Project Description

893. Nacht

Eines Tages veränderte ich meine Kleider, steckte viel
Geld zu mir und ging in der Stadt spazieren, als ich ein sehr schönes Haus
erblickte. Wie ich es noch so betrachtete, erschien ein reizendes Mädchen am
Fenster. Als sie mich erblickte, eilte sie davon, und ließ mich ganz in
Begeisterung zurück. Da trat ich zu einem Schneider herein, der in der Nähe
wohnte, um mich nach dem Haus und dessen Besitzer zu erkundigen. „Das Haus
gehört,“ antwortete dieser, „dem Advokaten N… Hol ihn der
Teufel.“ Ich fragte weiter: „Ist denn dieser Mann der Vater des
hübschen Mädchens?“ Auf seine Bejahung eilte ich zu einem Mann, der mit
mir viel Geschäfte machte, und sagte ihm, dass ich die Tochter des Advokaten
N… heiraten, und deshalb zu ihm hingehen wolle.

Mein Freund versammelte sogleich einige Freunde, mit denen
wir uns zum Advokaten begaben. Nach den gewöhnlichen Grüßen trug ich ihm mein
Gesuch um seine Tochter vor. Er indessen antwortete: „Ich habe keine
Tochter, die sich für Dich ziemte.“

Da er auf meine wiederholten Gesuche sich fortwährend
weigerte, sagten seine Freunde zu ihm: „Dieses ist ein achtungswerter Mann,
der Deine Tochter glücklich machen kann. Es wäre also unbillig, ihr diese
Versorgung zu entziehen.“ – „Sie taugt aber nichts,“ erwiderte
er, „denn meine Tochter ist im höchsten Grad hässlich, und hat alle
tadelnswürdige Eigenschaften.“ – „Wenn ich sie aber so annehme, wie
Du sagst, dass sie ist?“ – Da sagte die ganze Versammlung einstimmig, er
möge doch dieses Geschäft enden. „Dein Wille soll geschehen!“, rief
er nunmehr aus. „Ich verlange für sie viertausend Goldstücke.“ –
„Du sollst sie haben,“ rief ich, und beeilte mich, den Heiratskontrakt
ausfertigen zu lassen. Ich veranstaltete sodann alsbald ein Fest, und als ich
nach demselben meine Gattin betrachtete, sah ich das hässlichste, was Gott
geschaffen hatte. Da ich mir aber einbildete, dass ihre Familie mir dieses nur
zum Schabernack antun könnte, so lachte ich darüber, und erwartete, dass meine
Gefährtin sich wieder entfernen würde. Allein zu meinem Erstaunen entfernte
sie sich nicht. Als mir das zu lange dauerte, und sich niemand außer ihr
einfand, wäre ich vor Zorn und Wut beinahe geborsten.

Ich betete nun, dass ich von ihr doch befreit werden
möchte, und als der Morgen anbrach, kam die Aufwärterin, und fragte mich, ob
ich kein Bad brauchte. Da ich es mit nein beantwortete, so erkundigte sie sich,
ob ich morgen eins brauchen würde? Meine Antwort war wiederum nein, und so
blieb ich drei ganze Tage mit meiner Frau, ohne dass ich das geringste von
Speise oder Trank genossen hätte. Als meine Gattin mich in diesem Zustand sah,
sagte sie mir: „Lieber Mann, welcher Kummer drückt Dich? Erzähle mir, was
Dich betrübt, und wenn ich kann, bei Gott, will ich Dich retten.“ Ich gab
ihrer Rede Gehör, in der Hoffnung, dass sie mir die Wahrheit sage, und
erzählte ihr von dem Mädchen, was ich gesehen und welche mich bezaubert hatte.
Sie antwortete mir darauf: „Wenn dieses Mädchen mir gehört, so wisse,
dass sie, so wie alles, was mein ist, Dir zu Dienste stehen soll. Gehört sie
aber meinem Vater, so werde ich sie von ihm erbitten, und sie Dir
überliefern.“ Hierauf fing sie sogleich an, ein Mädchen nach dem anderen
herbei kommen zu lassen, und sie mir vorzustellen, bis endlich die Geliebte
erschien. Hier rief ich aus: „Das ist sie!“ – „Sei
unbesorgt,“ rief meine Frau, „diese ist mein, und zwar ein Geschenk
von meinem Vater. Von nun an aber gehört sie Dir. Sei also ruhig und frohen
Mutes.“ Gegen Abend begab sie sich zu dem Mädchen. Nachdem sie dieselbe
geschmückt und mit Wohlgerüchen überströmt hatte, sagte sie zu ihr:
„Sei gegen Deinen Herrn nicht ungehorsam, was er auch von Dir
verlange.“ Das Mädchen kam hierauf zu mir, und als ich mich schlafen legen
wollte, dachte ich bei mir selbst: Deine Frau ist wahrhaft edler wie Du.
überhaupt rührte mich dieser Zug von ihr so sehr, dass ich das Mädchen nicht
berührte, sondern sie fortschickte, sogleich zu meiner Gattin ging, und mit ihr
schlief.

Wir lebten von nun an stets sehr glücklich, und nach
einem Jahr beglückte sie mich mit einer Tochter, über deren Schönheit ich
ganz entzückt war. Mit den Jahren entwickelte sich in ihr ganz der Verstand
ihrer Mutter, so wie auch die Schönheit ihres Vaters. Viele der vornehmsten
Leute hielten um sie an, aber ich verheiratete sie nicht. Einst träumte mir
wiederum, in derselben Versammlung zu sein, wo ich vor meiner Verheiratung im
Traume war. Dieses Mal wieder einem jeden Lose des Geschicks zugeteilt. Männer
wurden Weibern, Weiber wurden Männern bestimmt. Darauf sah ich auch Dich, und
mir wurde gesagt, dieser ist für Deine Tochter bestimmt. Daraus schloss ich,
dass Gott ihr keinen anderen als Dich zugedacht hatte, und es ist mir lieber, Du
heiratest sie bei meinen Lebzeiten, als nach meinem Tod. Als der arme Mann
dieses hörte, erwachte in ihm die Sehnsucht nach dem Mädchen. Er heiratete
sie, und sie beglückte ihn mit der zärtlichsten Liebe.

Doch diese Geschichte ist in keinem Vergleich mit
derjenigen von dem weisen Mann und seinen drei Söhnen.

Der
weise Mann und seine drei Söhne
1)

Ein weiser Mann hatte drei Söhne, die ebenfalls Kinder
hatten. Als sich mit den Jahren ihre Familie sehr vermehrte, und Uneinigkeiten
unter ihnen entstanden, versammelte er sie, und gab ihnen folgende Lehren:
„Seid einig gegen jeden, der wider Euch sein will. Verachtet Euch nicht
untereinander, sonst verachten Euch die Leute. Ihr gleicht einer Anzahl von
Leuten, die einen Berg durchstechen wollten. Ihre Arbeit ging schnell vorwärts,
so lange sie einig waren, und zuletzt blieb nur einer von ihnen übrig, der
dieser Arbeit unterlag. Dieses ist das Bild der Einigkeit und der Uneinigkeit.
Besonders aber hütet Euch, Fremde gegen einige unter Euch zu Hilfe zu rufen.
Dieses würde Euch den Untergang bereiten, denn jeder, durch dessen Hilfe ihr
gesiegt haben werdet, wird seine Befehle den Eurigen vorgezogen wissen wollen.
Noch will ich Euch sagen, dass ich Reichtümer besitze, die ich an einen Ort
vergraben will, wo ihr sie zur Zeit der Not finden könnt.“

Hierauf verließen sie den Vater, und zerstreuten sich.
Einer aber unter ihnen lauerte seinem Vater auf, um zu sehen, wo er diese
Schätze hin vergraben würde, und er bemerkte auch wirklich, dass er sie
außerhalb der Stadt verbarg. Am folgenden Tag ganz früh begab sich der Sohn an
den Ort, grub den Schatz aus, hob ihn, und ging damit von dannen.

Als der Vater seinen letzten Augenblick herankommen sah,
versammelte er seine Söhne, und zeigte ihnen genau den Ort an, wo er seine
Reichtümer verborgen hatte. So wie er nun gestorben war, gingen sie hin, um sie
auszugraben, und fanden einen unermesslichen Schatz, den sie unter sich
verteilten. Dasjenige nämlich, welches der eine Sohn früher genommen hatte,
befand sich gleich unter der Oberfläche der Erde, und er ahnte nicht, dass sich
unterwärts noch größere Schätze befinden würden.

Dieser eine nahm also sein Teil auch noch mit, und legte
es zu dem früher heimlich genommenen. Kurz darauf heiratete er seine Nichte,
mit der er einen Sohn zeugte, der sehr schön wurde. Bei herannahendem Alter
begann er nun zu fürchten, dass dieser Sohn arm werden, und das überhaupt
seine Betrügerei entdeckt werden möchte. Er rief ihn daher eines Tages zu sich
und sagte zu ihm: „Mein Sohn, wisse, dass ich meine Brüder in meiner
Jugend bei der Teilung des Vermögens meines Vaters schändlich betrogen habe.
Mich freut es, Dich so gut geraten zu sehen. Wenn Du also in Not kommst, und
etwas brauchst, so bitte keinen von ihnen um etwas, noch sonst jemanden, denn
ich habe Dir in diesem Haus einen Schatz vergraben, den Du aber nicht eher
öffnen musst, als bis Du ihn zur höchsten Notdurft brauchst.“

Kurze Zeit darauf starb der Mann, und sein beträchtliches
Vermögen fiel seinem Sohn zu. Dieser konnte es aber nicht erwarten, sondern,
ohne es nötig zu haben, machte er sich auf, und erbrach den Ort, wo der Schatz
verborgen war. Aber wie groß war sein Erstaunen, als er nichts als einen
leeren, blendend weiß übertünchten Raum fand, in dessen Mitte von der Decke
herab ein Strick hing.


1)
Fünfte Nacht des Wesirs.