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894. Nacht

Senkrecht unter dem Strick bemerkte er noch zehn
aufeinander gestellte Ziegeln, und einen Zettel, worauf folgende Worte standen:
„Der Tod ist unausbleiblich. Dir bleibt in Deiner Lage nichts übrig, als
Dich zu erhängen. Bitte daher keinen von meinen Brüdern, um etwas, noch irgend
jemanden anderen, sondern stoße die Ziegeln mit Deinem Fuß voneinander, damit
Dir keine Möglichkeit zur Rettung übrig bleibt. Da wirst Du Ruhe haben vor den
Spöttereien der Feinde, der Neider, und von der Bitterkeit der Armut.“ Es
ist nicht möglich, die Empfindungen zu beschreiben, die sich des jungen Mannes
bemächtigten. „Ach,“ rief er aus, „welchen schlechten Schatz
hast Du mir hier aufbewahrt!“

Voll Verzweiflung ging er nun aus, und verschwendete sein
Vermögen mit seinen Freunden, in der Hoffnung, dass sie sich dereinst auch als
solche bewähren würden. So vergeudete er denn seine Reichtümer so
leichtsinniger Weise, dass ihm nach kurzer Zeit nichts mehr davon übrig blieb.

Nach vielen kummervollen Augenblicken hatte er schon zwei
Tage lang nichts genossen, da verkaufte er seinen Shawl, der ihm als Turban
diente, für zwei Drachmen, und kaufte dafür Brot und Milch, welches beides er
hinsetzte, um noch etwas anderes einzukaufen. Als er zurückkehrte, fand er
indessen, dass ein Hund sein Brot gefressen und die Milch umgestoßen habe. Ganz
voll Verzweiflung ging er nun auf die Straße hinaus, indem er sich fortwährend
das Gesicht zerschlug. Hier begegnete er einem seiner besten Freunde, und
entschloss sich, demselben seinen Zustand zu offenbaren.

„Wie,“ rief jener aus, „schämst Du Dich
nicht, so töricht zu sprechen? Wie kannst Du vorgeben, Dein unermessliches
Vermögen vertan zu haben? Wie kannst Du noch die Lüge hinzufügen, und
behaupten, ein Hund sei auf den Rand gestiegen, habe Dein Brot gefressen, und
Deine Milch umgestoßen?“ Er endigte zuletzt damit, dass er ihn noch derb
tadelte. Dieses konnte der Jüngling nicht ertragen. Er ging nach Hause, voll
Verzweiflung im Herzen und vermochte nur die Worte hervorzubringen: „Ach,
wie wahr hat mein Vater geredet!“ Hierauf ging er in das Kabinett, stieg
auf die Ziegeln, band sich den Strick um den Hals, und schob die Ziegeln mit den
Füßen fort. Sie rollten voneinander, der Strick riss, und aus der Decke
stürzten eine Menge von Kostbarkeiten auf ihn herab. Er suchte weiter nach, und
entdeckte einen Reichtum, der alle seine Erwartungen weit übertraf. Nun merkte
er erst, dass sein Vater ihn durch dieses Mittel habe klug machen wollen.

Als er nach und nach seine verkauften Güter und
Ländereien wieder an sich gebracht hatte, kehrten seine Freunde wieder zu ihm
zurück, die er gut aufnahm, und sie köstlich bewirtete.

Eines Tages erzählte er ihnen, dass, als sein Vater noch
gelebt hätte, Heuschrecken in sein Haus gedrungen wären, und einen bedeutenden
Vorrat von Brot aufgegessen hätten. „Als wir das sahen,“ fuhr er
fort, „legten wir an die nämliche Stelle ein Granitstück von der Breite
und Länge einer Elle. Allein die Heuschrecken, die den Geruch des Brotes noch
wahrnahmen, zernagten das Granitstück, des Brotgeruchs wegen.“ Da sagte
ihm jener selbe Freund, der ihn vorher Lügen gestraft hatte, als er ihm sein
Unglück mit dem Brot und der Milch erzählt hatte: „Darüber darfst Du
Dich nicht wundern, die Mäuse tun täglich mehr als das.“ – „Nun habe
ich genug,“ rief der nun klüger gewordene junge Mann aus, „verlasst
mich, denn als ich arm war, glaubte man mir nicht, dass der Hund mein Brot
gefressen und meine Milch vergossen hätte, und heute, nun ich wieder reich bin,
glaubt man mir, dass Heuschrecken ein Granitstück von der Länge und Breite
einer Elle zernagen konnten.“ Da fühlten sie sich beschämt, verließen
ihn, und der junge Mann genoss bis ins späteste Alter in Ruhe sein Vermögen.

Doch wo bleibt diese Geschichte neben derjenigen von dem
König, welcher in ein Bildnis verliebt war?

Geschichte von dem König, der sich in ein
Bildnis verliebte 1)

Ein König, dessen Reich an Persien grenzte, zeugte in
seinem hohen Alter einen Sohn, den er in allen Wissenschaften unterrichten
ließ. Auch baute er ihm ein prächtiges Schloss. Als der Sohn dieses
Prachtgebäude bezog, erblickte er an der Decke eines Zimmers das Gemälde einer
weiblichen Schönheit, die nicht ihres Gleichen hatte. Sie war von einer Menge
Sklavinnen umgeben dargestellt.


1)
Sechste Nacht des Wesirs.