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776. Nacht

Geschichte
des weisen Heykar

„Die Geschichte des weisen Heykar ist eine von jenen
alten überlieferungen, welche sich in dem Gedächtnis der Völker erhalten
haben und uns Begebenheiten der Urzeit darstellt.

Als erster Minister des Königs Sencharib von Arabien und
Ninive regierte Heykar allein das ganze Reich, und verband mit so großer Macht
tiefe Wissenschaft und außerordentliche Weisheit. Aber bei all seiner Größe
quälte ihn heimlich ein Gedanke und störte unaufhörlich seine Ruhe: Heykar
war ohne Kinder. Fruchtlos hatte er sechs Frauen geheiratet und für jede
derselben eine eigene Wohnung im Umfang seines Palastes erbauen lassen. Er
hoffte schon nicht mehr vom Himmel einen Erben seines Namens und des hohen
Ranges, zu welchem seine Weisheit und das Glück ihn berufen hatte.

Eines Tages endlich, als er aus allen Teilen des Reichs
die Weisen, Wahrsager und Sterndeuter hatte versammeln lassen, und vor ihnen
sein unglückliches Schicksal beklagte, rieten sie ihm, sich an die Götter zu
wenden und durch Spenden und Opfer ihre Gunst zu erwerben: „Die
Götter,“ fügten sie hinzu, „gewähren vielleicht Euren Bitten einen
Sohn.“

Heykar befolgte vergeblich ihren Rat, und furchtlos wurden
zahlreiche Schlachtopfer den Altären der Götter dargebracht. Er versank nun
wieder in tiefe Traurigkeit, und weil er sah, dass sein Gebet unerhört blieb,
schwur er den unmächtigen Göttern des Heidentums ab, und erhub seine Gedanken
zu dem allmächtigen Gott, und rief ihn mit dem Ausdruck des lebendigen und
glühenden Glaubens an:

„Allmächtiger Herr des Himmels und der Erden! O Du
Schöpfer aller Dinge, ich flehe Dich an um einen Sohn, welcher mein Trost und
einst mein Nachfolger werde, und in der Todesstunde mir die Augen schließen und
mir ein Grabmal errichten möge!“

Auf diese Worte ließ sich eine Stimme vom Himmel hören
und rief ihm zu:

„Heykar! Heykar! Weil Du erst zu den falschen
Göttern Deine Zuflucht genommen und von Menschenhänden gemachten Bildern
Deinen Weihrauch und Opfer dargebracht hast, so musst Du Deinen Irrtum büßen.
Du sollst keine Nachkommenschaft haben! Aber Deine Schwester hat einen Sohn,
diesen kannst Du an Sohnes Statt annehmen: Er mag Dein Erbe sein.“

Heykar nahm sogleich seinen Neffen zu sich, der Nadan
hieß, und noch an der Brust lag, und erwählte für ihn acht Pflegerinnen,
welche ihn in der ersten Kindheit aufziehen sollten. Seitdem wurde der Knabe als
der angenommene Sohn des Wesirs behandelt, und mit seidenen und purpurnen
Kleidern angetan.

Als er erwachsen war, brachte man ihn zu seinem Oheim, der
selber die Vollendung seiner Erziehung übernahm und ihn nach und nach Lesen,
die Sprachlehre, Sittenlehre und Weltweisheit lehrte: Und in wenigen Jahren war
Nadan schon mit allen Wissenschaften vertraut.

Der König Sencharib, der unterdessen mit Bedauern das
zunehmende Alter seines Ministers sah, redete ihn eines Tages mit folgenden
Worten an:

„O Du treuster und aufrichtigster aller Freunde! Du,
dessen Erfahrung und Weisheit die Glückseligkeit meines Reiches macht! Du mein
Minister, und der Vertraute aller meiner Geheimnisse! Schon häufen sich die
Jahre auf Deinem Haupt, und mit Schmerz sehe ich eine unvermeidliche Trennung
voraus. Welcher Mann ist würdig, Dein Nachfolger in meinem Vertrauen zu sein?
Und wer wird, wie Du, mein zuverlässiger Ratgeber und die Stütze meines
Reiches sein?“

„Herr,“ antwortete Heykar, „möge die Dauer
Eurer Tage ewig sein! Ich muss Euer Majestät sagen, dass ich meinen Neffen
Nadan an Sohnes Statt angenommen, ihn, weil er noch jung ist, in den
Wissenschaften unterrichtet, und ihn alles gelehrt habe, was ich selber von der
Sittenlehre und Weisheit inne habe.“

„Wohlan,“ sagte Sencharib, „so erscheine er
vor mir, und wenn ich ihn für fähig erkenne, meine Staaten zu verwalten, so
will ich ihm von Stund‘ an Dein Amt anvertrauen. Ich will wenigstens Deinem
Alter eine nunmehr schon notwendig gewordene Ruhe vergönnen. Du sollst aber an
meinem Hof alle Vorrechte eines Ranges behalten, welchen Du so lange Zeit durch
Deine Tugenden verherrlicht hast. Mögen, mein lieber Heykar, Deine übrigen
Tage nur Tage des Friedens und der Ehre sein!“

Von seinem Oheim vor den König von Assyrien geführt,
warf Nadan sich mit tiefer Ehrfurcht nieder, und einige glatte, mit einem
zugleich edlen und bescheidenen Ton ausgesprochene Worte, verführten den König
Sencharib dergestalt, dass er sich sogleich zu seinem Wesir wandte und sprach:

„Du hast Recht, Heykar, diesen Jüngling Deinen Sohn
zu nennen. Er scheint solcher Ehre würdig und so wie Du mir, und, vor mir,
meinem Vater Sarchadom gedient hast, so soll auch Dein Sohn mir dienen, und ich
will die Wohlfahrt meines Reiches seiner Obhut anvertrauen, und ihn Deinetwegen
erhöhen, um Dich in seiner Person zu ehren.“

Heykar, von Dankbarkeit durchdrungen, warf sich dem König
zu Füßen, wünschte seiner Regierung eine lange und ruhmvolle Dauer, und bat
ihn zu Gunsten Nadans um all seine königliche Nachsicht für die Fehler, welche
seine Jugend ihn möchte verschulden lassen.

„Ich schwöre,“ reif Sencharib aus, „ihn
zum besten meiner Freunde, nächst Dir, zu machen.“

Heykar ging mit seinem Neffen heim, und hier allein mit
ihm, wiederholte er ihm nochmals alle die guten Lehren, welche er ihm von
Kindheit an gegeben hatte. Mehrere Tage und Nächte währten diese lehrreichen
Unterhaltungen, in welchen er ihm Lebensregeln und Weisheitslehren einschärfte.

„Mein Sohn,“ sprach er zu ihm, „sei
aufmerksam auf meine Rede, und möge mein Rat Deinem Gedächtnis immerdar
gegenwärtig sein!

Erinnere Dich, mein Sohn, dass man demütig sein muss in
seiner Jugend, um in seinen alten Tagen geehrt zu werden.

Neige bescheiden Dein Haupt zur Erde, und wandere mit
Festigkeit auf dem Pfad der Tugend.

Wenn Du sprichst, so mäßige Deine Stimme, denn wenn man
durch Geschrei Häuser errichten könnte, so würde der Esel sich weitläufige
Besitzungen erbaut haben.