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789. Nacht

Als Scheherasade diese Erzählung geendigt hatte, und sah,
dass der Tag noch nicht anbrach, und der Sultan noch geneigt war, sie
anzuhören, fing sie sogleich folgende Geschichte an:

Der Arzt und der junge Speisewirt zu
Bagdad

Man erzählt, dass ein von Land zu Land reisender
persischer Arzt nach der Stadt Bagdad kam. Er nahm seine Herberge in einem der
Kane, deren es dort so viele gibt, und blieb dort die Nacht.

Am folgenden Morgen durchwanderte er die Straßen, besah
die Plätze und Märkte. Er bewunderte die Größe der Stadt, die Pracht der
Gebäude, und sprach oft bei sich selber, dass er niemals eine so schöne Stadt
gesehen hätte.

Vor allen zog der Tigris seine Aufmerksamkeit an, welcher,
durch einen Kanal mit dem Euphrat verbunden, mitten durch die Stadt fließt, und
sie in zwei Hälften teilt, eine gegen Morgen, die andere gegen Abend. Diese
beiden Teile, oder vielmehr diese beiden Städte, sind durch sieben Brücken
verbunden, welche aus Schiffen zusammengefügt sind, teils wegen der
gewöhnlichen Breite des Stromes, teils wegen des wiederkehrenden Steigens
desselben. Diese Brücken sind stets mit Leuten bedeckt, welche ihre Geschäfte
hinüber und herüber fuhren. An mehreren Stellen der Stadt wandelt man unter
Palmen und allerlei andern Bäumen und hört um sich eine Menge Vögel, deren
vielstimmiger Chor ihren Schöpfer zu verherrlichen und dem Ewigen Lob zu singen
scheint.

Indem der persische Arzt so umher wanderte, kam er an den
Laden eines Speisewirts, in welchem Speisen und Gerichte aller Art ausgestellt
waren. Der Herr dieses Ladens war ein junger Mann von etwas 25 Jahren, dessen
Gesicht von solcher Schönheit glänzte, wie der Mond, wenn er voll ist. Seine
Tracht war einfach, aber gewählt. Er trug zierliche Ohrringe, und seine
Kleidung war so sauber und so nett angelegt, als wenn sie eben erst aus der Hand
des Schneiders käme.

Als aber der Arzt ihn aufmerksamer betrachtete, war er
verwundert, seine Gesichtsfarbe bleich, seine Augen erloschen und sein Antlitz
blass und entstellt, und darauf den Ausdruck des Kummers und der Traurigkeit zu
sehen: Er blieb stehen, und grüßte ihn.

Der junge Mann erwiderte seinen Gruß auf die höflichste
und ausgezeichneteste Weise, und lud ihn ein, bei ihm zu Mittag zu speisen. Als
der persische Arzt in den Laden des jungen Speisewirts getreten war, nahm dieser
zwei oder drei Schüsseln, bereitete in jeder ein besonderes Gericht, und setzte
dem Arzt vor.

„Setzt Euch einen Augenblick zu mir,“ sagte der
Arzt, „mich dünkt, ihr seid unwohl, und habt ein so bleiches Ansehen: Was
fehlt Euch? Leidet Ihr Schmerzen an irgend einem Teil Eures Leibes? Und befindet
ihr Euch schon lange in diesem Zustand?“

Der junge Mann stieß bei dieser Anrede einen tiefen
Seufzer aus, und antwortete weinend:

„Fragt mich nicht, mein Herr, an welchem übel ich
leide!“

„Warum nicht?“, versetzte sein Gast, „ich
bin ein Arzt, und, Gott sei Dank, ziemlich geschickt. Ich bin sicher, dass ich
Euch heilen werde, wenn Ihr Euch mir anvertrauen und mir den Ursprung und die
Kennzeichen Eurer Krankheit mitteilen wollt.“

Nachdem der junge Mann abermals geseufzt und gestöhnt
hatte, antwortete er:

„In Wahrheit, mein Herr, ich fühle keinen Schmerz,
und spüre keine Unpässlichkeit: Aber ich bin verliebt.“

„Ich seid verliebt?“ –

„Ja, mein Herr, verliebt, und zwar verliebt ohne
Hoffnung, jemals den Gegenstand meiner Liebe zu erlangen.“ –

„Und in wen seid ihr verliebt? Sagt mir das.“ –

„Ich habe Euch für jetzt schon genug gesagt. Lasst
mich meine Geschäfte abwarten, und meine Gäste bedienen. Wenn ihr diesen
Nachmittag wieder kommen wollt, so will ich Euch meinen Zustand weiter
auseinandersetzen, und Euch meine Abenteuer erzählen.“

„Nun gut. Geht an Eure Verrichtungen, damit man nicht
ungeduldig werde, auf Euch zu warten. Ich komme diesen Abend wieder zu
Euch.“

Nach dieser Unterhaltung, setzte der persische Arzt sich
zu Tisch. Darauf wanderte er wieder in der Stadt umher, ergötzte sich damit,
ihre Schönheiten zu beschauen, und am Abend kam er wieder zu dem jungen
Speisewirt.

Dieser freute sich, ihn wieder zu sehen, und fasste die
Hoffnung, dass er wenigstens sein Leid und seinen Kummer lindern könnte. Er
schloss seinen Laden, und führte ihn in sein Wohnhaus. Dieses war schön und
wohl eingerichtet, denn er hatte von seinen Eltern ein ziemlich ansehnliches
Vermögen geerbt.

Als sie eingetreten waren, wurde ein schmackhaftes und
erlesenes Abendessen aufgetragen. Nach der Mahlzeit bat der Arzt den jungen
Mann, ihm seine Abenteuer zu erzählen, und dieser tat es folgendermaßen:

„Der Kalif Motaded-billah1)
hat eine Tochter, deren Schönheit für ein Wunder gelten kann. Mit einen
reizenden Gestalt, zärtlichen und zugleich feurigen Augen, vereint sie eine
edle Haltung, einen feinen und zierlichen Wuchs. Kurz, sie ist der Ausbund aller
Vollkommenheiten, und nicht nur hat man niemals etwas gesehen, sondern man hat
sogar nicht einmal von einer so außerordentlichen Schönheit sagen gehört.
Mehrere Prinzen, mehrere Könige haben bei ihrem Vater um sie geworben: Aber
alle hat er bisher abgewiesen, und es ist wahrscheinlich, dass er niemand einer
so schönen Verbindung würdig finden wird.

Alle Freitage, wenn das Volk sich in den Moscheen
versammelt, und alle Kaufleute und Handwerker ihre Läden verlassen, oft ohne
sich die Mühe zu geben, sie zu verschließen, tritt diese Schönheit aus dem
Palast hervor, und ergötzt sich, die Stadt zu durchwandern. Hierauf begibt sie
sich ins Bad, und kehrt dann in den Harem zurück.


1)
Motaded-billah ist der sechzehnte Kalif vom Stamm der Abassyden, der von 892 bis
902 christlicher Zeitrechnung herrschte.