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924. Nacht

Soeben setzte der Koch das Messer an, um ihn zu ermorden,
da sprach Selim zu ihm: „Warum tust Du das mit mir? Fürchte Gott! Siehst
Du denn nicht, dass ich fremd bin? Wisse, dass ich noch viele Angehörige habe,
die meiner hier in der Nähe warten. Warum willst Du mich denn töten?“ –
„Ich will Dich darum töten, um Dir Dein Geld zu nehmen.“ – „So
nimm mein Geld,“ sprach Selim, „und lass mich leben. Lade nicht die
Sünde des Mordes auf Dich, die schwerer auf Dir lasten würde, als der Raub
meines Vermögens?“ – „Das ist alles vergebens,“ antwortete
jener, „für Dich gibt es keine Rettung, denn lasse ich Dich leben, so ist
es mein Verderben.“ – „Ich schwöre Dir,“ sagte Selim hierauf,
„bei dem erhabenen Gott und seinem Glauben, dass ich Deine Tat nie
offenbaren werde.“ – „Ach,“ erwiderte der Koch, „das ist
nicht möglich!“ – Um ihn zu erweichen, sagte endlich Selim folgende Verse:

„Gehe langsam zu Werke, und übereile Dich in keiner
Sache, die Du vornimmst.
Es gibt keine Hand, über die nicht die Hand Gottes erhoben wäre, und keinen
Gottlosen, der nicht durch einen anderen Gottlosen bestraft werden
könnte.“

Da sich der Koch auch hierdurch nicht bewegen ließ,
sprach Selim ferner: „Mein Bruder, ich will Dir einen anderen Vorschlag
machen.“ – „Sprich und eile,“ entgegnete der Koch, „ehe ich
Dich töte.“ – Er besteht darin,“ sprach Selim, „dass Du mich als
Deinen Sklaven behältst, und mich arbeiten lässt, denn ich verstehe eine
Kunst, die Dir täglich zwei Goldstücke einbringen kann.“ – „Was ist
das für eine Kunst?“, fragte der Koch. „Ich kann Edelsteine
schleifen,“ erwiderte Selim. Da dachte der Koch bei sich selbst: „Das
kann mir ja nicht schaden, wenn ich ihn einsperre, und in Ketten lege. Ich kann
ihn dann ja arbeiten lassen, und wenn sein Vorgeben wahr ist, so lasse ich ihn
am Leben. Wenn nicht, so kann ich ihn ja immer noch töten.“ Er nahm nun
eine feste Kette, schloss sie um seine Füße, und sperrte ihn im Innersten
seines Hauses ein. Dann fragte er ihn um die Werkzeuge, die er nötig hatte,
welche ihm Selim denn auch beschrieb. Der Koch entfernte sich auch hierauf, und
brachte ihm nach einer Weile alles, was er verlangt hatte, nebst rohen
Edelsteinen. Selim setzte sich nun an die Arbeit und brachte dem Koch täglich
ungefähr zwei Goldstücke ein. Dies war fortan sein tägliches Tun und Treiben
beim Koch, der ihm dafür nur halb satt zu essen gab.

Was indessen seine Schwester Selma betrifft, so hatte
diese auf ihn bis an den Abend gewartet, allein vergebens. Ebenso den zweiten,
dritten und vierten Tag, ohne indessen von ihm die mindeste Nachricht erhalten
zu können. Da vergoss sie einen Strom von Tränen, dachte an ihre Lage in
diesem fremden Land, und sagte folgende Verse her:

„Gruß sende ich Euch wohl! O möcht‘ ich Euch doch
sehen! Dann würde das Herz sich beruhigen, und der Blick sich erheitern.
Ihr allein seid meine Hoffnung, und Eure Liebe ist in meinem Herzen
vergraben.“

Sie wartete noch einen Monat lang, ohne indessen von ihm
etwas zu erfahren. Nun sandte sie alle ihre Diener aus, um ihn aufzusuchen,
während welcher Zeit sie in einem an Verzweiflung grenzenden Zustand blieb.
Bereits begann ein neuer Monat. Sie ließ nun in der Stadt einen Ausruf wegen
ihm veranstalten, während sie selber Trauerkleider anlegte. Das Gerücht von
ihrem Unglück verbreitete sich durch die ganze Stadt und die Bewohner
beeiferten sich ohne Ausnahme, ihre Teilnahme ihr zu erkennen zu geben. Während
dieser ganzen Zeit war indessen noch niemand auf die Vermutung gekommen, dass
sie eine Frau sei. Als bereits drei Tage vom zweiten Monat vergangen waren, ohne
dass die öffentlichen Nachforschungen auch nur den mindesten Erfolg gehabt
hatten, so verlor sie alle Hoffnung, und ihre Augen wurden nicht mehr trocken.
Sie entschloss sich jetzt, in die Stadt zu ziehen, und darin ihren
Aufenthaltsort aufzuschlagen. Zu diesem Zweck ließ sie sich eine einfache
Wohnung mieten, welche sie auch bald bezog. Die Teilnahme, die sie erregte, war
allgemein, und von allen Gegenden kamen Leute zu ihr, um ihre sanften Reden
anzuhören, und ihre edlen Sitten zu bewundern.

Kurze Zeit darauf starb der König dieser Stadt, und die
Bewohner konnten über die Wahl eines Nachfolgers nicht eins werden. Fast wären
deshalb Unruhen ausgebrochen, wenn nicht einsichtsvolle und vernünftige Leute
die Wahl auf den jungen Mann geleitet hätten, der seinen Bruder vermisse.
Dieser Vorschlag wurde allgemein angenommen. Die Abgeordneten des Volks begaben
sich zu ihr, denn sie hielten sie noch immer für einen Mann und boten ihr die
Krone an, welche sie indessen ausschlug. Man drang gleichwohl so sehr in sie,
dass sie in die Annahme endlich willigte. Besonders, da der Gedanke ihr durch
die Seele fuhr, dass sie vielleicht ihren Bruder dadurch noch entdecken könne.
Sie indessen zeigte in ihrer Regierung so viel Weisheit, dass ihre Untertanen
die größte Freude über die getroffene Wahl an den Tag legten.

Was nun ihren Bruder anbetrifft, so war dieser ein volles
Jahr bei dem Koch, dem er täglich zwei Goldstücke verdiente. Endlich erbarmte
es diesen, er fürchtete aber doch, dass, wenn er ihn frei ließe, er den König
von seinen Schandtaten unterrichten könnte. Er pflegte nämlich sehr häufig
Menschen zu überlisten, die er in sein Haus lockte, tötete, und ihnen sodann
ihr Geld abnahm, und deren Fleisch er nachher zu kochen, und es den Leuten zu
verkaufen pflegte. Er sagte also zu seinem Gefangenen: „Wenn ich Dich frei
lassen sollte, würdest Du wohl so vernünftig sein, alles, was Dir bei mir
begegnet ist, oder was Du gesehen hast, zu verschweigen?“ –