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998. Nacht

Alles dieses geschah in Gegenwart der Weisen,
Rechtsgelehrten und vornehmsten Männer, welche alle über die Geläufigkeit
seines Ausdrucks und über seien Beredsamkeit erstaunt waren. Der König freute
sich ebenfalls, küsste ihn, und rief seinen Lehrer Sindbad, behandelte diesen
sehr freundlich, und fragte ihn um die Ursache des Stillschweigens, welches sein
Sohn sieben Tage lang beobachtet hätte. „Ich habe es ihm selbst
angeraten,“ erwiderte Sindbad, „aus Frucht vor einem Unglück, welches
ihm während dieser sieben Tage bevorstand. Sein Geschick wollte es, dass er
sich durch Schweigen rettete und gelobt sei Gott, dass es gelungen ist.“ –
„Doch,“ sprach der König, „wenn wäre die Schuld zuzuschreiben
gewesen, wenn ich meinen Sohn getötet hätte? Mir? Der Frau? Oder seinem
Lehrer?“ Da sprachen die Gegenwärtigen: „Das können wir nicht
entscheiden.“ Nun erhob sich der Sohn des Königs, und sprach: „Höre,
o Herr, folgende Geschichte.“

Geschichte
des Kaufmanns

Ein Kaufmann erhielt einst unerwartet mehrere Gäste, da
schickt er sein Mädchen auf den Markt, um einen Topf Milch zu holen. Diese
kaufte die Milch, und trug sie sodann nach Hause zu ihrem Herrn. Unterwegs flog
ein Raubvogel über ihr vorbei, der in seinen Klauen eine giftige Schlange trug,
welche ihr Gift tropfenweise fallen ließ. Zum Unglück fielen einige Tropfen
Gift in den Topf, ohne dass es die Sklavin bemerkte. Als diese nun bei ihrem
Herrn anlangte, nahm er ihr die Milch ab, trug sie auf, und genoss mit seinen
Gästen davon, welche alle davon nach einiger Zeit starben.“

Jetzt wandte sich der Sohn des Königs zu denen, welche um
ihn standen, und sprach: „Wem glaubt ihr wohl, dass die Schuld von diesem
Unglück  zuzuschreiben ist? Der Sklavin, welche die Milch gebracht hat,
oder der Gesellschaft, welche sie genossen hat?“ – Da sprach einer der
Versammlung: „Die Gesellschaft selbst ist Schuld daran, dass sie die Milch
nicht vorher untersucht hat.“ – „Nein,“ sprach ein anderer,
„die Sklavin trägt allein die Schuld, weil sie den Topf nicht zugedeckt
hat.“ – „Und was sagst Du?“, fragte der weise Sindbad den Sohn
des Königs. – „Das Lebensziel dieser Leute war gekommen,“ antwortete
dieser, „daher musste sich ihnen der Tod nahen. Das ist der wahre Grund
ihres Sterbens.“ Da wunderten sich alle Anwesenden, priesen den Sohn des
Königs, und sagten: „Du bist der Weise Deiner Zeit.“ –
„Mitnichten,“ antwortete der Prinz, „die Geschichte des blinden
Greises wird Euch belehren, dass dieser weiser war, als ich.“

Geschichte
des blinden Greises

Ein sehr reicher Kaufmann, den seine Geschäfte oft zu
reisen nötigten, musste sich einst in ein entferntes Land begeben. Vorher
fragte er diejenigen, die oft dahin zu reisen hatten, welche Ware wohl dort den
meisten Absatz fände. Da sagte man ihm: Das Sandelholz. Er kaufte daher einen
großen Vorrat davon. Als er nun an das Ziel der Reise kam, war es schon spät
Abends, und er war besorgt, in dieser Stadt eine gute Wohnung zu finden. Da
begegnete er einer Frau, an die er sich deshalb wandte. „Wer bist
Du?“, fragte ihn diese. – „Ich bin ein Kaufmann,“ antwortete er
ihr, „bin hier fremd, und komme aus einem entfernten Land.“ –
„Hüte Dich,“ erwiderte sie ihm, „vor den Bewohnern dieser Stadt.
Sie suchen auf alle Art die Fremden zu betrügen. Dabei sind sie sehr listig und
diebisch, und es macht ihnen die größte Freude und Ehre, einen Fremden
hintergangen zu haben. Lachend verzehren sie dann sein Hab‘ und Gut.“ Am
Morgen begegnete ihm ein Mann aus dieser Stadt. Dieser grüßte ihn, und fragte
ihn sehr zuvorkommend: „Wer bist Du? Und woher kommst Du?“ – „Ich
bin ein Kaufmann, und komme aus Samarkand.“ – „Was hast Du denn für
Waren mitgebracht?“, fragte ihn der Mann. – „Sandelholz habe ich
mitgebracht,“ war des Kaufmanns Antwort, „denn man hat mir gesagt, es
habe in dieser Stadt einen hohen Wert.“ – „Der Dir das gesagt hat, hat
Dich sehr betrogen,“ entgegnete jener, „hier zündet man das Feuer
damit an, und allen Bewohnern dieses Landes dient es als Brennmaterial. Es gilt
hier nichts mehr, als das gewöhnliche Brennholz.“ Darüber war der
Kaufmann sehr erstaunt, bereute es sehr, so viel Sandelholz gekauft zu haben,
und war fast in Verzweiflung, den größten Teil seines Vermögens so dabei
verlieren zu müssen. Er begab sich nunmehr in einen der Gasthöfe der Stadt,
und als die Nacht anbrach, sah er einen Kaufmann, der unter einem Kessel Feuer
anmachte, und zwar, wie er leider sah, mit Sandelholz. Das war indessen bloß
eine veranstaltete List des Mannes, mit dem er geredet hatte. Der fremde
Kaufmann aber glaubte nun gewiss, dass das Sandelholz in dieser Stadt wirklich
einen so geringen Wert habe, und schloss mit dem Mann, der das Feuer anzündete,
einen Handel ab, durch welchen er ihm sein ganzes mitgebrachtes Sandelholz
verkaufte, und zwar verpflichtete sich der Käufer, ihm dafür einen Sack von
dem, was er sich wünschen würde, zu füllen, und ließ dieses kostbare Holz in
seine Speicher bringen.

Der Kaufmann aber ging voll Betrübnis ein andermal wieder
aus. Er hatte blaue Augen. Nun war in dieser Stadt ein Mann, welcher eben solche
blaue Augen hatte, wie er, dabei aber einäugig war. Dieser sah es jenem
sogleich an, dass er ein Fremder wäre, lief daher auf ihn zu, fiel ihn wütend
an, und rief: „Du hast mir mein Auge gestohlen! Ich lasse Dich nicht los,
es sei denn, Du gibst mir eine Entschädigung dafür.“ Der Kaufmann
weigerte sich, und so entstand ein Wortwechsel, der viele Leute herbei zog.
Diese brachten es dahin, dass sie sich bis morgen geduldeten. Indessen verlangte
der Einäugige ein Pfand für seine Rückkehr, ohne welches er ihn nicht
loslassen wollte. Der Kaufmann gab ihm eins und ging davon.

Unterdessen war einer seiner Schuhe zerrissen, und er gab
ihn daher einem Schuhflicker mit den Worten: „Bessere ihn aus, und was Dich
befriedigt, werde ich Dir dann geben.“ Mit diesen Worten ging er davon, und
blieb unterwegs bei einer Menge von Leuten stehen, welche das Richterspiel1)
spielten. Er gesellte sich zu ihnen, um sich von seinem Kummer und ärgernis zu
zerstreuen. Da baten sie ihn, mit ihnen zu spielen, welche Einladung er annahm.
Zum Unglück aber verlor er, und der Sieger verurteilte ihn, das Wasser des
Meeres auszutrinken, oder ihm eine große Summe Geldes auszuzahlen. Darüber war
er ganz außer sich, und sprach: „Lass mir Zeit bis morgen.“ Diese
Frist wurde ihm gestattet, und der Kaufmann entfernte sich höchst betrübt, und
wusste nun nicht, wo er hingehen sollte. Während er so in seinen Gedanken
vertieft war, kam eine alte Frau und sprach: „Es scheint mir, Du bist ein
Fremder.“ – „Freilich bin ich’s,“ sprach er verdrießlich. –
„Nun wohl, so hüte Dich vor den Bewohnern dieser Stadt, denn es sind
unverschämte Betrüger. Ich sehe Dich so betrübt, es ist Dir gewiss schon
etwas begegnet?“ Er erzählte ihr hierauf alles, was ihm begegnet war.
„Der erste Betrug, den man an Dir ausgeübt hat,“ erwiderte die Alte,
„ist der mit dem Sandelholz. Denn das Pfund gilt hier zehn Goldstücke. Ich
wünschte sehr, dass Du noch zu Deinem Geld kommen mögest. Ich kann Dir nichts
weiter raten, als dass Du an das Stadttor gehst. Dort wirst Du einen blinden
Greis sitzen sehen, der ein sehr weiser und unterrichteter Mann ist. Er kennt
alle Schelme und Betrüger dieser Stadt, denn alle Abende kommen sie zu ihm,
erzählen ihm alle ihre Streiche, und holen sich Rat bei ihm. Kannst du Dich
also verbergen oder verkleiden, so gehe hin, damit Du sie reden hörst, ohne von
ihnen gesehen zu werden. Ich rate Dir es sehr, versäume es ja nicht. Vielleicht
hörst Du dort etwas, was Dir sehr nützen kann.“ Sie ging davon, und der
Kaufmann begab sich an den Ort, wo er auch den Greis wirklich fand. Er
versteckte sich ganz nahe bei ihm, und es dauerte nicht lange, so hatte sich
auch schon eine Menge Leute bei ihm versammelt. Zu seiner Freude bemerkte er
unter ihnen auch die vier Schelme, die ihn betrogen hatten. Nachdem sie gegessen
und getrunken hatten, erzählte jeder dem Greis, was ihm den Tag über begegnet
war. Endlich kam auch der Mann, der das Sandelholz gekauft hatte, und sagte ihm:
„Ich habe heute Sandelholz fast umsonst gekauft, und zwar um einen Sack
voll von dem, was der Käufer wünschen würde.“ – „Du hast einen sehr
schlechten Handel gemacht,“ erwiderte der Greis. „Deine Gegenpartei
kann vor dem Richter ihren Prozess gewinnen.“ – „Wie so das? Und wenn
er einen großen Sack voll Gold verlangte, so würde ich ihm denselben gern
geben, denn ich würde noch viel dabei gewinnen.“ – „Siehst Du denn
nicht ein,“ entgegnete ihm der Greis, „dass, wenn er von Dir einen
Sack voll Flöhe verlangt, halb Männchen und halb Weibchen, Du ihm dieselben
nicht geben kannst?“ – Da sah er ein, dass er nicht gewinnen würde, und
zog sich zurück.

Nun trat der Einäugige hervor, und sprach: „Heute
habe ich einen Mann, der eben solche blaue Augen hatte wie ich, getroffen.
Diesen habe ich angefallen, und zu ihm gesagt: „Du hast mir mein Auge
gestohlen,“ und ich habe ihn nicht eher von mir gelassen, als bis er sich
durch ein Pfand verpflichtete, mir das zu geben, was ich verlangen würde.“
– „Wenn der Mann wollte,“ sagte der Greis, „so könnte er Dich
überlisten.“ – „Und wie das?“ – „Wenn er Dir nun sagte:
Reiß vorher Dein Auge aus, und ich will eins von meinen ausreißen, dann wollen
wir sie gegeneinander wiegen. Sind sie einander an Gewicht gleich, so wird man
dadurch erst sehen, ob es wahr ist, was Du behauptest. Dann,“ fügte der
Greis hinzu, „bist Du eines Betruges überführt, und Du wirst ganz blind
sein, da er nur einäugig sein wird.“ Da sah dieser ein, dass er
überlistet werden könne, und zog sich zurück.


1)
Dies Spiel heißt im Arabischen: Alhukmu warredha, d.i. das Urteil, Beruhigung
beim Urteil oder Unterwerfung unter dasselbe.