigte sie ihre Herrin, daß der Geliebte nun auf sie warte.

Als die Stadtwache vorbeikam, bemerkte sie an der Mauer den ausspähenden Mann. Aus seinem Benehmen, und weil es schon tiefe Nacht war, glaubten sie an nichts anderes als an einen Räuber und schossen einen Pfeil auf ihn ab. Der Pfeil traf gerade in dem Augenblick, als die Kaufmannsfrau um die Ecke bog und den Geliebten anrief. Da er bewegungslos und aufrecht an die Mauer gelehnt stand, ohne auch nur eines ihres Liebesworte zu beantworten, so glaubte sie, daß der Groll seine Lippen schloß. Um ihn zu versöhnen, überschüttete sie sein Antlitz mit Küssen, bestürmte seine Lippen und glitt bei ihrem heftigen Bemühen mit ihrer Nase gerade in dem Augenblick zwischen seine Zähne, als er diese im unerbittlichen Todeskampf aneinanderpreßte. Das Röcheln eines Sterbenden wurde von den Schmerzensschreien der Frau übertönt. Der Brahmane war von dem Pfeil tödlich getroffen worden und hatte in seinem Todeskampf seiner Geliebten die Nase abgebissen.

Als die Kaufmannsfrau an ihrem blutenden Antlitz die schreckliche Verstümmelung gewahr wurde, wußte sie im ersten Augenblick nicht, wie sie ihrem Gatten die Tatsache dieses Unglückes, ohne selbst in irgend einen Verdacht zu kommen, erklären sollte. Alsbald kehrte sie in das Schlafgemach zurück und entnahm der Tasche ihres Gatten den Beutelschneider und beschmierte ihn mit dem Blute, das aus ihrem Antlitz floß.

Der Vater der Kaufmannsfrau führte Klage vor dem Richter und verlangte Bestrafung für dieses Verbrechen.

Als dem König dieser sonderbare Vorfall zu Ohren kam, ließ er den beschuldigten Gatten zu sich rufen. Er fragte ihn, welche Gründe er wohl angeben könne, die ein so scheußliches Verbrechen erklären. Der Gatte antwortete dem König: »Während ich an der Seite meiner Gattin schlief, schrie diese plötzlich laut auf. Das ist alles, was ich von diesem Vorfall weiß.«

Nun ließ der König die Frau des Kaufmanns kommen und stellte mit ihr ein Verhör an.

»Ich weiß um kein Vergehen gegen meinen Gatten, das ein solches Betragen rechtfertigen könnte.«

Der König, empört über die Tat des Kaufmanns, sprach zu der Versammlung: »Was immer auch ihre Schuld gewesen sein möge, nichts rechtfertigt die rohe Verstümmelung eines so schönen Weibes.«

Der König überwies den Kaufmann den Händen der Henker. Ehe diese aber den Befehl ihres Herrn ausführen konnten, bat die Stadtwache um die Gnade, vor den König gebracht werden zu dürfen. Der Anführer der Wache warf sich vor den Thron nieder und erstattete folgenden Bericht:

»O weiser König! Als wir heute Nacht wie gewöhnlich unseren Gang durch die Stadt machten, beobachteten wir einen Mann, welcher, an der Mauer hinter dem Hause des Kaufmanns postiert, spähend um sich blickte. Die späte Stunde und das sonderbare Benehmen bestärkte in uns den Verdacht, daß wir einen Räuber entdeckt hätten. Wir sandten rasch entschlossen einen Pfeil nach ihm, der ihn auch tödlich traf. In diesem Augenblick kam des Kaufmanns Weib und rief ihn an. Als sie bemerkte, daß er unbeweglich blieb, sprach sie ihn folgendermaßen an: Seid ihr mir böse, weil ich so spät komme? Und sie umarmte und küßte ihn leidenschaftlich, als ob sie ihn versöhnen wollte. Plötzlich hörten wir einen gellenden Aufschrei und die Frau lief wimmernd in ihr Haus zurück. Nicht lange danach hörten wir aus dem Fenster des Kaufmannshauses, wie die Frau über ihren Gatten mit Schelten und Schimpfen herfiel. Wir gingen nun an die Stelle zurück, wo das Unglück geschehen war, um den Leichnam zu untersuchen. Zum Beweise, daß ich die Wahrheit gesprochen, bringe ich dir die abgebissene Nase der Kaufmannsfrau, welche wir in des Räubers Mund gefunden haben.«

Dem König kam diese Lösung ganz unerwartet. Er gab Auftrag, den unschuldigen Kaufmann freizulassen, das junge Weib aber gebunden den Flammen zu übergeben.

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