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900. Nacht

Dieser Mann hatte nun keinen Schatz vorzuzeigen. Allein
der Dieb glaubte ihm nicht, sondern drang in ihn mit Drohungen und Prügeln, so
dass der Mann in seiner Angst ausrief: „Ich schwöre Dir, dass ich meine
Frau verstoßen will, wenn ich die Unwahrheit sage.“ – „Wehe
Dir,“ rief die Frau, „Du willst mich verstoßen, da doch der Schatz in
der Kammer ist?“ Sie nötigte hierauf den Dieb, immer mehr auf den Mann
loszuschlagen, damit er ihm den Schatz anzeigte. Der Dieb ließ sich nicht sehr
bitten, sondern schlug zu, bis ihm der Mann die Kammertüre öffnete, in welche
er sich mit ihm stürzte, um den Schatz heraus zu holen. Als er nun in der
Kammer war, warf die Frau schnell die Türe, welche zum Glück sehr fest war,
hinter ihm zu, und schloss sie ab. Dann rief sie dem Dieb zu: „Wehe Dir, Du
Tor, du Bösewicht: Nun ist Deine Stunde gekommen, denn nun werde ich die
Polizei und die Häscher herbeirufen, damit sie Dich ergreifen. Gewiss, es
kostet Dir Dein Leben, du Satan.“ Da sprach der Dieb zu ihr: „Lass
mich los, dass ich heim gehe.“ – „Du bist ein Mann,“ rief sie ihm
zu, „und ich eine schwache Frau. Du hast in Deiner Hand ein Messer, und ich
fürchte mich vor Dir.“ – „Nimm mir das Messer ab,“ rief er,
indem er es unter der Türe durchsteckte. Als sie nunmehr das Messer hatte, und
sie daher für das Leben ihres Mannes nicht mehr besorgt sein durfte, rief sie
ihrem Mann, der mit in der Kammer war, zu: „Bist Du denn ein Weib, und er
ein Mann? Haue doch derb auf ihn zu, wie er auf Dich zugeschlagen hat, und wenn
er es wagt, nur die Hand gegen Dich auszustrecken, so schreie ich, und rufe alle
Häscher des Stadtviertels zusammen.“ Nunmehr fing der Mann an, auf den
Dieb zu schimpfen, und ihn mit einem Knotenstock derb durchzuhauen. Der Dieb
dagegen schrie nach der Frau um Hilfe, und bat sie um Rettung. Doch sie rief ihm
zu: „Warte nur, es wird noch ärger kommen.“ Der Mann, welcher
indessen nicht aufhörte zu schlagen, wurde nunmehr von seiner Frau befragt.
„Wie viel sind wir wohl Mietzins dem Hausherrn für unsere Wohnung
schuldig? Wir haben nichts, und der Zins wird schon hoch angelaufen sein.“
Bei diesen Worten hatte der Mann aufgehört, den Dieb zu schlagen, welcher sich,
um nur loszukommen, jetzt nach dem Belauf der Miete erkundigte. Der Mann meinte,
sie könnte wohl achtzig Drachmen betragen. „Das will ich Dir
bezahlen,“ rief der Dieb, „lass mich nur los.“ – „Lieber
Mann,“ fuhr die Frau weiter fort, „wie viel sind wir nur dem Bäcker
schuldig, und dem Grünzeughändler?“ – „Auch das will ich bezahlen!
Wie viel beträgt es?“, rief der Dieb. „Hundertundzwanzig
Drachmen,“ sprach der Mann. „Das sind zweihundert Drachmen,“
sprach der Mann. „Das sind zweihundert Drachmen, lasst mich nur los.“
– „Ach lieber Mann,“ fuhr sie fort, „und unsere liebe Tochter,
die ist groß. Wir müssen sie verheiraten und ausstatten.“ – „Wie
viel brauchst Du dazu?“ – „Zum wenigsten hundert Drachmen.“ –
„Das macht zusammen dreihundert Drachmen.“ – „Ach, lieber
Mann,“ unterbrach ihn die Frau, „wenn die Tochter wird verheiratet
sein, braucht sie das Geld zu ihren Ausgaben für den Winter zu kohlen, Holz und
anderen Bedürfnissen.“ – „Nun, was verlangst Du denn dafür?“,
rief der Dieb. „Hundert Drachmen,“ erwiderte sie. „Nunmehr bin
ich Euch vierhundert Drachmen schuldig.“ – „Ach, Du lieber Dieb,“
rief die Frau, „mein armer Mann braucht ein kleines Kapital, um Waren zu
kaufen, und einen Laden zu öffnen.“ – „Und wie viel macht das?“,
fragte der Dieb. „Hundert Drachmen,“ war die Antwort. „Ich will
meine Frau dreimal verstoßen,“ schwur hier der Dieb, „wenn ich so
viel besitze. Das sind überhaupt meine Ersparnisse seit zwanzig Jahren. Lasst
mich nur los. Ich will Euch alles geben!“ – „Ach Du Thor!“, rief
sie aus, „wie kann ich Dich laufen lassen? Das sind bloß leere
Redensarten! Gib nur ein sicheres Zeichen.“

Sie rief hierauf ihre Tochter, und befahl ihr, so wie
ihrem Mann, die Türe genau zu bewachen, bis sie zurückkommen würde, und sie
selbst ging zur Frau des Diebes, und benachrichtigte sie von der Lage ihres
Mannes, dass man ihn festhalte, und man ihn ohne siebenhundert Drachmen nicht
loslassen würde. Zugleich übergab sie ihr das Zeichen ihres Mannes, und
nunmehr zahlte diese die verlangte Summe aus.