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99. Nacht

Herr, der Großwesir fuhr folgendermaßen in der
Geschichte fort, welche er dem Kalifen erzählte:

„Zwei Jahre,“ sagte er, „nachdem
Bedreddin-Hassan in die Hände dieses Lehrers gegeben worden war, der ihn
vollkommen gut lesen lehrte, lernte er den Koran auswendig. Nureddin-Ali, sein
Vater, gab ihm andere Lehrer, welche seinen Geist auf solche Weise
unterrichteten, dass er in dem Alter von zwölf Jahren ihrer Hilfe nicht mehr
bedurfte. Da nun alle Züge seines Gesichts ausgebildet waren, erregte er die
Bewunderung aller, die ihn sahen. Denn wie von ihm der Dichter sagt:

„Kaum zeigt er sich, so ruft auch jedermann:
Gepriesen sei Gott, der ihn so schön gebildet hat.
Er ist der König der Schönheit, und sie ist ihm ganz untertan.
In seinem Munde ist der köstliche Honig, und ihm sind Perlen eingereiht.
Er allein vereinigt alle Schönheiten in sich, und die Menschheit verirrt sich
gleichsam in ihnen.
Die Schönheit selbst scheint auf seine Wangen geschrieben zu haben: „Ich
bezeuge, dass er schön ist.“

Bis dahin hatte Nureddin-Ali nur daran gedacht, ihn
studieren zu lassen, und hatte ihn noch nicht in der Welt gezeigt. Er führte
ihn in den Palast, um ihm die Ehre zu verschaffen, dem Sultan seine Aufwartung
zu machen, der ihn sehr günstig aufnahm. Die ihn zuerst auf der Straße sahen,
waren von seiner Schönheit so entzückt, dass sie darüber laut aufschrieen und
ihm tausend Segnungen nachriefen.

Da sein Vater sich vorgenommen hatte, ihn zur einstigen
übernahme seines Amtes fähig zu machen, so sparte er nichts, was ihm zur
Erreichung dieses Zweckes dienlich schien, und ließ ihn an den schwierigsten
Geschäften Teil nehmen, um ihn bei guter Zeit daran zu gewöhnen. Kurz, er
vernachlässigte nichts, was zur Beförderung eines ihm so teueren Sohnes dienen
konnte, und er fing schon an, die Früchte seiner Bemühungen einzuernten, als
er plötzlich von einer so heftigen Krankheit befallen wurde, dass sein letzter
Lebenstag nahe zu sein schien. In diesem kostbaren Augenblick vergaß er nicht
seines Sohnes Bedreddin. Er ließ ihn rufen und sagte zu ihm: „Mein Sohn,
du siehst, dass diese Welt vergänglich ist; nur jene, in welche ich nun bald
gelangen werde, ist wirklich dauerhaft. Du musst jetzt anfangen, dich in meine
jetzige Stimmung zu versetzen; bereits dich, diesen übergang ohne Reue zu
machen, und ohne dass dein Gewissen dir irgend etwas in Beziehung auf die
Pflichten eines Muselmannes und eins vollkommen rechtschaffenden Mannes
vorwerfen könne. Was deine Religion betrifft, so bist du sowohl durch deine
Lehrer als auch durch das, was du gelesen hast, vollkommen davon unterrichtet.
Was die Pflichten des rechtschaffenen Mannes betrifft, so will ich dir einige
Lehren zur Benutzung geben. Da es nötig ist, sich selbst zu kennen, und du
diese Kenntnis nicht füglich haben kannst, ohne zu wissen, wer ich bin, so
sollst du es erfahren.

„Ich bin,“ fuhr er fort, „in ägypten
geboren und mein Vater, dein Großvater, war erster Staatsbeamter des Sultans
dieses Königsreichs. Ich selbst habe die Ehre gehabt, einer der Wesire dieses
Sultans zu sein, so wie auch mein Bruder, dein Oheim, der vermutlich noch lebt
und sich Schemseddin Mohammed nennt. Ich war genötigt, mich von ihm zu trennen,
und ich kam in dieses Land, wo ich zu dem Rang gelangte, den ich bis zuletzt
bekleidet habe. Doch du wirst das alles ausführlicher in einem Hefte finden,
welches ich dir zu geben habe.“

Zugleich zog nun Nureddin-Ali dieses, von seiner eigenen
Hand geschriebene Heft, welches er immer bei sich trug, hervor, und sagte, indem
er es dem Bedreddin übergab: „Nimm und lies es mit Muße. Du wirst unter
anderem auch den Tag meiner Hochzeit und den deiner Geburt verzeichnet finden.
Das sind Umstände, die die vielleicht in der Folge zu wissen nötig sind, und
die dich das Heft sorgfältig müssen bewahren lassen.“ Bedreddin-Hassan,
sehr betrübt, seinen Vater in dem Zustand, in welchem er sich befand, zu sehen,
und von diesen Worten gerührt, empfing das Heft mit Tränen in den Augen, indem
er ihm versprach, es nie aus den Händen zu geben.

In diesem Augenblick überfiel den Nureddin-Ali eine
Schwäche, die seinen Tod erwarten ließ. Aber er kam bald wieder zu sich und
sagte: „Mein Sohn, die erste Lebensregel, die ich dir zu geben habe, ist,
nicht mit allen Gattungen von Menschen umzugehen. Um in Sicherheit zu leben,
muss man sich ganz in sich selbst zurückziehen und sich nicht leicht
mitteilen.“ Er fügte, nachdem er dies gesagt hatte, noch folgende Verse
hinzu:

„Es gibt zu deiner Zeit keinen Freund, oder irgend
jemand, dessen Liebe du begehrst, welcher, wenn dir Unglücksfälle begegnen,
das Bündnis der Freundschaft treu bewährt.“

„Lebe also zurückgezogen und baue auf niemand, ich
warne dich davor, und ich habe hierüber genug gesagt.

Die zweite Lebensregel ist, niemand, wer es auch sei,
Gewalt anzutun; denn in diesem Falle würde sich die ganze Welt gegen dich
auflehnen, und du musst die Welt wie einen Gläubiger betrachten, dem du
Mäßigung, Mitleid und Duldung schuldig bist.“ Er sagte hierauf noch die
folgenden Verse:

„Geh langsam zu Werke, übereile dich bei keinem
Geschäfte, und sei langmütig gegen die Menschen, so wirst du als wohlwollend
gepriesen werden.
Bedenke, dass es keine Hand eines Machthabers gibt, über welcher nicht die Hand
Gottes schwebt, und dass der Gerechte sonst nicht durch einen Ungerechten
gequält werden könnte.“

„Die dritte Lebensregel ist, nicht zu antworten, wenn
man dich auch mit Schmähungen überhäuft. Man ist außer Gefahr, sagt das
Sprichwort, sobald man stille schweigt. Das musst du vorzüglich bei solcher
Gelegenheit befolgen. Du weißt auch, dass einer unserer Dichter sagt, das
Stillschweigen sei die Zierde und Schirmwache unseres Lebens, und man müsse,
wenn man spricht, nicht dem alles verheerenden Gewitterregen gleichen. Man hat
niemals bereut geschwiegen, gar oft aber, gesprochen zu haben.“

„Die vierte Regel ist, keinen Wein zu trinken, denn
der Wein ist die Quelle aller Laster; weshalb auch der Dichter sagt:

„Ich verzichte auf den Wein, und höre auf, ihn zu
trinken; denn er hat mich zum Gegenstand des Tadels aller Leute gemacht.
Es ist ein Getränk, welches auf dem Weg des Rechts irre macht und die Pforten
zu allem Bösen öffnet.“

Die fünfte Regel ist, dein Vermögen zu Rate zu halten.
Wenn du es nicht verschwendest, wird es dich vor der Not bewahren. Man muss
jedoch nicht zu viel besitzen, noch geizig sein. Wenn du auch nur wenig hast und
es mit Verstand ausgibst, so wirst du viele Freunde haben; wenn du aber im
Gegenteil große Reichtümer besitzt und einen üblen Gebrauch davon machst, so
wird sich alle Welt von dir entfernen und dich verlassen.“ Hier fügte er
wieder folgende Verse hinzu:

„Habe ich wenig Vermögen, so wird kein Mensch nach
meiner Freundschaft trachten, besitze ich aber Reichtümer, so möchten alle
Leute gern meine Freunde sein.
Wie viele Freunde trachten sonst nicht nach meiner Gunst, als ich Schätze
spendete! Und eben so viele flohen mich, als ich kein Vermögen mehr
besaß.“

Kurz, Nureddin-Ali fuhr bis zum letzten Augenblick seines
Lebens fort, seinem Sohne gute Lehren zu geben; und als er gestorben war, wurde
er auf das prächtigste zur Erde bestattet.