Project Description

902. Nacht

Nach vielen vergeblichen Entwürfen entschloss er sich,
seine Frau um Rat zu fragen. Mit dieser wurde nun beschlossen, dass man ihm eine
tiefe Grube graben wollte, und zwar an dem Ort der Vorhalle des königlichen
Palastes, wo der Wesir durchgehen musste, und dass man sie danach mit den
gewöhnlichen Teppichen wieder bedecken wolle. Dies wurde denn auch genau
ausgeführt.

Hierauf ließ er den Wesir im Namen des Königs eiligst
rufen, mit dem Bemerken: Er möchte durch die geheime Tür in der Vorhalle zum
König gehen. Der Wesir begab sich sogleich dahin, und als er die Grube betrat,
stürzte er hinein, und der Bruder des Königs, der sich verborgen gehalten
hatte, warf mit Steinen auf ihn. Doch der Wesir merkte sogleich den Verrat, und
machte nicht die mindeste Bewegung. Dies veranlasste den Bruder des Königs, zu
glauben, dass er tot wäre. Er zog ihn also heraus, und ließ ihn nach
Mitternacht ins Meer schaffen. Der Wesir indessen strengte hier alle seine
Kräfte an, um sich schwimmend oben zu erhalten, bis endlich ein Schiff
vorbeifuhr, welchem er zurief, und das ihn auch aufnahm.

Am anderen Morgen war die Trauer allgemein um den Wesir,
besonders war der König darüber untröstlich. Indessen entschloss er sich
dennoch, zur Wahl eines anderen Wesirs zu schreiten. Dies benutzte der Bruder
des Königs, und schlug ihm einen Mann vor, den er als ganz vorzüglich
schilderte, der aber bloß ihm gänzlich ergeben war. Der König nahm denselben
auch wirklich an, und unterrichtete ihn von den Angelegenheiten des Reiches.
Allein schon nach wenigen Tagen wurde gemeinschaftlich der Beschluss gefasst,
sich des Königs zu bemächtigen. Der König wurde in Fesseln gelegt, und sein
Bruder übernahm an seiner Stelle die Regierung. Indessen er beging so viel
Ungerechtigkeiten, dass der Hass der Leute laut wurde, und er befürchten
musste, dass, wenn sie erführen, der König lebe noch, sie denselben mit Gewalt
befreien und wieder auf den Thron setzen würden, welches dann seinen und seiner
Ratgeber Untergang herbeiführen müsste. „Wenn wir,“ sprachen sie
daher zueinander, „ihn in die See würfen, so würden wir von dieser
Besorgnis befreit sein.“ Und noch in derselben Nacht führten sie diese
Schandtat aus. Allein der König rettete sich durch Schwimmen und kam an eine
Insel, wo er fünf traurige Tage zubrachte, bis endlich am sechsten sich ein
Schiff nahte, welchem er zuwinkte, und das ihn aufnahm.

Als er nun wieder ans Land gesetzt worden war, wendete er
sich an einen Sähmann, den er um Rat und nach dem Weg fragte. „Bist Du ein
Fremder?“, sagte dieser zu ihm. „Ach, wenn Du doch meinen Genossen
sehen könntest! Er hat mit Dir viel ähnlichkeit, und er ist in demselben
Zustand, wie Du.“ – „Wahrhaftig,“ erwiderte der König, „Du
machst mich neugierig. Kann man ihn nicht sehen?“ – „Sehr gern,“
erwiderte jener, „nur muss ich vorher meine Saat vollenden.“ Der
König wartete also, bis er ihn nach Hause führte, wo er denn in dem Genossen
des Sähmanns seinen Wesir wieder erkannte. Beide vergossen hier einen Strom von
Tränen, und umarmten sich einander. Darauf hielten sie sich noch einige Zeit
bei dem braven Man auf, und halfen ihm in seinen Verrichtungen, erkundigten sich
dabei aber häufig nach ihrem Land, und erfuhren endlich, dass ihr Volk unter
der größten Bedrückung schmachte. Bald darauf erschien ein Schiff, auf
welchem sich ein Kaufmann aus ihrem Land befand, der sie sogleich erkannte und
über ihr wieder Finden sehr vergnügt war. Er machte ihnen kostbare Geschenke,
und riet ihnen, eiligst wieder heim zu kehren. Dazu entschlossen sie sich denn
auch, und alsbald sammelte sich eine Menge Leute um ihren geliebten König,
welcher sich nun stark genug fühlte, um seinen Bruder und dessen Wesir
anzufallen, sie zu ergreifen und ins Gefängnis zu sperren.