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93. Nacht

„Nachdem die Seeräuber uns geplündert und uns
schlechte Kleider statt der unsrigen gegeben hatten, brachten sie uns nach einer
großen, sehr fernen Insel, wo sie uns verkauften.

Ich fiel in die Hände eines reichen Kaufmanns, der mich,
gleich nachdem er mich gekauft hatte, in seine Wohnung führte, in welcher er
mir gut zu essen und einen Sklavenanzug gab. Einige Tage nachher, da er sich
noch nicht recht erkundigt hatte, wer ich wäre, fragte er mich, ob ich kein
Handwerk verstände. Ich antwortete ihm, ohne mich näher erkennen zu geben,
dass ich meinem Gewerbe nach kein Handwerker, sondern ein Kaufmann wäre, und
dass die Seeräuber, von welchen ich an ihn verkauft worden, mir alles genommen
hätten. „Aber,“ sagte er zu mir, „verstehst du dich nicht
darauf, mit dem Bogen zu schießen?“ Ich erwiderte ihm, dass dies eine
meiner Jugendübungen gewesen wäre, und dass ich es seitdem nicht vergessen
hätte. Hierauf gab er mir einen Bogen und Pfeile, und nachdem er mich hinter
sich auf einen Elefanten hatte steigen lassen, ritten wir in einem sehr großen,
einige Meilen von der Stadt entfernten Wald. Wir ritten tief in denselben
hinein, und als er es für angemessen hielt, anzuhalten, befahl er mir,
abzusteigen. Hierauf zeigte er mir einen großen Baum. „Steig auf diesen
Baum,“ sagte er zu mir, „und schieß auf die vorüber ziehenden
Elefanten, deren es eine erstaunliche Menge in diesem Wald gibt. Sobald einer
fällt, so benachrichtige mich davon.“ Als er mir diese gesagt hatte, ließ
er mir Lebensmittel zurück, nahm seinen Weg nach der Stadt, und ich blieb die
ganze Nacht hindurch auf dem Baum und auf der Lauer.

Während dieser Zeit bemerkte ich keinen Elefanten. Sobald
aber die Sonne aufgegangen war, sah ich eine ganze Herde kommen. Ich schoss
mehrere Pfeile auf sie ab, und endlich fiel einer zur Erde. Die anderen
entfernten sich sogleich, und ließen mir die Freiheit, zu meinem Herrn zu
gehen, um ihn von meiner Jagd zu benachrichtigen. Zum Lohn für diese Nachricht
bewirtete er mich mit einem guten Mahl, lobte meine Geschicklichkeit und
liebkoste mich sehr. Hierauf gingen wir zusammen in den Wald, wo wir eine Grube
machten, in welchem wir den von mir getöteten Elefanten begruben. Mein Herr
nahm sich vor, wiederzukommen, wenn das Tier in Fäulnis übergegangenen sein
würde, und die Zähne aus der Erde zu nehmen, um sie zu verhandeln.

Ich setzte diese Jagd zwei Monate hindurch fort, und es
verging kein Tag, an welchem ich nicht einen Elefanten tötete. Ich lauerte
nicht immer auf demselben Baum, sondern setzte mich bald auf den einen, bald auf
den anderen. Eines Morgens, als ich die Ankunft der Elefanten erwartete, war ich
nicht wenig erstaunt, dass sie, statt wie gewöhnlich bei mir vorbei durch den
Wald zu ziehen, anhielten und mit schrecklichem Geschrei und in so großer Zahl,
dass die Erde von ihnen ganz bedeckt war und erzitterte, auf mich loskamen. Sie
nahten sich dem Baum, welchen ich bestiegen hatte, und umringten ihn alle mit
ausgestrecktem Rüssel und auf mich gerichteten Augen. Bei diesem erstaunlichen
Schauspiel blieb ich unbeweglich und wurde von einem so tödlichem Schreck
befallen, dass mir Bogen und Pfeile aus den Händen fielen.

Meine Befürchtungen waren nur allzu gegründet. Nachdem
die Elefanten mich eine Zeitlang aufmerksam betrachtet hatten, umfasste einer
der größten den unteren Teil des Baumes mit seinem Rüssel, und zwar so
kräftig, dass er ihn entwurzelte und niederwarf. Ich fiel mit dem Baum, aber
das Tier fasste mich mit seinem Rüssel und hob mich auf seinen Rücken, auf
welchem ich mich mit dem umgehängten Köcher mehr tot als lebendig
niedersetzte. Hierauf trug er mich an der Spitze aller anderen, ihm zuhauf
folgenden, an einen Ort, den er, nachdem er mich auf die Erde gesetzt hatte,
nebst allen mitgekommenen verließ. Stellt euch, wenn’s möglich ist, meinen
Zustand vor. Ich glaubte zu schlafen, nicht zu wachen. Endlich, nachdem ich
einige Zeit auf der Erde gelegen hatte und nun keinen Elefanten mehr sah, stand
ich auf und bemerkte, dass ich mich auf einem ziemlich langen und breiten Hügel
befand, der ganz mit Elefantenknochen und Elefantenzähnen bedeckt war. Ich
gestehe euch, dass mich dieser Anblick zu einer Menge von Betrachtungen
veranlasste. Ich bewunderte den Instinkt dieser Tiere. Ich zweifelte nicht, dass
dies ihre Begräbnisstätte wäre, und dass sie mich nur dorthin gebracht
hätten, um sie mir zu zeigen, damit ich aufhören mochte, sie zu verfolgen, was
doch nur ihrer Zähnen wegen geschähe. Ich verweilte nicht auf dem Hügel,
sondern wendete meine Schritte zur Stadt, und nachdem ich einen Tag und eine
Nacht hindurch gegangen war, langte ich bei meinem Herrn an. Da ich keinen
Elefanten auf meinem Weg begegnete, so folgerte ich daraus, dass sie sich tiefer
in den Wald hinein entfernt hätten, um mir den Weg zum Hügel frei zu lassen.

Sobald mein Herr mich erblickte, rief er mir entgegen:
„Ach armer Sindbad, ich war sehr bekümmert zu wissen, was aus dir geworden
wäre. Ich bin im Walde gewesen, habe einen frisch entwurzelten Baum, und Bogen
und Pfeile auf der Erde gefunden, und nachdem ich dich vergebens aufgesucht
hatte, verzweifelte ich, dich wieder zu finden. Erzähle mir, ich bitte dich,
was dir begegnet ist und durch welchen Glücksfall du noch am Leben bist.“
Ich befriedigte seine Neubegier. Am folgenden Tag gingen wir alle beide nach dem
Hügel, und er überzeugte sich nun mit großer Freude von der Wahrheit dessen,
was ich ihm gesagt hatte. Wir beladeten den Elefanten, auf dem wir gekommen
waren, mit so vielen Zähnen, als er nur zu tragen vermochte, und als wir
heimgekehrt waren, sagte mein Herr zu mir: „Mein Bruder,“ denn ich
will dich nach der Freude, welche du mir durch eine Entdeckung gemacht hast, die
mich bereichern wird, nicht mehr Sklave nennen, – Gott überhäufe dich mit
allen Arten von Glück und Gütern! Ich erkläre dir vor ihm, dass ich dir die
Freiheit gebe. Ich hatte dir verheimlicht, was du nun erfahren sollst, dass
nämlich die Elefanten in unserem Wald jedes Jahr eine große Menge von uns nach
Elfenbein ausgesandter Sklaven töten. Was wir ihnen auch für Ratschläge geben
mögen, sie verlieren früher oder später ihr Leben durch die List dieser
Tiere. Gott hat dich vor ihrer Wut gerettet und dir allein diese Gnade
widerfahren lassen. Es ist dies ein Beweis, dass er dich beschützt, und dass er
deiner noch auf Erden bedarf, um hier Gutes zu tun. Du verschaffst mir einen
unglaublichen Vorteil. Wir haben bis jetzt auf keine andere Weise Elfenbein
erhalten können, als wenn wir das Leben unserer Sklaven aussetzen, und nun wird
durch dich unsere ganze Stadt bereichert. Glaube nicht, dass ich dich durch die
dir erteilte Freiheit hinlänglich belohnt zu haben vermeine. Ich werde diesem
Geschenke nach andere bedeutende Gaben hinzufügen. Ich könnte die ganze Stadt
dahin bringen, dein Glück zu machen, aber das ist ein Ruhm, den ich mir allein
vorbehalte.“

Ich erwiderte ihm auf diese freundlichen Worte:
„Herr, Gott erhalte euch! Die Freiheit, die ihr mir wiedergeschenkt habt,
reicht hin, um euch quitt gegen mich zu machen, und ich verlange keine andere
Belohnung für den Dienst, den ich so glücklich war, euch und eurer Stadt zu
leisten, als die Erlaubnis, in mein Vaterland zurückzukehren.“ – „Nun
wohl,“ sagte er, „der Musson1)
wird uns bald Schiffe zuführen, welche Elfenbein laden. Ich werde dich dann
mitsenden und dir Mittel verschaffen, heimzureisen.“ Ich danke ihm aufs
Neue für die mir soeben erteilte Freiheit und seine guten Gesinnungen gegen
mich. Ich blieb bei ihm, den Musson erwartend, und während dieser Zeit machten
wir so viele Reisen nach dem Hügel, dass wir seine Vorratshäuser mit Elfenbein
anfüllten. Alle andere damit handelnden Kaufleute der Stadt taten dasselbe,
denn die Sache blieb ihnen nicht lange verborgen.


1)
Mussons sind periodische Winde, die im indischen Meer regelmäßig und
abwechselnd mehrere Monate hindurch von Osten nach Westen und von Westen nach
Osten wehen. Man nennt auch die Jahreszeiten, während welcher die Winde
herrschen, Musson.