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922. Nacht

Drei Tage hatte sich bereits der König an den Freuden des
Wiedersehens seiner Gattin und seiner Kinder gelechzt, ohne irgend jemanden vor
sich gelassen zu haben. Am vierten aber bestieg er seinen Thron. Zugleich
versammelte sich alles Volk, ein jeder nach seinem Rang und seiner Würde, und
alle vereinigten sich, ihn zu preisen, wofür er ihnen seinen Dank an den Tag
legte. Hierauf befahl er, den Magier vorzuführen. Dieser wurde nun auf ein dazu
eigens erbautes Gerüst gestellt, und nachdem der König dem versammelten Volk
seine Schandtaten entdeckt hatte, befahl er den Anwesenden, ihm ins Gesicht zu
speien. „Denn dieser Bösewicht,“ sagte er, „ist der peinlichsten
Strafe wert.“ Sodann befahl er der Versammlung, ihn zu verfluchen. Dies
taten sie denn auch, und hierauf wurde seine Zunge ihm abgeschnitten. Am zweiten
Tag befahl er, ihm auch noch die Ohren und die Nase abzuschneiden, und die Augen
auszustechen. Am dritten Tag wurden seine Hände, und am vierten seine Füße
abgehauen, und so immer ein Glied nach dem anderen, welches dann jedes mal ins
Feuer geworfen wurde, bis er endlich seinen Geist aushauchte. Hierauf wurde sein
Körper auf der Stadtmauer drei Tage lang ausgestellt, dann verbrannt, zuletzt
zerstoßen, und die Asche in die Luft zerstreut. Nach Beendigung der Strafe
schickte der König nach dem Großrichter, welcher die beiden Töchter des
verstorbenen Königs seinen Söhnen anvermählen musste. Das Fest dieser
Vermählung dauerte drei Tage. In der Folge lebte diese ganze Familie bis in die
spätesten Zeiten sehr glücklich, bis endlich der Zerstörer aller Freuden, der
Zertrenner aller Gesellschaften, der Verwüster aller Schlösser und der
Bevölkerer der Gräber sich ihnen nahte.

Doch diese Geschichte ist nicht so schön, als diejenige
von dem jungen Mann aus Chorassan, seiner Mutter und seiner Schwester.

Geschichte von dem jungen Mann aus
Chorassan, seiner Mutter und seiner Schwester
1)

Vor sehr langer Zeit lebte in Chorassan ein sehr
begüterter Mann, der zugleich einer der vornehmsten Leute2)
dort war. Er hatte einen Sohn, mit Namen Selim, und eine Tochter die Selma
hieß. Sie waren bereits herangewachsen, und er hatte ihnen eine ganz
vorzügliche Erziehung gegeben, und sie beide in Logik und Moral unterweisen
lassen. Als sie mannbar geworden waren, ließ ihnen ihr Vater ein Schloss neben
dem seinigen erbauen, worin sie wohnten, und in welches er Sklaven und
Sklavinnen zu ihrer Bedienung gab. Er setzte jedem von ihnen ein Jahresgehalt,
und außerdem noch bestimmte Lieferungen von anderen Sachen, Lebensmitteln oder
Bedürfnissen aus. Selim und Selma lebten in diesem Schloss wie zwei Seelen in
einem Körper. Doch infolge dieses steten Zusammenseins erzeugte sich in dem
Herzen eines jeden Liebe und Zuneigung zu dem anderen.

Eines Tages saßen sie spät an einem Fenster, und
unterhielten sich miteinander. Schon war die Mitternacht herangekommen, und noch
waren sie beieinander, als sie plötzlich unten am Schloss ein Geräusch
hörten. Sie sahen zu dem Fenster hinunter, welches nach dem Schloss ihres
Vaters Aussicht hatte, und erblickten einen sehr schönen Mann, der in seine
Kleider gehüllt, und mit einem breiten Tuch verschleiert, leise mit dem Ring an
ihres Vaters Tür klopfte. Endlich wurde die geöffnet, und es trat aus der Tür
ein Mädchen heraus, welches ein Licht trug, und hinter ihr drein ihre Mutter.
Diese grüßte den Mann, umarmte ihn und sprach: „Tritt herein, Du
Geliebter meines Herzens, Du Licht meiner Augen!“ Er folgte ihr ins Schloss
und riegelte die Türe hinter sich zu. Selma und Selim waren ganz erstaunt über
das, was sie sahen. Endlich wandte sich Selim zu seiner Schwester, und fragte
sie, was sie zu diesem Ereignis wohl meinte? „Was ist hierbei zu tun?“


1)
Siebenundzwanzigste Nacht des Wesirs.