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772. Nacht

„Darf ich Euch fragen, Herr, wo Euer Geburtsort
ist?“

„Ich bin zu Kairo geboren,“ antwortete Selim.

Bei diesen Worten stürzte der Reisende, welcher den
Prinzen von ägypten erkannte, zu seinen Füßen und rief aus:

„Ah! Prinz, erlaubt, dass ich Eure Knie umfasse, und
Euch zuerst als meinen Herrn und König anerkenne: Das Unglück ist endlich
müde geworden, Euch zu verfolgen, und Euer Schicksal hat sich ganz verändert.
Ihr seht in mir den Schneider, welchem der König, Euer Vater, aufgetragen
hatte, Euch ein Handwerk zu lehren: Euer Bruder ist gestorben, und sein Tod hat
ägypten in Verwirrung gestürzt. Man hat an seine Stelle einen Eurer
Verwandten, welchen die Hofleute unterstützten, erheben wollen: Ich habe aber
Eure Rechte bei dem Volk geltend gemacht, habe die Krone für Euch in Anspruch
genommen, und Eure Anhänger haben sich vereinigt, und den Sieg davon getragen.
Ich habe die Ursachen bekannt gemacht, welche Euch gezwungen hatten, ägypten zu
verlassen, und ich habe zwei Jahre Zeit verlangt, um Euch aufzusuchen. Man ist
übereingekommen, dass während dieser Zeit Eure Wesire das Reich verwalten
sollen. Aber ich hoffe, dass ihr nun bald selber die Zügel der Regierung
ergreifen werdet. Das Volk erwartete mit Ungeduld den Augenblick, wo ihr wieder
den Thron Eurer Väter besteigt.“

Selim dankte seinem alten Lehrmeister für diesen Eifer
und verhieß ihm, die Verpflichtungen, welche er hätte, nimmer zu vergessen. Er
bat ihn, ihn nach der Hauptstadt zu begleiten, und machte denselben Vorschlag
dem Kalender, der ihn auch annahm.

Sie gelangten in wenigen Tagen nach Kairo, wo Selim unter
allgemeinen Zujauchzen empfangen wurde. Diejenigen unter den Großen, welche
anfangs die Krone einem andern auf das Haupt setzen wollten, waren die ersten,
welche auf seine Seite übertraten und ihm den Eid der Treue leisteten.

Als Selim nun auf dem Thron war, wollte er sogleich den
Schneider, seinen alten Lehrmeister, dem er so viel Verbindlichkeit hatte,
belohnen.

„Mein Vater,“ sprach er zu ihm, „denn die
Dienste, welche Du mir geleistet hast, erlauben mir nicht, Dich mit einem andern
Namen zu nennen, sei versichert, dass es nimmer aus meinem Gedächtnis kommen
wird, was ich Dir schuldig bin. Du hast mich in den Stand gesetzt, mich zu
ernähren, und Dir bin ich die Erhaltung meines Lebens schuldig. Dir verdanke
ich endlich auch den Thron: Empfange also zur Belohnung die Stelle des
Großwesirs meines Reiches.“

„Herr,“ antwortete demütig der Schneider,
„Euer Majestät überhäuft mich mit Güte, aber ihr werdet zu Gnaden
halten, dass ich sie nicht annehme: Das Amt eines Ministers ist eine sehr
schwere Last. Ich bin ein guter Schneider, ich möchte aber wohl ein schlechter
Wesir sein. Eure Völker würden es Euch vielleicht zum Vorwurf machen, dass ihr
mich zu einer Stelle erhoben habt, welche auszufüllen ich nicht im Stande bin.
Nein, meine Wünsche sind mäßiger: Ich mache gute Kleider, geruht also, mich
zum Hofschneider zu ernennen, und ich verspreche Euch, mich der von Euch mir
anvertrauten Aufträge getreulich zu entledigen.“

Der Fürst fühlte ganz die Richtigkeit dieser Bemerkung
des Schneiders, und bewilligte ihm seine Bitte. Er übertrug nun die Würde des
Großwesirs seinem Reisegefährten, dem Kalender, in welchem er mit jedem Tag
neue Geschicklichkeiten entdeckt hatte.

Beide beflissen sich ernstlich, ägypten gut zu regieren,
und die übel wieder gut zu machen, welche die gewalttätigen Verfügungen des
letzten Königs dem Land verursacht hatten. Selim beschäftigte sich vor allen
damit, die Handhabung der Gerechtigkeit wieder herzustellen, welche lange Zeit
her vernachlässigt war, und er befahl, ihm von allen wichtigen Rechtssachen
seines Reiches Rechenschaft abzulegen.