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9. Nacht

„Meine liebe Schwester,“ rief
Dinarsade in der folgenden Nacht zur gewöhnlichen Stunde, „ich bitte dich
die Geschichte des Fischers zu vollenden; ich sterbe vor Begierde sie zu
hören.“ – „Ich will deine Neugier befriedigen,“ antwortete die
Sultanin. Zu gleicher Zeit bat sie den Sultan um Erlaubnis; und nachdem sie
dieselbe erhalten hatte, nahm sie die Geschichte vom Fischer folgendermaßen
wieder auf:

„Herr, als der Fischer, verdrießlich
über einen so schnöden Fang, sein Netz wieder ausgebessert, welches das
Eselsgerippe an mehreren Stellen zerrissen hatte, so warf er es zum zweiten Mal
aus. Indem er es herauszog, spürte er abermals starken Widerstand, weshalb er
glaubte, dass es voll Fische wäre; aber er fand darin nichts als einen großen
Korb voll Sand und Schlamm.

Er geriet darüber in große Betrübnis.
„O Schicksal,“ rief er mit kläglicher Stimme aus, „höre auf,
gegen mich zu zürnen, und verfolge nicht einen Unglücklichen, welcher dich
bittet, sein Leben zu schonen! Ich bin von Hause gegangen, um hier meinen
Unterhalt zu suchen, und du drohest mir den Tod. Ich habe kein anderes Gewerbe,
als dieses, um mich zu ernähren, und trotz aller Sorgfalt, welche ich darauf
verwende, kann ich meiner Familie kaum die dringendsten Bedürfnisse
verschaffen. Aber ich habe Unrecht, mich über dich zu beklagen: Du findest
Vergnügen daran, die ehrlichen Leute zu misshandeln und die großen Männer in
der Dunkelheit zu lassen, während du die Bösen begünstigst und diejenigen
erhebst, die sich durch keine Tugend empfehlen.“

Indem er in diese Klagen ausbrach,
schleuderte er ungestüm den Korb weg; und nachdem er sein Netz wieder rein
gewaschen von dem Kot, welcher es verunreinigt hatte, warf er es zum dritten Mal
aus. Aber er zog nichts als Steine, Muscheln und Unrat heraus.

Es ist nicht auszusprechen, wie groß seine
Verzweiflung war: Es fehlte nicht viel, dass er im übermaß seines Unglücks
den Verstand verlor. Hierauf, seiner Frau und seiner Kinder gedenkend, sprach er
folgende Verse aus:

„Dein Unterhalt hängt weder von deiner
Nachlässigkeit, noch von deinem Eifer ab; und es ist weder deine
Geschicklichkeit, noch sind es deine schönen Schriftzüge, welche dich
glücklich machen.

Das glückliche Loos und der Unterhalt sind
nur Gaben des Schicksals, und du musst damit zufrieden sein, es sei dir günstig
oder widrig.

Es erniedrigt die Höchsten und
Trefflichsten, und erhöht oft die Niedrigsten und Bösesten, welche das
schlechteste Los verdient hätten.

Komm also, o Tod! Denn das Leben ist mir
verächtlich geworden, weil in demselben Menschen mit Adler-Tugenden erniedrigt,
und Leute mit Enten-Fähigkeiten erhöht werden.

Denn es ist kein Wunder mehr, zu sehen, dass
die Tugend mit Armut kämpft, und das Laster mit dem ihm zugefallenen Glücke
sich brüstet.

Unser Loos ist vorherbestimmt, und mit unsern
dort oben vorgezeichneten Schicksalen gleichen wir Vögeln, welche hie und da
etwas aufzupicken finden: Der eine fliegt von Osten nach Westen, und findet
nichts; während der andere die beste Nahrung findet, ohne sich zu
entfernen.“

Unterdessen brach der Tag an, und der Fischer
vergaß nicht, als guter Muselmann, sein Gebet zu verrichten; darauf fügte er
Folgendes hinzu: „Herr, du weißt, dass ich nur viermal jeden Tag mein Netz
auswerfe. Ich habe es nun schon dreimal ausgeworfen, ohne die geringste Frucht
meiner Arbeit gewonnen zu haben. Es ist mir nur noch ein Zug übrig: und ich
flehe dich an, mir das Meer günstig zu machen, wie du es dem Moses1) getan
hast!“

Nachdem er dieses Gebet geendigt hatte, warf
er sein Netz zum vierten Mal aus. Als er glaubte, dass Fische darin sein müssten,
zog er es abermals mit großer Mühe heraus. Es waren gleichwohl keine darin;
aber er fand darin ein Gefäß aus Messing, welches seiner Schwere nach ihm
etwas zu enthalten schien. Er bemerkte, dass es mit Blei verschlossen und
versiegelt war, und sah den Abdruck eines Petschafts darauf. Dies erfreute ihn.
„Ich will es an den Gelbgießer verkaufen,“ sagte er, „und für
das Geld, das ich daraus löse, ein Maß Getreide kaufen.“

Er untersuchte das Gefäß von allen Seiten,
schüttelte es, um zu hören, ob das, was darinnen wäre, kein Geräusch machte.
Er hörte nichts; und dieser Umstand, samt dem Siegel auf dem Deckel von Blei,
brachten ihn auf den Gedanken, dass es mit etwas Kostbarem angefüllt sein müsste.
Um sich darüber aufzuklären, nahm er sein Messer, und mit einiger Mühe
öffnete er es. Er kehrte sogleich die öffnung gegen den Boden, aber es kam
nichts heraus; was ihn äußerst verwunderte.

Er setzte das Gefäß vor sich hin; und
während er es aufmerksam betrachtete, stieg ein dichter Rauch daraus empor,
welcher ihn nötigte, zwei oder drei Schritte zurückzutreten. Dieser Rauch
erhob sich bis in die Wolken, breitete sich über das Meer und Gestade aus, und
bildete einen dicken Nebel: welches Schauspiel, wie man sich vorstellen kann,
dem Fischer ein außerordentliches Erstaunen erregte. Als aller Rauch aus dem
Gefäße war, vereinigte er sich wieder und verdichtete sich zu einem festen
Körper, und daraus bildete sich ein Geist, der noch einmal so groß war als der
größte aller Riesen. Bei dem Anblick eines Ungetüms von so ungeheuerer
Größte wollte der Fischer die Flucht ergreifen; aber er war so erschüttert
und erschrocken, dass er keinen Fuß rühren konnte.

„Salomon2),“ rief alsbald der
Geist aus, „Salomon, großer Prophet Gottes, Gnade, Gnade! Nimmer will ich
mich deinem Willen widersetzten. Ich will allen deinen Befehlen gehorchen
…“

Scheherasade bemerkte hier den Tag, und brach
ihre Erzählung ab.

Dinarsade nahm darauf das Wort: „Meine
Schwester,“ sagte sie, „man kann nicht besser sein Versprechen halten,
als du es getan hast: Dieses Märchen ist ohne Zweifel viel wunderbarer, als die
vorigen.“ – „Meine Schwester,“ antwortete die Sultanin, „du
wirst Dinge hören, die dich noch weit mehr in Verwunderung setzen werden, wenn
der Sultan, mein Herr, mir erlaubt, sie dir zu erzählen.“

Schachriar hatte zu große Begierde, das übrige
der Geschichte vom Fischer zu hören, um sich dieses Vergnügens zu berauben. Er
verschob also den Tod der Sultanin abermals auf morgen.


1)
Die Mohammedaner nehmen 184.000 Propheten an. Die vornehmsten sind: Moses,
David, Jesus Christus und Mohammed. Diese sind die vier großen Propheten und
Gesetzgeber.