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908. Nacht

Als sie sich etwas erholt hatte, ging sie landeinwärts
und fand eine freundliche Landschaft, mit Bächen und Fruchtbäumen, die ihren
Durst und Hunger stillten, reichlich versehen. Am zweiten Tage gelangte sie in
eine prächtige Stadt. Sie wurde wie alle Fremden vor den Sultan geführt, der
sie fragte, wer sie wäre. Sie erzählte ihm, sie hätte ihr Leben der
Frömmigkeit gewidmet und wäre auf der Wallfahrt nach Mekka begriffen, ihr
Schiff hätte an der Küste seines Landes Schiffbruch erlitten, und sie wüsste
nicht, ob sich außer ihr noch jemand gerettet hätte. Sie bat sodann den
Sultan, ihr eine Wohnung anweisen zu lassen, wäre es auch eine noch so elende,
wenn ihr nur seine Gnade dahin folgte, und sei verspräche ihm dafür, den
überrest ihrer Tage in Gebeten für sein Heil und das Heil seiner Untertanen
hinzubringen.

Der Sultan, der sehr fromm war und das Unglück der armen
Frau innig bedauerte, erfüllte ihr Gesuch gern und freundlich und ließ ihr ein
anmutiges Gartenhaus in der Nähe seines Palastes zu ihrem Wohnsitz anweisen, in
welchem er sie oft besuchte, sich mit ihr über religiöse Gegenstände besprach
und sich an diesen Gesprächen, da sie wirklich sehr fromm war, ungemein
erbaute.

Nicht lange nach ihrer Ankunft beten widerspenstige
Untertanen, die seit mehreren Jahren die gewohnten Abgaben verweigert hatten,
und gegen welche der Sultan, so sehr auch seine Einkünfte dadurch geschmälert
wurden, keine Gewalt brauchen wollte, reumütig um Vergebung und versprachen
für die Zukunft strenge Pflichterfüllung. Der Sultan schrieb dieses
glückliche Ereignis den Gebeten der heiligen, von ihm aufgenommenen Frau zu und
äußerte diese Meinung in vollem Diwan gegen seine Hofleute, die sie nun
weiterverbreiteten. Da, wie das Sprichwort sagt, die Schafe immer dem Leithammel
folgen, so war dies auch hier der Fall. Leute von allen Ständen erbaten sich
Gebete und Ratschläge von der heiligen Frau, und zwar mit so gutem Erfolg, dass
die Zahl der Bittenden sich täglich vergrößerte. Auch waren sie nicht
undankbar, und die Heilige hatte in kurzer Zeit eine höchst beträchtliche
Summe beisammen. Ihr Ruf erstreckte sich über die Grenzen des Reiches, in
welchem sie lebte, und verbreitete sich nach und nach über alle von den wahren
Gläubigen bewohnten Länder. Aus allen Reichen Asiens strömten diese in Menge
herbei, sie um ihre Gebete anzuflehen. In ihrem sehr erweiterten Wohnsitz
unterhielt sie eine große Anzahl verlassener Personen, auch speiste und
tränkte sie viel armes Volk, welches zu ihr pilgerte.

Doch es ist Zeit, dass wir zu ihrem frommen Gatten
zurückkehren. Der gute Kadi hatte ein ganzen Jahr lang in Mekka seine Andacht
verrichtet und alle heiligen Stellen in der Umgegend besucht, worauf er sodann
nach Bagdad zurückkehrte. Aber wie groß war sein Kummer, als er die Untreue
seiner Frau und die Abreise seines Bruders erfuhr, der, wie ihm gesagt wurde,
die über seine Familie gekommene Schande nicht zu ertragen vermocht und, ohne
seitdem etwas von sich hören zu lassen, die Stadt verlassen hätte. Diese
traurigen Nachrichten machten einen solchen Eindruck auf ihn, dass er allen
weltlichen Beschäftigungen und Sorgen entsagte und das Leben eines wandernden
Religiösen annahm, der von Ort zu Ort und von Land zu Land wanderte, um alle
wegen ihrer Heiligkeit bekannten Personen zu besuchen. Zwei Jahre hindurch hatte
er mehrere Königreiche durchreist, als der Ruf seiner Frau zu seinen Ohren
drang, ohne dass er jedoch ahnte, dass die, deren Namen mit Schande bedeckt war,
jene viel gepriesene Heilige wäre. Er reiste also nach der Hauptstadt des
Sultans, um durch ihre Gebete Trost zu erlangen.

Auf dieser Reise traf der Kadi seinen Bruder, der, sein
gottloses Leben bereuend, auch in Derwischtracht zu der Heiligen reiste, um ihr
seine Sünden zu beichten und ihre Fürbitte beim Himmel anzuflehen. Die
Veränderung beider, Folge der Zeit und ihrer Verkleidung, bewirkte, dass sie
sich nicht erkannten. Sie knüpften ein Gespräch an, und als sie voneinander
erfuhren, dass sie desselben Weges gingen, so beschlossen sie, ihre Reise
gemeinschaftlich fortzusetzen. Nach einigen Tagen begegneten sie einem
Kameltreiber, der, wie er ihnen sagte, den gleichen Weg und Zweck verfolgte,
weil er ein schreckliches Verbrechen begangen hätte, dessen Erinnerung sein
Gewissen quälte und sein Leben elend machte, weshalb er seine Sünden der
Heiligen beichten und von ihr sich eine Buße zur Sühnung seiner von Herzen
bereuten Missetat auferlegen lassen wollte, wo er sodann die Vergebung des
Himmels durch eine aufrichtige Lebensbesserung zu erhalten hoffte. Das
Verbrechen dieses Elenden war nichts weniger als ein Mord, dessen Umstände
nicht an ihrer eigentlichen Stelle erzählt worden sind. Des Kadis Frau hatte
nämlich unmittelbar nach ihrer Vertreibung aus Bagdad und ehe sie dem jungen
Mann begegnete, der sie nachmals als Sklavin verkaufte, in der Hütte eines
Kameltreibers eine Zuflucht gesucht, und die Frau desselben, die ihr sehr
verpflichtet war, hatte sie mit wahrer Gastfreundschaft und Güte aufgenommen,
sie in ihrem Unglück getröstet, ihrer Wunden gepflegt und sie genötigt, so
lange zu verweilen, bis sie sich von den Folgen ihrer ungerechten und
schmachvollen Bestrafung gänzlich erholt hätte, mit welcher Bitte auch der
Mann die seinige vereinigte. Bei diesem ehrlichen Paare, welches einen kleinen
Sohn hatte, blieb sie nun einige Zeit und erlangte ihre Gesundheit und
Schönheit wieder, als der gottlose oben erwähnte Kameltreiber ihren Wirt
besuchte und, von ihrer Schönheit bezaubert, ihr ungebührliche Anträge
machte, welche sie mild, aber entschieden zurückwies und ihm sagte, dass sie
verheiratet wäre. Von Leidenschaft verblendet, beharrte der Elende auf seinen
Zumutungen, aber vergebens, bis sich endlich, durch Widerstand gereizt, seine
Liebe in Wut verwandelte und er seine unbefriedigte Lust durch ihren Tod zu
rächen beschloss. Er bewaffnete sich demnach mit einem Dolch und stahl sich um
Mitternacht, als alles im Schlafe lag, in die Kammer, in welcher sie und, dicht
neben ihr, das kleine Kind ihres großmütigen Wirtes lag. Da der Mörder in der
Finsternis aufs Geradewohl zustieß und nicht wusste, dass der Knabe neben der
Frau lag, so traf der Dolch die Brust des Kindes, welches laut aufschrie, worauf
der Bösewicht, der entdeckt zu werden fürchtete, aus dem Haus entfloh. Die
Frau des Kadis erwachte voll Schrecken und weckte durch ihr Geschrei ihre
unglücklichen Wirtsleute, welche, nachdem sie Licht gemacht, zu ihrer Hilfe
herbei eilten, aber nun mit Schaudern ihr sterbendes Kind und, in seinem Blut
gebadet, ihre ohnmächtig gewordene Gästin sahen. Die unglückliche Frau kam
bald wieder zu sich; aber ihr kleiner Liebling war und blieb tot. Einige Tage
nach diesem tragischen Vorfall begann sie ihre Pilgerschaft und kam in die
Stadt, in welcher sie, wie schon erzählt ist, den jungen Mann von seinen
grausamen Gläubigern befreite und bald nachher von ihm als Sklavin verkauft
wurde. Doch wir wollen zu dem Kadi und seinen gottlosen Begleitern
zurückkehren.

Sie waren noch nicht weit miteinander gereist, als sie
einen jungen Mann trafen, der sie grüßte und befragte, wohin sie gingen. Als
sie ihm das gesagt hatten, bat er sie, ihm zu vergönnen, dass er mit ihnen
reiste, da auch er zu der Heiligen wollte, durch deren Fürbitte bei Gott er
Vergebung für eine höchst undankbare Tat hoffte, welche er, seit er sie
begangen, zu bereuen nicht aufhörte. die vier Pilger setzten ihre Reise fort
und trafen nach einigen Tagen einen Schiffspatron, der ihnen erzählte, er
hätte vor einiger Zeit Schiffbruch und seitdem nichts als Missgeschick
erlitten, und er wollte nun zu der weltberühmten Frau gehen, deren Almosen und
Gebete in allen Ländern gepriesen würden. Die Gefährten forderten ihn nun
auf, sich mit ihnen zu vereinigen, und so zogen sie denn gemeinschaftlich
weiter, bis sie am Hof des guten Sultans, der die Frau des Kadis in seinen
Schutz genommen hatte, glücklich anlangten.

Die fünf Pilgrime begaben sich sogleich in die Wohnung
der Heiligen, deren Höfe mit Bittenden aus allen Gegenden angefüllt waren, so
dass sie Mühe hatten, Zutritt zu erhalten. Da einige von der Dienerschaft ihnen
ansahen, dass sie neu angekommene und sehr ermüdete Fremdlinge wären, so luden
sie sie freundlich in ein Zimmer ein, um sich dort so lange auszuruhen, bis sie
ihrer Gebieterin ihre Ankunft gemeldet hätten. Als dies geschehen war, brachten
sie ihnen die Nachricht, dass sie vorgelassen und ihre Ansuchen mit Muße
gehört werden sollten, sobald die Menge sich zerstreut hätte. Es wurden ihnen
Erfrischungen vorgesetzt, und nachdem sie ihre Abwaschungen verrichtet hatten,
setzten sie sich zum Essennieder, die Gastfreundlichkeit ihrer frommen Wirtin
preisend, welche, von ihnen ungesehen, ihre Personen und Gesichtzüge durch ein
Gitter beobachtete. Ihr Herz schlug mit freudigem Entzücken, als sie ihren
längst verlorenen Gatten wieder sah, dessen Abwesenheit sie zu beweinen nicht
aufgehört hatte; und wie groß war ihre Verwunderung, ihn in Gesellschaft
seines verräterischen Bruders (den sie trotz den mit ihm vorgegangenen
Veränderungen erkannte), des Kameltreibers, der sie hatte ermorden wollen, des
jungen Mannes, der sie so undankbar verraten, und des Schiffspatrons, der sie
als Sklavin gekauft hatte, zu finden. Nur mit Mühe unterdrückte sie ihre
Gefühle; da sie sich aber nicht zu erkennen geben wollte, bevor sie nicht ihre
Abenteuer gehört hätte, so zog sie sich in ihr Zimmer zurück, ließ dort
herzerleichternden Tränen freien Lauf, warf sich zur Erde und dankte dem
Beschützer der Gerechten, der ihre Geduld, womit sie so viele Leiden ertragen,
durch aufeinander folgende Segnungen belohnt hatte und sie nun endlich dem
Geleibten ihres Herzens wiedergab. Nach Beendigung ihrer Andacht schickte sie zu
dem Sultan und ließ ihn bitten, ihr einen vertrauten Beamten zu senden, der die
Erzählungen von fünf neu angelangten Fremdlingen mit anhören möchte. Als dieser
gekommen war, versteckte sie ihn an einen Ort, wo er ungesehen zuhören konnte,
setzte sich sodann verschleiert auf ihr Sofa, ließ die fünf Pilger rufen und
redete sie mit folgenden Worten an: „Seid mir in meinem Haus willkommen, ihr
Brüder! Mein Rat und meine Gebete haben zuweilen mit des Himmels Beistand den
reuigen Sünder getröstet; aber die, welche meiner Hilfe begehren, müssen mir
vertrauen. Ich kann nicht mit Erfolg für sie beten, wenn ich ihre Vergehen nicht
genau kenne, und so müsst ihr mir Eure Geschichte, ohne irgend etwas zu
verhehlen, zu verschleiern, zweideutig darzustellen, der strengsten Wahrheit
gemäß erzählen und bedenken, dass die Gebete, die man für einen Lügner zum
Himmel sendet, nur zu seinem eigenen Verderben gereichen.“ Hierauf befahl sie,
da sie jeden einzeln hören wollte, dem Kadi, zu bleiben, und den übrigen, sich
zu entfernen. Der gute Kadi, der keine Sünden zu beichten hatte, erzählte seine
Pilgerschaft nach Mekka, die vorausgesetzte Untreue seiner Gattin, und wie er
dadurch zu dem Entschluss bewogen worden, seine Tage mit dem Besuch heiliger
Orte und Personen zuzubringen, was ihn denn auch zu ihr, einer so berühmten
Heiligen, getrieben hätte, um ihrer erbaulichen Unterhaltung zu genießen und sie
um die Gunst ihrer Fürbitte für seine unglückliche Frau anzuflehen. Als er zu
Ende war, schickte ihn die Heilige in ein anderes Gemach und ließ dann seine
Gefährten einen nach dem andern kommen und erzählen. Sie wagten es nicht, irgend
etwas zu verhehlen, und erzählten ihre gegen sie verübten Grausamkeiten, nicht
ahnend, dass sie ihre Schuld dem Schlachtopfer ihrer Leidenschaften bekannten.
Hierauf befahl die Frau des Kadis dem Beamten, alle fünfe vor den Sultan zu
führen und ihm ihre Bekenntnis mitzuteilen. Der Sultan verdammte die vier
Verbrecher zum Tod, und der Scharfrichter bereitete sich schon zu ihrer
Hinrichtung, als die herbeikommende heilige Frau um Vergebung für sie bat und
sich ihrem Gatten zu seiner unaussprechlichen Freude zu erkennen gab. Der Sultan
erfüllte diese bitte und entließ die Verbrecher, bat jedoch den Kadi, an seinem
Hof zu bleiben, an welchem er das hohe Amt eines Oberrichters sein übriges Leben
hindurch zu seiner Ehre und zur Zufriedenheit aller derjenigen verwaltete, denen
er Recht sprach. Er und seine treue Gattin lebten als Muster der Tugend und
ehelicher Zärtlichkeit. Der Sultan setzte seiner Gunst gegen sie keine Grenzen
und brachte zuweilen ganze Abend in freundlichem Gespräch mit ihnen zu, dessen
Inhalt meistens der Wechsel des menschlichen Lebens und die Güte der Vorsehung
war, die durch ihren allmächtigen Willen ein Missgeschick, welches die
Sterblichen für ein rettungsloses ansehen, in ein vollkommenes Glück verwandelt.