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875. Nacht

Als indessen sein Wesir Sikar Dium, Bruder des Sikar Sivas, der
bei Seif Arr-add Minister war, eintrat, und den Kleinen bemerkte, erfüllte Gott
sein Herz mit Hass gegen denselben. „Glaube nicht,“ sagte er, als ihm
der König die wunderbare Art seines Auffindens mitteilte, „was dieser Mann
Dir sagte, das kann nur das Kind einer Frau sein, die es durch unerlaubten
Umgang empfangen, und es in der Wüste ausgesetzt hat. Lass es lieber
töten!“ – „Das wird mir nicht leicht werden,“ erwiderte der
König. Kaum aber hatte er dieses gesagt, als das Schloss sich mit freudigem
Jubel erfüllte, und als er sich nach der Ursache erkundigte, meldete man ihm,
dass seine Frau soeben entbunden worden sei. Bei dieser Nachricht nahm er den
Kleinen auf den Arm und begab sich zu seiner Gemahlin, und erfuhr, dass es ein
Mädchen sei, was zur Welt geboren worden, und dass es auf seiner Wange ein
rotes Mal habe. Da wunderte er sich über die beiden Mäler und sagte zu Sikar
Dium: „Sieh doch wie schön sie sind.“ Als der Wesir dieses sah,
schlug er sich in das Gesicht, warf seine Mütze zur Erde und rief: „Wenn
diese beiden Mäler sich vereinigen, so verkündige ich Dir den Untergang Abessiniens,
denn ihre Bedeutung ist großes Unglück. Töte daher entweder den Kleinen oder
Deine Tochter.“ – „Ich werde keins von beiden tun,“ sagte der
König, „denn sie haben nichts verbrochen.“ Er ließ sogleich Ammen
für beide besorgen, nannte seine Tochter Schame (Mal), den Knaben aber Wachs
el-Fellath (Einsamer oder Wüste), und ließ jedes in einem besonderen Gemach
erziehen, so dass keines das andere sehen konnte. Als sie zehn Jahre alt waren,
nahm Wachs el-Fellath sehr an Kräften zu, und wurde bald ein geübter Reiter,
so dass er alle seine Genossen in dieser Kunst und im Fechten übertraf. Im
Alter von fünfzehn Jahren aber hatte er ein solches übergewicht über Alle,
die ihn umgaben, gewonnen, dass Sikar Dium dem König drohte, er werde dem
König Seif Arr-ad berichten, dass er seinen Feind bei sich aufzog, wenn er ihn
nicht augenblicklich aus seinem Land verstieße. Dies jagte dem König Asrach
große Furcht ein. Nun traf es sich, dass er einen Heerführer hatte, mit Namen
Charag-el Schaker (Baumspalter), der so genannt wurde, weil er nach Bäumen mit
seinem Wurfspieß warf, und sie dadurch spaltete. Dieser besaß eine Festung,
drei Tagesreisen von der Stadt entfernt. Zu ihm sprach der König: „Nimm
Wachs el-Fellath in Deine Festung, und lass ihn nie dieser Gegend sich
nahen.“ Heimlich fügte er noch hinzu: „Gib wohl auf ihn Acht, und
behüte ihn vor allem Unglück, und lass ihm Unterricht geben in allen
Künsten.“ – Der Heerführer entfernte sich und nahm den Knaben mit in
seine Festung, und vervollkommnte ihn in allen übungen und Wissenschaften.
Einst sprach er zu ihm: „Eine Kunst des Krieges ist Dir noch
unbekannt.“ – „Welche ist dies?“, fragte Wachs el-Fellath.
„Komm und siehe selbst!“, erwiderte er ihm. Hierauf führte er ihn an
eine Stelle, wo mehrere Bäume standen, und zwar so starke, dass ein Mann sie
nicht umklammern konnte. Nun nahm er seinen Wurfspieß, warf nach einem
derselben und spaltete ihn. Wachs el-Fellath bat sich den Wurfspieß aus, und
vollbrachte zum Erstaunen seines Erziehers dasselbe Stück. – „Wehe
Dir,“ rief dieser aus, „ich erkenne in Dir denjenigen, durch welchen
die Drohung Noahs an uns in Erfüllung gebracht werden wird. Fliehe, und lass
Dich nicht mehr in unserem Land sehen, sonst lasse ich Dich töten!“ –
Wachs el-Fellath verließ also die Stadt, ohne zu wissen, wohin er sich wenden
sollte. Drei Tage lebte er von Pflanzen der Erde, bis er endlich an eine mit
hohen Mauern umgebene Stadt gelangte, deren Tore verschlossen waren. Die
Bewohner waren schwarz gekleidet, und ließen schmerzliche Klagen hören. Vor
allen sah er ein Brautzelt und ein Trauerzelt. In das erste trat er ein. Es war
dies nämlich die Stadt des Königs Asrach, der ihn erzogen hatte, und die Veranlassung
zur Betrübnis der Einwohner war folgende: Sikar Dium hatte nämlich, aus Zorn
über den König, weil dieser seinem Rat, den Knaben töten zu lassen, nicht
gefolgt war, die Stadt verlassen, und sich zu einem Freund begeben, der ein
Zauberer war, und hatte ihm den ganzen Hergang erzählt. – „Was hast Du nun
vor?“, fragte ihn dieser. „Ich will versuchen, eine Trennung zwischen
ihm und seiner Tochter zu veranlassen.“ – „Dazu will ich Dir
behilflich sein,“ war die Antwort des Zauberers. Er traf auch sogleich die
nötigen Vorbereitungen, und ließ einen bösen Geist erscheinen, der Muchtatif
(Entführer) hieß. „Was begehrst Du von mir?“, fragte dieser.
„Begib Dich eilends nach der Stadt des Königs Asrach, und bewerkstellige,
dass die Einwohner sich aus der Stadt begeben.“ – Zu jener Zeit nämlich
hatten die Menschen noch Umgang mit den höheren Geistern, und erreichten die
Einen durch die Anderen ihre Zwecke. Erst seit dem Erscheinen des Propheten
zogen sich die Geister zurück. – „Wenn also,“ fuhr er fort, „die
Bewohner die Stadt verlassen haben, werden sie Dich fragen, was Dein Begehr sei.
Sprich dann: ‚Führt mir Schame, die Tochter Eures Königs, heraus, geschmückt
mit all ihren Juwelen. Morgen werde ich kommen und sie hinwegführen. Tut ihr
das nicht, so zerstöre ich Eure Stadt, und vernichte Euch alle
miteinander.'“ – Als Muchtatif die Worte dieses Priesters der Zauberkunst
hörte, tat er, wie ihm gesagt wurde, und stürzte sich in die Stadt. Sikar Dium
aber, als er dies gesehen, kehrte zum König Asrach zurück, um zu erfahren, was
sich nun zutragen würde. Er war kaum dort angelangt, als schon Muchtatifs
Stimme über der Stadt erscholl. Da begaben sich die Einwohner zum König und
sagten: „Du hast gehört, was verlangt wird. Gibst du sie nicht gutwillig
heraus, so wirst Du es durch Gewalt tun müssen.“ Da begab sich der König
weinend zu ihrer Mutter, und meldete ihr den Vorfall. Diese konnte sich vor
Verzweiflung kaum fassen, und jedermann im Schloss weinte über diese Trennung.
Indessen wurde Schame geschmückt, ihren Eltern entrissen, und in jenes Zelt vor
der Stadt gebracht, um dort von dem bösen Geist abgeholt zu werden. Die
Einwohner waren auf der Stadtmauer versammelt und weinten. In diesem Augenblick
war es, wo Wachs el-Fellath aus der Wüste kam, und sich in das Zelt begab, um
zu sehen, was darin vorging. Als der König Asrach, der sich auch auf der
Stadtmauer befand, ihn erblickte, rief er ihm zu. Dieser aber hörte nicht
darauf, sondern stieg vom Pferd, band es an eine Zeltstange und trat ein.