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788. Nacht

Nadan wurde, mit Ketten belastet, vor Sencharibs Thron
geführt, und den Händen seines Oheims übergeben, welcher ihn in ein finsteres
Loch sperren und darin genau bewachen ließ. Er erhielt jeden Tag zur Nahrung nur
ein Brot und ein wenig Wasser und jedes Mal, wenn Heykar ihn besuchte, warf er
ihm die Undankbarkeit und die Verruchtheit seines Herzens vor.

„Mein Sohn,“ sagte er zu ihm, „ich habe Dich als Kind
aufgenommen. Ich habe Dich erzogen, geliebt, mit Ansehen und Ehren überhäuft.
Ich habe Dir meinen Rang abgetreten und meine Reichtümer anvertraut. Ich habe
Dich frühzeitig in die Wissenschaften eingeweiht, weil ich Dich zum Erben meiner
Weisheit machen wollte, wie Du dereinst mein Vermögen erben solltest: Kurz, ich
habe mehr für Dich getan, als nur ein Vater getan hätte. Und wie hast Du meine
Wohltaten belohnt? Du hast mich verleumdet, mich mit Schmach überhäuft, meinem
Leben nachgestellt! Ja, mein Untergang war unvermeidlich, wenn nicht Gott, der
im Grunde des Herzens liest, die Unterdrückten tröstet und die Hochmütigen
demütigt, meine Unschuld erkannt und mich von Deinen Nachstellungen errettet
hätte.

Einst wollte jemand einen Stein gegen den Himmel
schleudern, der Stein fiel auf ihn zurück und zerschmetterte ihn: Das, mein
Sohn, ist Deine Geschichte.

Du hast Dich gegen mich betragen, wie jener Hund, welcher
in ein Töpferhaus ging, um sich zu wärmen, und dann die Leute des Hauses
anbellte, so das sie sich genötigt sahen, ihn hinauszujagen, damit sie nicht
gebissen würden.

Ich glaubte, mein Sohn, Du würdest mir einen Zufluchtsort
für mein Alter erbauen, und Du grubst einen Abgrund unter meinen Füßen.

Ich hatte Dich zu der ersten Würde des Reiches erhoben,
und Du hast dich nicht begnügt, undankbar zu sein, Du hast gegen Deinen
Wohltäter auch die Gewalt missbrauchen wollen, welche er Dir gegeben hatte! –

Holzhauer wollten einen Baum abhauen. Der Baum rief ihnen
zu: ‚Hätte ich selber Euch nicht das Heft Eurer Axt geliefert, so würdet Ihr
nicht imstande sein, mich zu fällen.‘ –

Musstest du also die Sorgfalt vergelten, welche ich Dir
von Kindheit auf widmete? Weißt Du denn nicht, dass die Erziehung eine viel
größere Wohltat ist, als das Leben? So lautet ein Spruch der Weisen:

‚Nenne das Kind, welchem Du das Leben gibst, Deinen Sohn,
aber das Kind, welches Du erzogen hast, kannst Du mit Recht Deinen Sklaven
nennen, weil es Dir mehr als das Dasein verdankt.‘

Gleichwohl hast Du mir bewiesen, dass die Erziehung nichts
vermag gegen die angeborene böse Art: Ich habe Dich die Tugend gelehrt, und Du
bist auf der Bahn des Lasters fortgeschritten. – Man sagte einst zu einer Katze:
‚Enthalte Dich des Stehlens, und Du sollst ein goldenes Halsband und täglich
Zucker und Mandeln zu essen haben.‘ – ‚Stehlen,‘ antwortete die Katze, ‚war das
Handwerk meines Vaters und Großvaters: Wie wollt Ihr nun, dass ich darauf
verzichte?‘ –

Man ließ einen Wolf in die Schule gehen, um ihn lesen zu
lehren. ‚Der Schulmeister sagte ihm vor: A, B, C,…‘. Der Wolf antwortete:
‚Lamm, Bock, Ziege,…‘, weil diese stets in seinen Gedanken waren.

Man wollte einen Esel zur Reinlichkeit gewöhnen, und ihm
eine bessere Lebensart beibringen: Man wusch ihm den Leib, und stellte ihn in
einem prächtigen Gemach auf einen reichen Teppich. Was geschah? Sobald sein Herr
ihm einen Augenblick Freiheit ließ, ging er auf die Straße hinaus, fand dort
Staub und wälzte sich darin. „Lasst ihn sich wälzen,“ sagte hierauf ein
Vorübergehender, „denn das ist seine Natur, und ihr vermögt nicht, sie zu
ändern.“ –

„Verzeiht mir,“ sagte manchmal Nadan zu seinem Oheim,
„verzeiht mir, ich verspreche, in Zukunft ein tadelloses Leben zu führen. Meine
Verbrechen sind groß, aber nichts übersteigt Euren Edelmut. Ich bin schuldig,
aber ich seid großmütig. Liegt es in meiner Art, zu fehlen, so ist es solchen
Männern, wie ihr seid, eigen, zu verzeihen. Seid gnädig, vergebt mein
Verbrechen, und ich will wie der niedrigste Eurer Sklaven in Eurem Haus leben.
Mein ganzes Leben soll fortan Eurem Dienst geweiht sein, um meine Undankbarkeit
wieder gut zu machen. Vertraut mir die niedrigsten Verrichtungen: Ich unterwerfe
mich im voraus allen Demütigungen.“

Heykar ließ sich durch diese falschen Beteuerungen nicht
täuschen: „Ein Baum,“ sprach er, „stand am Ufer eines Wassers im fruchtbaren
Erdreich, und trug doch keine Fürchte. Sein Herr wollte ihn abhauen, da sagte
der Baum: „Versetze mich an einen anderen Ort, und wenn ich dann keine Früchte
gebe, so hau mich ab.“ – „Du stehst hier am Ufer des Wassers,“ antwortete sein
Herr, „und hast nichts hervorgebracht: Wie willst Du denn fruchtbar werden, wenn
ich Dich anderswohin verpflanze?“

Sage mir nicht, dass Du noch jung bist, Nadan, denn das
Alter des Adlers ist der Jugend des Raben vorzuziehen, und man entsagt niemals
seinen ursprünglichen Neigungen. Man sagte zu einem Wolf: „Nahe dich nicht den
Herden, ihr Staub wird Dir das Gesicht verderben!“ – „Ihr Staub,“ antwortete er,
„ist im Gegenteil eine Stärkung für meine Augen.“

Was brauche ich, mein Sohn, Dir noch mehr von Deinen
Fehlern zu sagen? Jeder wird nach seinen Taten belohnt. Gott liest in allen
Herzen, Gott wird zwischen uns beiden richten.“

So sprach Heykar, und jeder Vorwurf drang wie ein scharfer
Pfeil in Nadans Herz. Die Gewissensbisse verzehrten ihn: Bald bemächtigte sich
düstere Verzweiflung seines ganzen Wesens, und ein gewaltsamer Ausbruch
erfolgte. Seine Adern schwollen an, sein Blick war stier, seine Glieder
erstarrten, und schluchzend vor Schmerz und Wut, gab er unter furchtbaren
Zuckungen den Geist auf. Ein jammervolles und schreckliches Ende, welches allen
Gottlosen zum abschreckenden Beispiel dienen sollte!

Das Schicksal des schuldvollen Nadan bestätigt die ewige
Wahrheit:

„Die Strafe folgt immer dem Verbrechen, und wer seinem
Bruder eine Grube gräbt, fällt selber hinein.“