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907. Nacht


Abenteuer eines Kadis

In Bagdad lebte einst ein Kadi, der sein Amt auf die
tadelloseste Weise verwaltete und durch das Beispiel seines Privatlebens seinen
strengen Rechtssprüchen noch mehr Kraft gab. Nachdem er seinem ehrenvollen
Posten mehrere Jahre hindurch vorgestanden hatte, wünschte er nach Mekka zu
pilgern und begab sich, nachdem er die Erlaubnis des Kalifen erhaltne hatte, auf
seine fromme Wanderschaft, seine schöne Frau unter der Obhut seines Bruders
zurücklassend, der sie wie seine Tochter zu behandeln versprach. Kaum war
jedoch der Kadi fort, als der Bruder, von Leidenschaft angetrieben und seinem
Versprechen ungetreu, seiner Schwägerin unverschämte Zumutungen machte, die
sie aber mit Verachtung abwies. Da sie jedoch nicht gern ihren Mann gegen einen
so nahen Verwandten aufbringe wollte, so bemühte sie sich, ihren Schwager durch
Vorstellungen von der Schändlichkeit seiner Absichten zu überzeugen. Aber
diese Mühe war vergeblich. Der Abscheuliche wiederholte seine Zumutungen, statt
sie zu bereuen, und drohte ihr endlich, sie des Ehebruchs anzuklagen und sie der
ganzen Strenge der Gesetze zu überliefern, wenn sie ihn nicht erhören wollte.
Da auch diese Drohung eine vergebliche war, so bestach er Zeugen, die aussagten
und beschworen, sie hätten sie eine Untreue begehen sehen, worauf sie dann
verdammt wurde, hundert Peitschenhiebe zu bekommen und sodann aus der Stadt
verbannt zu werden.

Als nun die unglückliche Frau ihre schmerzliche
Bestrafung erlitten hatte, wurde sie von dem Scharfrichter unter dem Geschrei
und Gespötte des Pöbels durch die Stadt und dann vor das Tor geführt, wo man
sie ihrem ferneren Schicksal überließ. Sich der Vorsehung ergebend und ohne
Murren gegen ihr Verhängnis beschloss sie, sich nach Mekka zu wenden in der
Hoffnung, dort ihren Mann zu finden und sich bei ihm, dessen Meinung allein
einen Wert für sie hatte, von ihrer Schmach zu reinigen. Nachdem sie einige
Tage gewandert war, kam sie in eine Stadt und sah eine große Volksmenge dem
Scharfrichter folgen, der einen jungen Mann an einem ihm um den Hals gebundenen
Strick führte. Sie erkundigte sich nach dem Verbrechen des Sträflings und
erfuhr, dass er hundert Dinare schuldig wäre, die er nicht bezahlen könnte,
und deshalb die Strafe, welche die Landesgesetze über zahlungsunfähige
Schuldner festgesetzt, erleiden und aufgehängt werden müsste. Von Mitleid
bewegt, gab die Frau des Kadis das Geld her, obgleich es fast alles war, was sie
besaß. Der junge Mann wurde in Freiheit gesetzt, fiel vor ihr auf die Knie und
gelobte ihr, sein Leben ihrem Dienst zu weihen. Sie benachrichtigte ihn von
ihrem Vorsatz, nach Mekka zu pilgern, worauf er sich denn erbot, sie zu
beschützen, was sie mit Dank annahm. Sie reisten nun zusammen weiter, waren
jedoch kaum einige Tage gewandert, als der junge Mann, seiner Verpflichtung
uneingedenk und dem Antrieb seiner lasterhaften Leidenschaft folgend, seine
Wohltäterin durch Anträge von der schlimmsten Art beleidigte. Die
unglückliche Frau stellte ihm die Undankbarkeit und Nichtswürdigkeit seines
Betragens vor, und der junge Mann schien überzeugt und reuig; aber sein Herz
war voller Rachsucht. Nach einigen Tagen erreichten sie die Seeküste, der junge
Mann gab, ein Schiff gewahrend, ein Zeichen, und man schickte ein Boot ans Ufer,
welches den jungen Mann an Bord des Schiffes brachte, zu dessen Befehlshaber er
nun sagte, er hätte ein schönes Frauenzimmer zu verkaufen, welches er ihm für
tausend Dinare lassen wollte. Der Schiffsherr, gewohnt, an dieser Küste
Sklavinnen zu kaufen, begab sich ans Ufer und bezahlte dem gottlosen jungen Mann
das verlangte Geld, worauf dieser seines Weges ging und die junge Frau auf das
Schiff gebracht wurde. Sie setzte voraus, ihr Reisegefährte hätte diese
Gelegenheit ergriffen, um ihr die Beschwerlichkeit der Reise zu erleichtern,
indem er ihr eine überfahrt nach einem Seehafen in der Nähe von Mekka
verschaffte; aber ihre Verfolgung sollte hier noch nicht enden. Am Abend wurde
sie durch die rohen Zumutungen des Schiffspatrons beleidigt, der, über ihr
Weigern erstaunt, sagte, dass er sie als seine Sklavin für tausend Dinare
gekauft hätte. Die Unglückliche entgegnete ihm, sie wäre ein freies Weib;
aber das machte auf den viehischen Seemann keinen Eindruck, und da er sah, dass
er mit Zärtlichkeit nichts ausrichtete, so nahm er seine Zuflucht zu Gewalt und
Schlägen, um sie seinen Begierden unterwürfig zu machen. Ihre Kraft war fast
erschöpft, als das Schiff plötzlich auf Felsen stieß, der Patron auf das
Verdeck eilte und das Schiff in wenigen Minuten scheiterte. Die tugendhafte Frau
hatte unwillkürlich ein Brett umfasst, auf welchem sie mehrere Stunden von den
Wellen hin und her, endlich aber an eine Küste geworfen wurde.