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859. Nacht

„Herr,“ antwortete Alkeslan, „die
Dunkelheit meiner Geburt, meine vormalige Armut und die Trägheit, in welcher
ich lange gelebt habe, vermehren das Wunderbare meiner Geschichte. Sie ist voll
erstaunlicher Begebenheiten, dass sie verdiente, in goldenen Buchstaben
aufgeschrieben und von allen denjenigen gelesen zu werden, welche sich gern
durch das Beispiel und die Begebnisse anderer belehren lassen. Wenn Euer
Majestät mir erlauben will, sie Euch zu erzählen, so zweifle ich nicht, dass
Ihr sie merkwürdig finden werdet.“

Nachdem der Kalif bezeugt hatte, dass er diese Erzählung
mit vielem Vergnügen hören würde, begann Abu Muhammed Alkeslan
folgendermaßen:

„Mein Vater war wirklich ein armer Wundarzt, der sein
Gewerbe in den öffentlichen Bädern trieb, und alles, was man Euer Majestät
von meiner übermäßigen Trägheit gesagt hat, ist volle Wahrheit; denn in
meiner Kindheit war ich so faul, dass, wenn mir im Schlaf, der mich oft befiel,
die Sonne senkrecht auf den Kopf schien, ich dennoch nicht aufstehen mochte, um
mich in den Schatten zu begeben.

Ich hatte mein fünfzehntes Jahr erreicht, als mein Vater
starb und mich mit meiner Mutter in der tiefsten Dürftigkeit hinterließ. Diese
arme Frau war genötigt, in der Nachbarschaft als Magd zu dienen, um sich zu
ernähren; und ungeachtet der Dürftigkeit, in welcher sie lebte, hatte sie doch
die Güte, mir zu essen und zu trinken zu bringen, während ich mich nicht
schämte, den ganzen Tag zu faulenzen.

Eines Tages kam meine Mutter zu mir mit fünf
Silberstücken in der Hand, der Frucht ihrer Sparsamkeit, und redete also zu
mir:

„Mein Sohn, ich höre soeben, dass der Scheich Abul
Mosaffer im Begriff steht, eine Reise nach China zu machen. Dieser Mann ist
leibreich gegen die Armen und sehr bekannt durch seine Redlichkeit. überwinde
Dich selbst, mein Sohn, und steh auf. Komm mit mir, bring‘ ihm diese fünf
Silberstücke und bitte ihn, Dir in China, diesem Land, von welchem man so viel
Wunder erzählt, irgend etwas zu kaufen, was Dir nützlich sein kann. Wenn Du
aber nicht aufstehen und mit mir gehen willst, so schwöre ich Dir zu, ich komme
niemals wieder zu Dir, sondern lasse Dich verhungern und verdursten.“

Ich erkannte wohl an dieser Rede, dass meine Mutter über
meine Faulheit empört war. Ich fürchtete die Wirkung ihrer Drohung und dachte,
ich müsste eine Anstrengung machen, um mich aus der Versunkenheit, in welcher
ich lebte, empor zu reißen; denn ich glaube kaum, dass es damals auf Erden ein
fauleres Tier gab, als ich war. Ich antwortete also meiner Mutter:

„Wohlan, meine Mutter, helft mir, mich
aufrichten.“

Während sie mir diesen Dienst leistete, stöhnte ich und
zerschmolz in Tränen über diese Gewalt, welche ich mir antun musste.

Ich bat hierauf meine Mutter, mir meine Schuhe zu bringen:
Sie hatte die Gefälligkeit, sie mir selbst anzuziehen und mich unter die Arme
zu fassen, um mir beim Aufstehen zu helfen. Sie ließ nicht ab, mich vorwärts
zu treiben und mich beim Rockärmel fortzuziehen, bis wir am Gestade des Meeres
waren, wo wir den Scheich Abul Mosaffer trafen.

Ich grüßte den Scheich und fragte ihn so höflich, wie
mir möglich war, ob er selber Abul Mosaffer wäre, denn zu meiner Schande muss
ich gestehen, ich kannte diesen trefflichen Mann nicht von Angesicht. Auf seine
bejahende Antwort bat ich ihn, so gütig zu sein und sich mit den fünf
Silberstücken, welche ich ihm darreichte, zu befassen und mir dafür in dem
Land, wohin er reiste, etwas zu kaufen.

Der Scheich, über meine Bitte verwundert, wandte sich zu
seinen Reisegefährten und fragte sie, ob sie mich kennten.

„Ja, Herr,“ antworteten sie ihm, „es ist
Abu Muhammed Alkeslan, der so berüchtigt ist durch seine Faulheit, dass es
heute ohne Zweifel das erste mal ist, dass er ausgegangen; denn man hat ihn noch
niemals außer dem Haus gesehen.“