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965. Nacht

Als sie wieder zu sich selbst kam, sagte sie: „Ach,
ihr lieben Leute von Damaskus! Rufe ihn, damit er unsere Geschäfte
besorge.“ Da winkte der Greis mit dem Kopf durch das Fenster, das aus
seinem Zimmer in die Moschee ging, dem Nureddin Ali zu, der auch sogleich
herein trat und bei dem ersten Anblick sogleich die Sittulmulach, sowie sie
ebenfalls auch ihn, erkannte. Vor Schrecken kehrte er schnell um, und wollte
fliehen. Allein sie eilte ihm nach, hielt ihn fest, und ein Freudentränenstrom
entquoll ihren Augen. Sie umarmten sich, aber ihre Freude war so groß, dass sie
in Ohnmacht fielen. Als der Greis sie in diesem Zustand erblickte, ergriff ihn
eine große Furcht, er floh daher hinaus, und eilte zu seinem Nachbar, dem
Juden. „Was fehlt Dir? Du bist ja ganz außer Dir!“, sagte dieser zu
ihm. – „Wie sollte ich nicht außer mir sein,“ antwortete der Greis,
„da das Mädchen den Mann, den ich in der Moschee aufgenommen habe, erkannt
hat. Sie liebt ihn, sie haben sich umarmt, und nun liegen sie ohnmächtig da.
Gott! Wenn das der Kalif erfährt, so wird er sehr zornig auf mich sein. Was
soll ich tun, und wie soll ich mich aus dem Unglück retten, in welches mich
dieses junge Mädchen gestürzt hat.“ – „Nimm alsbald,“ sagte der
Jude, „dieses Fläschchen Rosenwasser, und begieße sie damit, so werden
sie wieder zu sich kommen.“ Der Greis nahm das Fläschchen in Empfang,
eilte zu den beiden Liebenden, und begoss ihnen das Gesicht damit, welches auch
sogleich die gewünschte Wirkung tat.

Nun erzählte einer dem andern, was sie während ihrer
Trennung ausgestanden hatten. Besonders erregten die Verfolgungen, denen
Nureddin von Seiten Muradis ausgesetzt gewesen war, ihr ganzes Mitleiden.
„Jedoch,“ sprach sie endlich, „hören wir jetzt auf, von diesen
traurigen Begebenheiten zu reden, sondern preisen wir lieber Gott wegen unsrer
Wiedervereinigung, und dem Ende unserer Leiden.“ Zu gleicher Zeit
überreichte sie ihm den Becher. Er aber sprach: „Nein, so lange ich noch
in diesem Zustand des Elends bin, trinke ich nimmermehr.“ Da setzte sie ihm
den Becher an den Mund, und flößte ihm den Wein ein, nahm sodann die Laute,
und sang folgende Verse:

„O Du, der Du von mir abwesend warst, der aber in
meinem Herzen stets einen Platz behielt, meinen Augen warst Du zwar fern, aber
meine Gedanken waren bei Dir.
Ich führte während dieser Zeit ein Leben, von dem ich nicht glaubte, dass es
besser werden möchte.
Einsam und verlassen weinte ich, verzweifelnd wegen Dir, als wenn alles um mich
her fremd geworden wäre.
Ach, wie unglücklich war ich in dieser Lage, und doch warst stets Du es, nach
welchem mein Auge schaute. Du warst mir nicht fern.“

Nach Beendigung dieser Verse weinten sie beide, und
Sittulmulach ergriff von neuem die Laute, um folgendes zu singen:

„Gott weiß es, dass ich nie an Euch denken konnte,
ohne dass mein Auge sich mit häufigen Tränen füllte.
Meine Liebe zu Dir tobte, meine Sehnsucht drohte, mich jeden Augenblick zu
töten. Nur wenn ich Dich nahe bei mir dachte, beruhigte sich mein Herz.
O Du Licht meiner Augen, du mein einziger Wunsch, meine Hoffnung, ich kann mich
nicht satt sehen an Deinem Angesicht!“

Als sie geendet hatte, umarmten sie sich. Sie trocknete
ihm seine Tränen ab, und in diesem Zustand der wechselseitigen Unterhaltung und
des Gesangs brachten sie ihre Zeit bis zum andern Morgen zu, an welchem der
Diener mit dem Maulesel zurückkam, und ihr sagte, dass der Fürst der
Gläubigen sie zu sehen verlangte. Sie machte sich auch sogleich auf, nahm
Nureddin bei der Hand, und überlieferte ihm dem Greis, indem sie sagte:
„Hier ist ein teures Unterpfand, das ich Dir zurücklasse, und welches du
nur dann von Dir lassen darfst, wenn dieser Diener es von Dir abholt. übrigens
hast du bei mir eine große Dankbarkeit zu erwarten.“ Sie bestieg darauf
das Maultier, und begab sich in das Schloss des Fürsten der Gläubigen. Als sie
sich vor diesem sogleich auf die Erde warf, sagte er zu ihr spöttisch. „Du
scheinst mir ganz Deinen Herrn wieder gefunden zu haben.“ – „Bei
Deinem Glück, und bei der Dauer Deines Lebens,“ erwiderte sie, „ich
habe ihn gefunden.“ Der Kalif, der bis jetzt nachlässig auf ein Polster
gelehnt, dagesessen hatte, sprang bei dieser Nachricht schnell auf, und fragte:
„Ist das wahr?“ – „Bei Deinem Leben,“ antwortete sie,
„ich habe ihn gefunden. “ – „Nun wohl, so lass ihn gleich vor
mich kommen, damit ich ihn sehe.“ – „Ach, mein Herr,“ erwiderte
sie, „es ist ihm viel Trübsal zugestoßen, und er hat sich sehr geändert.
Aber der Kalif hat die Gnade gehabt, mir einen Monat zu erlauben, und wenn mir
nun Deine Hoheit es bewilligen wollte, so würde ich die übrige Zeit dazu
anwenden, ihn zu pflegen, und dann würde ich ihn Dir zu Deinen Befehlen
vorführen.“ – „Du hast ganz recht,“ erwiderte der Kalif,
„ein Monat war die verabredete Frist. Doch erzähle mir, was ihm alles
begegnet ist.“ – „O Herr,“ sprach sie, „Gott möge Dein
Leben verlängern, das Paradies einst zu Deinem Aufenthaltsort, und das Feuer
zum Verbannungsort Deiner Feinde machen. Wenn er bei Dir sein wird, so wird er
Dir es erzählen, und die erlittenen Ungerechtigkeiten vortragen.“ – Der
Kalif befahl hierauf, dass ihr ein niedliches Haus eingerichtet, und zugleich
ihr alles das übergeben würde, was sie irgend verlangte. Dies alles wurde noch
an demselben Tag in Ordnung gebracht, und als es dunkel wurde, schickte sie den
Diener mit einem schönen Gewand zu Nureddin. Dieser zog es sogleich an, nahm
von dem Greis Abschied, bestieg das Maultier, und kam in das für ihn bestimmte
Haus, wo er einen Monat lang die Pflege der Sittulmulach genoss, die ihn durch
vier vorzügliche Mittel bald wieder herstellte: Nämlich durch das Essen
kräftiger Speisen, Trinken guten Weines, Schlafen auf weichen Betten, und durch
Baden. Nachdem er seine völlige Schönheit wieder erreicht hatte, befahl der
Kalif, ihn vorzuführen. Mit dem köstlichsten Gewand angetan, nahte er sich
ehrerbietigst und mit wohlgeordneter Rede diesem Fürsten. Seine Gestalt und die
Richtigkeit seines Ausdrucks gefielen diesem, und nötigten ihm die äußerung
ab, dass Sittulmulach wohl zu entschuldigen sei, und dass er sehr ungerecht
gehandelt haben würde, sie zu töten. Hierauf ließ er den jungen Mann näher
treten, unterhielt sich mit ihm, und fand ihn sehr unterrichtet, verständig,
und so angenehm, dass er ihn sehr lieb gewann. Dann befragte er ihn nach seinem
Land, seinem Vater, und nach der Ursache seiner Reise. Dieses alles beantwortete
dieser kurz und deutlich. „Aber, wo warst Du denn zuletzt, während Deiner
langen Abwesenheit?“, fragte der Kalif weiter. „Ich habe wegen Dir
nach Damaskus, Mussul und anderen Orten geschickt, ohne Dich zu finden.“ –
„O, mein Herr,“ antwortete Nureddin, „es ist mir, Deinem Sklaven,
etwas begegnet, was noch nie jemandem begegnet ist.“ Hierauf erzählte er
ihm seine Geschichte von Anfang bis zu Ende.

Als der Kalif dieses hörte, wurde er bestürzt, brach in
einen heftigen Zorn aus, und sprach: „Wie? In einem Land, wo ich herrsche,
kann so etwas geschehen?“, und befahl sogleich, dass Giafar erscheinen
möchte. So wie dieser kam, benachrichtigte ihn der Kalif von der ganzen Sache,
und sprach: „Wie ist es möglich, dass in dem Land, wo ich herrsche, mir so
etwas verborgen bleiben kann?“ Giafar befahl sogleich, alle diejenigen
vorzuführen, welche Nureddin Ali genannt hatte. Dieses geschah, und sie wurden
alle hingerichtet.

Nun wurde auch Achmed vorgefordert, der zwei Mal Ursache
der Rettung Nureddins gewesen war. Diesem dankte der Kalif, nahm ihn sehr gut
auf, beschenkte ihn mit einem Ehrenpelz, und bekleidete ihn mit einer
Statthalterschaft. Ferner befahl er auch, den Greis, den Gebetausrufer nämlich,
vor ihn kommen zu lassen. Als der Abgesandte zu diesem kam, und ihn von dem
Willen des Kalifen benachrichtigte, geriet er in große Furcht, indem er
besorgte, in Hinsicht des Mädchens etwas versehen zu haben. An seinem
schwankenden Schritt erkannte man, wie sehr er bekümmert war, so dass er die Aufmerksamkeit
der Leute auf sich zog. Als er vor dem Kalifen kam, zitterte er, und konnte nur
abgebrochen Laute vorbringen. Da lachte der Kalif und sprach: „Alter, hast
Du irgend etwas begangen, weshalb Du Strafe fürchtest?“ – Da erwiderte
dieser in der größten Angst: „O mein Herr, bei der Wahrheit Deiner
erhabenen Voreltern, ich habe nichts begangen. Erkundige Dich nach meinem
Wandel.“ Da lachte Harun über ihn, befahl, ihm tausend Goldstücke
auszuzahlen, und einen kostbaren Ehrenpelz zu übergeben, und ernannte ihn
zugleich zum obersten Gebetausrufer seiner Moschee. Dann ließ er Sittulmulach
vor sich kommen, und sprach zu ihr: „Das Haus mit allem, was darin ist, ist
ein Zeichen meiner Gunst für Deinen Herrn. Nimm ihn als Gatten, und genieße
des göttlichen Schutzes. Ich wünsche indessen, dass Ihr Euch nicht von mir
trennen möchtet.“ Als sie nun in ihr Haus gelangten, gewahrten sie, dass
der Fürst der Gläubigen ihnen viele kostbare Geschenke gesandt hatte. Nureddin
Ali aber schickte sofort nach Damaskus, um seine Eltern abzuholen. Diese begaben
sich auch sogleich zu ihm, nachdem sie einen Sachwalter in Damaskus
zurückgelassen hatten, der die Einkünfte ihrer vielen Besitzungen für sie in
Empfang nehmen, und sie ihnen alle Jahre übersenden sollte. Mit vielen
Reichtümern und Waren langten sie nun bei ihrem Sohn an, und sahen zu ihrer
großen Freude, dass der Kalif ihn so auszeichnete, und ihn sogar zu seinem
Gesellschafter ernannt hatte. Noch größer war ihre Freude, als sie erfuhren,
dass der Kalif ihnen selbst fortwährende Jahresgehälter ausgesetzt habe, so
dass ihre Familie eine der reichsten jener Zeit in Bagdad war. Sittulmulach
beglückte Nureddin bald mit Kindern, und er hörte nicht auf, stets die Gunst
des Kalifen zu genießen. Endlich wurde Nureddins Vater gefährlich krank, und
späterhin auch seine Mutter, und beide gingen endlich zur Barmherzigkeit Gottes
über. Mit der Zeit wuchsen seine Kinder immer mehr heran. Er ließ sie auf das
sorgfältigste erziehen und unterrichten, und auch diese genossen der Gunst des
Kalifen. In diesem ununterbrochenen Glück lebten sie, bis der Zerstörer aller
Ergötzlichkeiten und der Trenner aller Gesellschaften sich auch ihnen nahte.
Gepriesen sei der Ewige, der Unvergängliche!