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794. Nacht

Der Kalif sah wohl ein, dass nichts besseres zu tun war,
als den Rat des Wesirs zu befolgen. Er befahl den jungen Mann aufstehen zu
lassen und ihm die Binde von den Augen zu nehmen. Sodann stieg er von seinem
Thron, ging zu dem Arzt hin, und sprach zu ihm, indem er ihm die Hand küsste:

„O weisester aller Menschen! Ich war weit entfernt,
Euren Wunsch zu ahnen, und wusste nicht, dass ich in meiner Hauptstadt einen
solchen Schatz besäße. Aber wenn Euer Edelmut Euren Tugenden gleich ist, wie
ich gern glaube, warum seid ihr so mit meiner Tochter verfahren, und habt einen
Teil meines Heeres umkommen lassen?“

„Mächtiger König, Abbild Gottes auf Erden,“
antwortete der Arzt, „ich bin ein Fremder. Bei meiner Ankunft in dieser
Stadt habe ich mit diesem jungen Mann Bekanntschaft gemacht, wir haben zusammen
gegessen, der krankhafte und sehnsüchtige Zustand, in welchem ich ihn gefunden,
seine Liebe zu Eurer Tochter, welche er mir bekannte, haben mein Mitleid erregt,
und mich vermocht, mich seiner anzunehmen. Zugleich hat es mir Vergnügen
gemacht, Euch zu erkennen zu geben, wer ich bin, und welche Macht mir Gott
verliehen hat. Aber ich will mich dieser Gaben nur bedienen, um Gutes zu tun.
Ich nehme jetzt meine Zuflucht zu Eurer Güte, und flehe Euch an, diesem jungen
Mann Eure Tochter zu bewilligen: Sie ist für ihn geschaffen, und er ist
würdig, sie zu besitzen.“

„Das scheint mir auch billig,“ sagte der Kalif,
und überdies müssen wir auch gehorchen.“

Auf der Stelle ließ er den jungen Mann mit einem Rock von
unschätzbarem Wert bekleiden, ließ ihn an seiner Seite sitzen, und für den
Arzt einen Thron von Ebenholz hereinbringen.

Während sie sich nun miteinander unterhielten, erblickte
der Arzt, indem er sich umdrehte, einen seidenen Vorhang, auf welchem zwei
große Löwen abgebildet waren. Er gab ihnen ein Zeichen mit der Hand, und
sogleich stürzten diese beiden Löwen aufeinander los, mit einem Gebrüll,
welches dem Getöse des Donners ähnlich war. Einen Augenblick darauf machte er
ein neues Zeichen, und nun sah man nur zwei Katzen, welche miteinander spielten.

„Was dünkt Dich davon?“, fragte der Kalif
seinen Wesir.

„Herr,“ antwortete dieser, „ich glaube,
dass Gott Euch diesen Weisen zugesandt hat, um Euch Wunderdinge sehen zu
lassen.“

„Wohlan,“ fuhr der Kalif fort, „so sage
ihm, dass er mich noch mehr dergleichen sehen lasse.“

Als der Wesir dem Arzt den Wunsch des Kalifen kund getan
hatte, verlangte dieser, dass man ihm ein Becken mit Wasser brächte, und bat
den Wesir, seine Kleider beizulegen, sich in einen großen Schleier zu hüllen,
und so an das Becken zu treten, wobei er ihm versprach, ihn wunderbare und sehr
ergötzliche Dinge sehen zu lassen.

Der Wesir willigte ein, aber kaum saß er in dem Becken,
als er sich mitten in ein unermessliches und fruchtbar empörtes Meer versetzt
sah: Er fing sogleich an zu schwimmen und überließ sich den Fluten, welche ihn
hin und her wälzten. Die Kräfte versagten ihm endlich, und er wähnte sich
schon verloren, da erhub sich plötzlich eine Woge, riss ihn mit sich fort, und
schleuderte ihn mit Blitzesschnelle an ein unbekanntes Ufer.

Kaum war er aus dem Wasser gestiegen, als er über seinen
Rücken einen starken Haarwuchs herabwallen fühlte, welcher ihm bis auf die
Fersen ging. Verwundert über diese Erscheinung, wirft er einen Blick auf seine
ganze Gestalt, und gewahrte, dass er gänzlich in ein Weib verwandelt ist.

„Verflucht sei der Spaß!“, sagte er bei sich
selber, „ein in ein Weib verwandelter Wesir ist fürwahr etwas sehr
außerordentliches. Aber was brauchte ich ein solches Wunder an mir zu erleben?
Gleichwohl geschieht alles in dieser Welt nur mit Zulassung Gottes: Ihm
verdanken wir das Dasein, und zu ihm müssen wir dereinst zurückkehren.“1)


1) Dies sind Sprüche des
Korans, deren die Mohammedaner sich gewöhnlich bedienen, um sich zur Ergebung
zu ermahnen.