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920. Nacht

Betrübt ging der König an dem Ufer des Meeres mehrere
Tagesreisen weit fort, nährte sich von Kräutern, erblickte aber kein lebendes
Wesen. Endlich gelangte er auf eine bebaute Ebene, und zuletzt zu einer Stadt am
Ufer des Meeres. Da es schon sehr spät war, so wollte man ihm die Tore nicht
öffnen, weshalb er die Nacht außerhalb des Tores zubringen musste.

Der König dieser Stadt war soeben kinderlos gestorben,
und die Bewohner waren über die Wahl eines Nachfolgers uneinig. Beinahe hätten
sich die Parteien bekriegt, sofern sie nicht noch folgenden Vorschlag angenommen
hätten. Sie beschlossen nämlich, denjenigen zum König zu wählen, welchen der
Lieblingselefant des verstorbenen Königs auszeichnen werde, und sich wegen
dieser Sache nicht weiter zu entzweien. Sie führten also den Elefanten aus der
Stadt, in welcher kein Mensch, weder Mann noch Weib zurück blieb, weil alle bei
diesem Ereignis gegenwärtig zu sein wünschten. Der Elefant wurde geschmückt,
auf seinem Rücken ein Thron befestigt, und ihm in den Rüssel eine Krone
gegeben. Er fing nun an, die Leute genau zu betrachten, und blieb endlich vor
dem fremden unglücklichen König stehen. Vor diesem neigte er sich, setzte ihm
die Krone aufs Haupt und hub ihn auf den Thron. Die versammelten Menschen
neigten sich hierauf ebenfalls vor ihm, und wünschten sich Glück, ihren Zwist
nunmehr beendigt zu sehen. Mit Musik begleitet zog er nun in die Stadt und in
das königliche Schloss ein, wo er sich gekrönt auf den Thron setzte, und die
Huldigungen empfing. Hierauf fuhr er nach seiner früher gewohnten Weise dort
fort, zu regieren und als König zu handeln, indem er die Angelegenheiten der
Untertanen richtete, die Kriegsheere in Stand setzte, den Gefangenen die
Freiheit schenkte, und die Bedrückten erleichterte, so dass alle Leute in dem
Urteil übereinstimmten: Er sei ein großer König.

Sein Vorfahre hatte eine Frau und eine Tochter
hinterlassen, und man wünschte allgemein, dass sich der König mit der
letzteren verehelichen möchte. Der König versprach es zwar, setzte aber die
Feierlichkeit sehr lange aus, und zwar wegen seiner ersten Frau, neben welcher
er keine andere heiraten wollte. Er fastete, betete, spendete Almosen, und bat
Gott, er möchte ihn doch bald wieder mit seiner Frau und seinen Kindern
vereinigen. Nach Verlauf eines Jahres kam dort ein mit kostbaren Waren
angefülltes Schiff an, und da es Brauch war, dass der König auf jedes neu
angekommene Schiff vertraute Leute sendete, um die Waren zu betrachten, und sie
dem König vorzulegen, damit er das, was ihm gefiele, kaufen könne, so sandte
er dieses mal zwei junge Leute auf das Schiff.

Um unterdessen auf die Frau des Königs zurückzukommen,
so hatte der Magier derselben die Ehe angeboten, und ihr ein bedeutendes
Vermögen zugesichert. Allein sie hatte alles zurückgewiesen, und wäre am
liebsten vor Schmerz gestorben, ja sie würde sich wirklich ins Meer gestürzt
haben, wenn sie nicht der Magier hätte in Fesseln legen lassen. Vor Wut drohte
dieser ihr nun: „Ich will Dich mit Schimpf und Schande bedecken, und Dich
peinigen, bis dass Du einwilligst!“ Sie blieb indessen standhaft, und
traute auf den erhabenen Gott, dass er sie von diesem Bösewicht doch endlich
befreien werde. In diesem Zustand waren sie von Land zu Land gereist, und waren
endlich zu der Stadt gekommen, in welcher ihr Gemahl König war. Als dieser die
Waren des Schiffes unter Aufsicht nehmen ließ, verbarg der Magier die Frau in
einen großen Kasten, damit die beiden jungen Leute, die bereits bei dem
verstorbenen König Edelknaben gewesen waren, und die der jetzige in seinen
Diensten behalten hatte, sie nicht erblicken möchten. Nachdem der Abend
herangekommen war, unterhielten sich die beiden Edelknaben auf dem Schiff. Sie
erinnerten sich bei dieser Gelegenheit an die Sage ihrer Kindheit, und wie ihre
Eltern aus ihrem Lande sich flüchten mussten, und wie sie bei einem Wald
entführt worden wären, und überhaupt wie das Geschick sie von ihren Eltern
getrennt hatte. Als die Frau diese Unterhaltung vernahm, rief sie aus dem
Kasten: „Ich bin Eure Mutter, und zum Zeichen, dass ich die Wahrheit sage,
gebe ich Euch das und das an.“ An diesem Merkmal erkannten beide sogleich
ihre Mutter wieder, stürzten sich auf den Kasten, erbrachen ihn, und befreiten
ihre Mutter aus demselben. Wie diese nun ihre Kinder wieder sah, drückte sie
dieselben an ihre Brust, und alle drei umarmten sich, und blieben lange Zeit in
dieser Umarmung. Die Leute auf dem Schiff wunderten sich über diesen Anblick,
erkundigten sich nach der Ursache, und erfuhren von den Söhnen alsbald den
ganzen Verlauf der Sache. In demselben Augenblick kam der Magier, erhub ein
fürchterliches Geschrei, und sagte zu den beiden Brüdern: „Warum habt ihr
den Kasten zerbrochen? Ich hatte darin kostbare Edelsteine, die ihr mir
gestohlen habt, und jene Frau ist meine Magd, die mit Euch überein gekommen
ist, und durch diese List mein Vermögen zu rauben.“ Er zerriss hierauf
seine Kleider, schrie um Hilfe, und sprach: „Bei Gott, ich werde den König
ersuchen, dass er mich von diesen beiden gottlosen Aufsehern befreie.“ Sie
dagegen riefen: „Dies ist unsere Mutter, und Du hast sie geraubt!“ Es
entstand nunmehr ein heftiger Wortwechsel, worauf sie alle vor den König
geführt wurden. Als nun jeder demselben seine Angelegenheiten vorgestellt
hatte, erkannte sie der König wieder, sein Herz schlug vor Freude, und seine
Augen füllten sich mit Tränen beim Anblick seiner Frau und seiner Kinder, und
er pries den erhabenen Gott, und dankte ihm für diese Wiedervereinigung. Sodann
befahl er der Versammlung, sich zu entfernen, zugleich ließ er den Magier nebst
der Frau und den beiden Edelknaben in Verwahrung bringen, und befahl, sie streng
zu bewachen, bis zum anderen Morgen, wo er die Richter und Weisen versammeln
würde. Dies wurde denn auch genau befolgt, und der König brachte seine Nacht
mit Beten und Lobpreisungen zu.