Project Description

992. Nacht

Er bewohnte nun ganz allein dieses große Haus und war im
Besitz aller Reichtümer, die es enthielt. Dessen ungeachtet quälte ihn das
Verbot, die Türe zu öffnen, und er konnte nicht umhin, sich derselben zu
nähern, um sie zu besehen. Er fand sie sehr klein, in einem dunkeln Winkel
untergebracht und ganz mit Spinnweben überwebt, auch hatte sie vier Schlösser.
Da betrachtete er sie noch einmal ganz genau, und wandte sich dann schnell um,
der Warnung des Greises gedenkend. Ein ganzes Jahr lang hatte er nun so,
obgleich mit vieler Mühe, dem Drang, die Türe zu öffnen, widerstanden.
Endlich aber gewann seine Sehnsucht das übergewicht, und er beschloss, sie zu
öffnen, um doch, wie er meinte, zu sehen, was sie enthielte, und die Ursache zu
ergründen, warum jene Greise so geweint und ihr übriges Leben der Trauer
gewidmet hätten. Hätte er die Folgen vorausgesehen, so würde er sich wohl
gehütet haben, diesen Schritt zu tun, allein er fasste guten Mut und sprach:
„Was nicht sein soll, das wird auch nicht geschehen, und was bestimmt ist,
dem kann man nicht entgehen.“ Hiermit ging er zur Türe, schloss die
Schlösser auf, öffnete und trat hinein. Er befand sich hier in einem sehr
engen, langen Gang, der immer dunkler wurde und endlich gar kein Tageslicht mehr
einließ.

Drei Stunden hatte er schon in diesem finsteren Gang
herumgetappt, als es anfing, hell zu werden. Und immer weiter vorschreitend, kam
er endlich heraus und befand sich am Ufer eines großen Meeres. Darüber war er
außerordentlich erstaunt und suchte sich zurecht zu finden. Doch war es ihm
nicht möglich. Alles blieb ihm fremd, als er so rechts und links um sich
blickte, stürzte plötzlich ein großer Adler auf ihn herab, führte ihn durch
die Lüfte und brachte ihn auf eine Insel in diesem Meer, dort setzte er ihn
ruhig hin und flog davon. Der Mann war darüber ganz bestürzt, und hatte sich
noch kaum von seinem Erstaunen erholt, als er in weiter Ferne auf dem Meer ein
Segel erblickte. Auf dieses richtete er nun seine ganze Aufmerksamkeit, und
hoffte von ihm seine Rettung. Auch nahte es sich wirklich der Insel und gelangte
endlich ans Ufer derselben. Es war ein großer Kahn von Ebenholz, mit Elfenbein
ausgelegt und mit Gold verziert. Die Nägel waren vom glänzendsten Stahl. Das
Schiff war voll schöner junger Mädchen, welche, so wie sie ihn sahen,
aussteigen, und sich ihm zu Füßen warfen, indem sie ausriefen: „Du bist
der König, Du bist der Gatte! Dir bringen sich die Herzen dar.“ Eine von
ihnen, welche von ganz vorzüglicher Schönheit war und die Sonne am hellsten
Himmel an Glanz überstrahlte, trat hervor, in ihrer Hand ein seidenes Tuch
haltend, in welches ein königliches Gewand und eine goldene Krone, mit
kostbaren Edelsteinen geziert, gewickelt war. Sie legte ihm dieses Gewand an,
und lud ihn ein, sich auf das Schiff zu begeben. Zu gleicher Zeit nahten sich
auch die anderen und trugen ihn gleichsam auf dasselbe hin. Hier fand er alles
in der größten Pracht, und die schönsten Teppiche waren zu seinem Dienst
ausgebreitet. Nunmehr lichteten sie schnell die Anker, das Schiff eilte davon
und er dünkte sich noch immer wie im Traum. Als sie an das Ufer, wohin sie
segelten, gelangt waren, sah er alles voll bewaffneter und gepanzerter Krieger,
die in der schönsten Haltung da standen. Sobald das Schiff geankert hatte,
wurden ihm fünf der schönsten Rosse, deren Sättel mit kostbaren Perlen und
Edelsteinen besetzt waren, vorgeführt. Aus diesen wählte er sich eines und
bestieg es sogleich. In demselben Augenblick ließ man die Fahnen und Standarten
wehen, und man schwenkte sie über seinem Haupt und zugleich wurden die Pauken
geschlagen. Das Kriegsheer teilte sich in einen rechten und in einen linken
Flügel, und diese schwenkten sich so, dass er gerade in die Mitte kam. Dies
alles vermehrte seine Bestürzung, und er konnte noch immer nicht glauben, dass
er wirklich wachte. Unterdessen ritt er, von diesen Truppen umgeben, immer
vorwärts, bis er auf einer schönen Ebene anlangte, die dem schönsten Garten
glich. Bildsäulen wechselten mit den schönsten Bäumen ab, und strömende
Bäche bahnten sich Wege durch die mannigfaltigsten Blumen. Hier näherte sich
plötzlich ein zweites Kriegsheer, das zwischen den Bäumen und Strömen
durchdrang. Sowie dasselbe näher gekommen war, machten sie halt, und nun trat
der König dieser Insel, welcher ganz verschleiert war, mit einigen seiner
Hofbeamten hervor und näherte sich dem jungen Mann, welcher aus Ehrfurcht
sogleich vom Pferd stieg. Der König tat indessen desgleichen, und nun
begrüßten sie sich gegenseitig auf das höflichste. Der König sagte zu ihm
hierauf: „Du bist mein Gast, komm und begleite mich.“ Sie bestiegen
darauf ihre Rosse und ritten so freundschaftlich und nahe beisammen, dass der
Steigbügel des einen den des anderen berührte. Unter stetem Gespräch und in
Begleitung der Truppen gelangten sie endlich an das Schloss, wo sie abstiegen
und wo der König dem jungen Mann die Hand reichte und ihn einführte. Sie
begaben sich da in einen prächtigen gewölbten Saal, in welchem der Thron des
Reichs stand, und welchen sie beide bestiegen. Als sie sich gesetzt hatten,
entschleierte sich der König und nun sah er, dass es ein schönes Mädchen,
gleich einer strahlenden Sonne war. Erstaunt über ihre Reize und über alle die
Wunder, die er bis jetzt gesehen hatte, vermochte er kein Wort zu sprechen. Sie
indessen sagte zu ihm: „Wisse, dass ich die Königin des Landes bin. Die
Truppen, die Du um Dich siehst, sind alles Frauen, und ich bin ihre Gebieterin.
Die Männer bei uns beschäftigen sich im Innern des Landes mit Ackerbau und mit
anderen friedlichen Hantierungen. Die Weiber dagegen bilden bei uns die
Kriegsheere, und sind zugleich auch die Schriftgelehrten, die Weisen und
Richter.“ Darüber war er denn außerordentlich erstaunt.

Nach einiger Zeit näherte sich eine alte Frau, die ihm
als Großwesir vorgeführt wurde. Dieser befahl die Königin, den Richter und
die Zeugen vorzuführen, und während diese ihren Auftrag ausrichtete,
unterhielt sich die Königin mit dem Fremden auf eine so gefällige, angenehme
und zärtliche Art, dass alle seine Besorgnisse verschwanden. „Willst
Du,“ fragte sie endlich, „mein Gatte werden?“ Auf diese Frage
wollte er sich ihr zu Füßen werfen. Sie aber hielt ihn davon ab, und sprach:
„Betrachte mich als eine der geringsten Sklavinnen, die Dir gehorchen, denn
alles, was Du um mich siehst, von Menschen und Ländereien, ist nunmehr Dein
Eigentum, und Du kannst darüber schalten, wie Dir beliebt. Nur jenem
verschlossenen haus, (welches sie ihm zeigte,) nahe dich niemals. Hüte Dich,
dass dies nie geschehe! Denn solltest Du mir hierin ungehorsam sein, so wirst Du
es lebenslänglich bereuen.“