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979. Nacht

In Sina lebte ein König von außerordentlicher Macht,
alle Fürsten ehrten ihn wegen seiner Weisheit und sein Volk liebte ihn wegen
seiner Gerechtigkeit. Da er schon alt war und keine Kinder hatte, empfand er
darüber große Betrübnis, diese nahm so zu, das er ganze Tage lang sich seinem
Kummer überließ und sehr in Sogen darüber war, dass sein Reich einst einem
Fremden zu Teil werden könnte. Eine geraume Zeit lang hatte er sein Schloss
nicht verlassen und die Leute fingen schon an zu glauben, dass er gestorben
wäre, und dass man seinen Tod noch verheimliche. Die Königin, welche ebenso
schön als verständig war, und welcher diese Gerüchte zu Ohren gekommen waren,
begab sich daher zum König, den sie in den bittersten Kummer versenkt fand. Sie
warf sich vor ihm zur Erde und sprach: „O! Mein König, mein Leben wollte
ich für Deine Ruhe geben. Möchte nie ein Wechsel des Glücks Dich treffen und
möchte Gott Dir stets Freude und Linderung für Deinen Schmerz geben. Aber
warum sehe ich Dich so betrübt und in Gram versunken?“ – „Du
weißt,“ erwiderte er, „dass ich bejahrt bin, und der größte Teil
meines Lebens verflossen ist, ohne dass ich das Glück habe, Kinder zu besitzen.
Du weißt, dass nach mir das Reich an einen anderen Stamm fällt und mein
Geschlecht erlischt. Das ist nun die Ursache meines Kummers.“ – „Gott
möge Dir ihn verscheuchen,“ erwiderte sie, „auch ich habe schon
längst darüber nachgedacht. In dieser Nacht aber ist mir ein Traumbild
erschienen, welches mir sagt: „Der König wünscht sich einen Sohn, wenn er
indessen einen erhalten sollte, so wird diesem Sohn viel Ungemach und Drangsal
bevorstehen. Doch wird er dem Tod entgehen. Bekommt er aber eine Tochter, so
wird sie Ursache sein, dass sein Reich sich auflösen wird. Auf keinen Fall aber
wird ihm eine andere Frau als Du ein Kind gebären. Der günstige Zeitpunkt zu
Deiner Schwangerschaft wird sein, wenn der Mond in das Gestirn der Zwillinge
tritt.“ In diesem Augenblick wachte ich auf. Du kannst denken, wie
unangenehm mir es war, die Verheißung eines Kindes von diesem Traumbild zu
vernehmen, da uns davon so viel Unheil bevorsteht.“ Der König aber
erwiderte: „Es geschehe was da wolle, ich werde doch nicht aufhören, mir
von Gott ein Kind zu erflehen.“ Die Königin hörte seit dieser Zeit nicht
auf, ihren Gemahl aufzuheitern und zu trösten, so dass er sich den Geschäften
überließ, und sich den Leuten zeigte. Als nun der Mond in die Zwillinge trat,
wurde auch wirklich die Königin schwanger, und sie gebar einen Sohn von
außerordentlicher Schönheit. Dieses Ereignis versetzte das Volk in die
größte Freude, und der König ließ alle Weisen und Sterndeuter versammeln,
und befahl ihnen, seinem Sohn das Horoskop zu stellen, und ihm, dem König,
offen zu sagen, was ihm bevorstände. Diesem Befehl unterzogen sie sich, und als
sie ihr Geschäft vollbracht hatten, erklärten sie ihm: „Wir sehen, dass
Dein Sohn glücklich sein, und ein langes Leben genießen wird. Nur steht ihm
eine große Gefahr während seiner Jugend bevor. Doch wird er diese glücklich
überstehen, und nachher wird ihm nichts Böses mehr widerfahren.“ Nachdem
sie der König reichlich beschenkt hatte, entfernten sie sich. Den Sohn aber
übergab er den Mädchen und Pflegerinnen, bis er größer wurde. Als er nun
sieben Jahre alt war, schickte der König in alle Provinzen und
Statthalterschaften eine Aufforderung an alle Weisen und Rechtsgelehrten, sich
bei ihm einzufinden, worauf sich dreihundertundsechzig Menschen bei ihm
einstellten. Diesen wies er prächtige Wohnungen an, und gab ihnen zu Ehren
prächtige Gastmähler. Eines Tages eröffnete er ihnen, er wünschte, sie
möchten aus ihrer Mitte fünfzig ausgezeichnete Männer erwählen. Diese fünfzig
sollten unter sich zehn, und diese zehn unter sich einen auswählen. Von diesem
wollte er seinen Sohn in allen Wissenschaften unterrichten lassen. Wenn dann
sein Sohn die nötigen Kenntnisse erworben haben würde, so wolle er ihm große
Wohltaten zu Teil werden lassen. Sie erklärten hierauf alle, dass unter ihnen
keiner mit mehr Weisheit, Kenntnis und Gelehrsamkeit begabt wäre, als Sindbad
der Weise. Dieser aber befände sich in seinem Reich. Er dürfte daher diesem
nur den Befehl zuschicken, zu erscheinen, und ihm dann seinen Willen kund tun.

Sobald Sindbad hinberufen und angekommen war, sagte er zu
ihm, dass er alle diese Weisen versammelt habe, damit sie einen unter sich
auswählen sollten, dem er die Erziehung seines Sohnes anvertrauen könne. Dass
aber ihre Wahl einstimmig auf ihn gefallen sei. „Findest du also,“
fügte er hinzu, „in Dir die Kraft, diesen Auftrag zu erfüllen, so
übertrage ich Dir hiermit dieses Geschäft. Vergiss aber nicht, dass das
Teuerste, was der Mensch hat, sein Kind ist. Wende also Deine Geschicklichkeit
an, ihn zu unterrichten.“ Zugleich ließ er seinen Sohn rufen, übergab ihn
seinem künftigen Lehrer, und befahl diesem noch an, die Erziehung binnen drei
Jahren zu vollenden.

Sindbad übernahm den Sohn des Königs, und wendete alle
seine Geschicklichkeit an, ihm Kenntnisse beizubringen. Allein die drei Jahre
waren verflossen, und er hatte noch nichts gelernt, denn er hatte sich bloß mit
Spielen und Scherzen beschäftigt. Als nun der König seinen Sohn vor sich
kommen ließ, um seine Kenntnisse zu untersuchen, und bemerkte, dass sein Sohn
noch gar nichts wüsste, versammelte er zum zweiten Mal die Gelehrten, und trug
ihnen nochmals auf, einen unter ihnen auszusuchen. Wie sie ankamen, fragten sie
den König, was Sindbad bis jetzt seinem Sohn beigebracht habe. Als ihnen nun
der König erwiderte, dass sein Sohn gar nichts wisse, so ließen sie Sindbad
rufen, und fragten ihn: „Was ihn denn abgehalten habe, während dieser Zeit
den Sohn des Königs etwas zu lehren?“ – „Seine stete Neigung zu Spiel
und Scherz,“ antwortete er, „indessen, wenn der König einige
Bedingungen eingehen will, so verpflichte ich mich, seinen Sohn in sieben Wochen
so viel zu lehren, als ein anderer kaum in sieben Jahren zu lehren vermag.“
– „Worin bestehen denn diese Bedingungen?“, fragte der König. Worauf
Sindbad antwortete: „O König, behalte folgende Sprüche in Deinem
Gedächtnis. Erstens: Tue Deinen Leuten nur das, was Du wünschest, dass Dir
selbst geschehe. – Zweitens: Unternimm keine Sache in übereilung, sondern
befrage vorher Leute von Einsicht. – Drittens: So oft Du kannst, sei bereit zu
verzeihen. – Das ist alles, was ich von Dir genau beobachtet wünsche.“ –
Der König forderte hierauf alle Anwesenden zu Zeugen auf, dass er sich diesen
drei Vorschriften unterziehe, und verpflichtete sich auch noch schriftlich in
ihrer Gegenwart dazu. Sindbad nahm nun von neuem den Sohn des Königs mit sich
in seine Wohnung, wohin der König viele Geschenke und andere notwendige
Bedürfnisse bringen lies. Der Weise aber ließ für den Sohn des Königs ein
besonderes Zimmer einrichten, auf dessen Wände er alle die Lehren schrieb, die
der Sohn lernen sollte. In dieses Zimmer führte er ihn dann selbst, sagte ihm,
er möchte Auszüge von allem dem machen, was er auf den Wänden geschrieben
fände, und verließ ihn hierauf, nachdem er ihn mit Lebensmitteln versehen
hatte, und schloss die Tür mit sieben Schlössern hinter ihm zu. Nach drei
Tagen kam er wieder zu ihm, brachte ihm frische Lebensmittel, und gab ihm
ferneren Unterricht über die Art, wie er diese Schriften abschreiben sollte.
Dann verließ er ihn wieder, und verschloss ihn, wie gewöhnlich. Der junge
Prinz aber, so oft ihn Bangigkeit und Langeweile quälte, beschäftigte sich
damit, sich auch den Sinn derselben zu erklären, und auf diese Art hörte der
Lehrer nicht auf zu verfahren, bis der Prinz in kurzer Zeit die Kenntnisse, die
der Lehrer in diesem Gemach aufgezeichnet hatte, sich zu eigen gemacht. Hierauf
nahm er ihn aus diesem Zimmer, und ließ ihn reiten und Pfeile werfen lernen.
Sobald er auch dieses vollkommen inne hatte, ließ er den König
benachrichtigen, dass sein Sohn jetzt im Besitz von Kenntnissen wäre, die man
von seinesgleichen erwartete. Der König, der darüber sehr erfreut war, ließ
seine Wesire und die Vornehmsten seines Reiches zusammen kommen, um die
Kenntnisse seines Sohnes zu prüfen. Auch schickte er nach dem Weisen, damit er
seinen Sohn an einem bestimmten Tag an den Hof bringen möchte. Da beobachtete
Sindbad vorher die Sterne, und sah, dass dem Knaben binnen sieben Tagen ein
großes Unglück bevorstehe. Er rief denselben daher zu sich, und sagte:
„Siehe Du selbst die Bedeutung dieses Standes der Sterne, und beobachte das
Verhältnis, in welchem sie zu der Stellung sind, welche sie am Tag Deiner
Geburt hatten.“ Da betrachtete der junge Prinz die Sterne, und fand, dass
ihm ein großes Unglück bevorstehe, worüber er in große Besorgnis geriet.

„Was rätst Du mir,“ fragte er seinen Lehrer,
„dass ich tun soll?“ – Da antwortete Sindbad: „Ich rate Dir, und
befehle Dir, während den sieben Tagen kein Wort zu sprechen, sollte auch Dein
Vater Dich töten wollen.“