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919. Nacht

Hier war er denn über den Anblick, der sich ihm darbot
sehr verwundert. Doch besann er sich nicht lange, denn er war ein tapferer,
verständiger, und sehr weiser Mann. Er holte einen Strick, und zog uns alle
heraus, und fragte uns, wie denn das alles gekommen sei. Wir erzählten ihm
alles ganz genau, und er versank darüber in ein tiefes Nachdenken. Als ihre
Brüder zurückkamen, teilte ihnen der Greis die Begebenheiten mit, und fügte
dann hinzu: „Meine Söhne, wisst, dass Eure Schwester damit bloß etwas
Gutes bezweckt hat. Wollt ihr den Mann deshalb umbringen, so werdet ihr
immerwährende Schande auf Euch laden, ihm selbst Unrecht tun, Eure Seelen mit einem
Verbrechen belasten, und selbst Eure Schwester Schande zuziehen, denn Grund zur
Ermordung dieses Mannes ist nicht vorhanden. Auch kann ein solches Ereignis
niemandem als unmöglich erscheinen.“ Hierauf näherte er sich mir, fragte
mich nach meiner Herkunft, die er sehr rühmlich fand, und trug mir sodann die
Hand seiner Tochter an. Mit Dank nahm ich dieses edle Anerbieten an. Ich
heiratete sie und blieb bei ihm. Gott der Erhabene hat mir seitdem die Pforten
des Himmels eröffnet, so dass ich nun einer der Reichsten im Stamm bin.“

über diese Geschichte verwunderte sich der Mann, und
brachte die Nacht bei ihm zu. Am anderen Morgen fand er sein verirrtes Kamel,
kehrte damit zu den Seinigen zurück, und erzählte ihnen den ganzen Vorfall.

Doch, o König, diese Geschichte ist nichts im Vergleich
mit derjenigen von dem König, dem Alles verloren ging, und dem Gott Alles
wieder gab.

Geschichte
von dem König, dem Alles verloren ging und dem Gott alles wieder gab
1)

In Indien lebte ein sehr rechtschaffener,
gottesfürchtiger und weiser König, der sich alles Verbotenen enthielt. Er
hatte eine seiner Nichten geheiratet, die von königlichem Geschlecht und mit
allen Tugenden, so wie auch mit vorzüglicher Schönheit ausgestattet war. Sie
wurde Mutter von zwei Knaben, die an Liebenswürdigkeit ganz ihr Ebenbild waren.
Das Schicksal, welches niemand abzuwenden vermag, fügte es, dass ein anderer
König gegen ihn auszog, und diejenigen seiner Untertanen, die sich nach
Plünderung sehnten, gegen ihn aufstanden, und sich mit jenem König verbanden,
der nun sein Land überfiel, seine Truppen in die Flucht schlug, und seine
treuesten Soldaten tötete. Der König sah sich genötigt, mit seiner Frau und
seinen Kindern die Flucht zu ergreifen, und nur das Notwendigste mitzunehmen.
Als sie schon ziemlich weit entfernt waren, überfiel sie ein Haufen Räuber,
die ihnen nichts ließen, als die Kleider die sie anhatten. Sie setzten ihren
Weg fort, bis sie an einen großen Wald kamen, der durch einen Strom von ihnen
getrennt war. Da dieser indessen eben nicht viel Wasser enthielt, so entschloss
sich der König, seine Kinder, eins nach dem anderen, hinüber zu tragen. Als er
nun auch ihre Mutter abholte, um sie hinüber zu tragen, und sie glücklich an
den Ort brachte, wo er seine Kinder verlassen hatte, fand er sie beide nicht
mehr. Er begab sich sofort in die Mitte der waldigen Insel, und fand dort einen
Greis und eine alte Frau, die sich da eine Hütte gebaut hatten. Diesen übergab
er seine Frau, und ging sodann weiter fort, um seine Kinder aufzusuchen.
Indessen er vermochte nicht die mindeste Spur von ihnen anzutreffen. Diese waren
nämlich tiefer in den Wald gegangen, hatten sich getrennt und so verirrt, dass
keiner von dem anderen etwas wusste. Schon seit mehreren Tagen hatten sie die
Stelle, wo sie ihr Vater hingebracht hatte, wieder zu finden gesucht, waren aber
an einer ganz entgegen gesetzten Stelle des Waldes wieder herausgekommen. Ihr
Vater kehrte nun betrübt zu seiner Gattin zurück, und sie lebten von nun an
mit den beiden alten Leuten von den Früchten der Insel.

Eines Tages ankerte ein Schiff an dieser Insel, um sich
mit frischem Wasser zu versorgen. Dieses Schiff nebst der ganzen Ladung gehörte
einem Magier, der ein Kaufmann war. Der Greis, der sehr geldgierig war,
benachrichtigte den Magier von der Schönheit der Frau des Königs, und erweckte
in ihm die Begierde, sich ihrer mit List zu bemächtigen. Er schickte nun in
dieser Absicht einen Boten an sie ab, mit der Meldung, dass auf dem Schiffe sich
eine schwangere Frau befände, die ihrer Entbindung so nahe zu sein schiene,
dass sie vermuteten, sie würde schon in dieser Nacht entbunden werden.
„Wolltest Du nun nicht die Güte haben,“ fügte der Bote hinzu,
„ihr behilflich zu sein?“ Sie willigte gern ein, und wurde demzufolge
in das Schiff hinüber geholt, welches sie ohne alle Besorgnis betrat. Kaum aber
war sie da angelangt, als die Anker gelichtet und die Segel aufgezogen wurden,
und das Schiff eiligst davon segelte. Da erhub der König, welcher es sah, ein
großes Klagegeschrei, und die Königin im Schiff weinte, und wollte sich ins
Meer stürzen, worauf der Magier seinen Schiffsleuten befahl, sie fest zu
halten. Die Nacht begann schon dunkel zu werden, und das Schiff verschwand
endlich ganz aus den Augen des Königs, welcher darüber ohnmächtig zu Boden
sank. Als der Morgen anbrach, beweinte er das Schicksal seiner Frau und seiner
Kinder, und sang folgende Verse:

„O Geschick, wie lange wirst Du noch feindlich gegen
die Menschen verfahren? Sage, bleibt wohl noch jemand übrig, den Du verschont
hättest?
Alles, was ich liebte, ist mir geraubt, und mit ihnen meine Freude! Ach, wie
wenig wusste ich sie zu schätzen, und das Glück ihres Besitzes zu würdigen!
Doch als wir getrennt wurden, da brannte mein Herz von der Flamme des Schmerzes.
Ich werde nie den Tag vergessen, wo sie von mir gingen, und mich allein zurück
ließen.
Wenn ich vor Trennungs-Gram mein Herz zermalmte, ehe ich meine Kleider zerriss,
so könnte mich wahrlich niemand deshalb tadeln.“


1)
Sechsundzwanzigste Nacht des Wesirs.