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77. Nacht

„Ich war sehr erstaunt, das Schiff nicht mehr vor
Anker zu sehen. Ich stand auf, sah mich überall um und gewahrte keinen einzigen
von den Kaufleuten, die mit mir ans Land gestiegen waren. Ich sah nur das Schiff
in so weiter Ferne segeln, das ich es bald nachher aus dem Gesicht verlor.

Ihr mögt euch die Betrachtungen denken, die ich in einem
so traurigen Zustande anstellte. Ich meinte vor Schmerz zu vergehen, ich stieß
ein schreckliches Geschrei aus, ich schlug mir vor die Brust und den Kopf und
warf mich auf die Erde, wo ich lange Zeit in einer tödlichen Verwirrung
trauriger Gedanken liegen blieb. Hundertmal warf ich mir vor, mich nicht mit
meiner ersten Reise begnügt zu haben, die mir doch auf immer die Reiselust
benommen haben sollte. Aber all‘ mein Bedauern war unnütz und alle meine Reue
unzeitig.

Endlich ergab ich mich in den Willen Gottes, und ohne zu
wissen, was aus mir werden würde, stieg ich auf einen hohen Baum, von welchem
ich mich nach allen Seiten umsah, ob nichts zu entdecken wäre, was mir einige
Hoffnung geben könnte. Indem ich die Augen auf das Meer warf, sah ich nur
Wasser und Himmel. Da ich aber auf der Landseite etwas Weißes erblickte, stieg
ich vom Baum herab und ging mit dem, was ich an Lebensmitteln übrig hatte, auf
jenen Gegenstand zu, der so entfernt war, dass ich ihn nicht erkennen konnte.

Als ich nun in die gehörige Nähe kam, bemerkte ich, dass
es eine weiße Kugel von wundersamem Umfang war. So wie ich ihr ganz nahe kam,
berührte ich sie und fand sie sehr sanft. Ich ging rund um sie herum, um zu
sehen, ob sie keine öffnung habe. Ich konnte keine entdecken und sie war so
glatt, dass es mir unmöglich schien, hinauf zu steigen. Sie konnte wohl 50
Schritte im Umfang haben.

Die Sonne war eben im Begriff, unterzugehen, da
verfinsterte sich plötzlich der Himmel, als wenn er von einer dicken Wolke
bedeckt würde. Wenn ich aber über diese Dunkelheit erstaunte, so erstaunte ich
noch mehr, als ich sah, dass das, was sie verursachte, ein Vogel von
außerordentlicher Größe war, der nach meiner Seite flog. Ich erinnerte mich
eines Vogels, Roch genannt, von welchem ich die Matrosen oft hatte reden hören,
und ich dachte mir, dass die große Kugel, die ich so bewundert hatte, ein Ei
dieses Vogels sein müsste. In der Tat ließ er sich nieder und setzte sich
darauf, um es auszubrüten. Als ich ihn kommen sah, drückte ich mich ganz nahe
an das Ei, so dass ich einen der Füße des Vogels vor mir hatte, der so groß
wie ein dicker Baumstamm war. Ich band mich daran fest mit der Leinwand, mit
welcher mein Turban umwickelt war, in der Hoffnung, das der Roch, wenn er den
folgenden Tag davon flöge, mich aus dieser wüsten Insel fort trüge. In der Tat
flog, nachdem ich die Nacht in diesem Zustand zugebracht hatte, mit Tagesanbruch
der Vogel davon, entführte mich so hoch, dass ich die Erde nicht mehr sah, und
stürzte sich hierauf plötzlich mit solcher Schnelle herab, das ich die
Besinnung verlor. Als der Roch sich niedergelassen hatte und ich mich auf der
Erde sah, knüpfte ich schnell den Knoten auf, der mich an seinen Fuß
befestigte. Kaum hatte ich mich losgemacht, so hieb er mit dem Schnabel nach
einer Schlange von unerhörter Länge. Er packte sie und flog sogleich davon.

Der Ort, an welchem er mich ließ, war ein sehr tiefes
Tal, von allen Seiten mit so hohen und so steilen Bergen umgeben, dass sie sich
in die Wolken verloren und es keinen Pfad gab, sie zu besteigen. Das war eine
neue Verlegenheit für mich, und wenn ich diesen Ort mit der wüsten Insel
verglich, die ich eben verlassen hatte, so fand ich bei dem Tausche keinen
Gewinn.

In diesem Tal umhergehend, bemerkte ich, dass es mit
Diamanten von erstaunlicher Größe besät war. Ich ergötzte mich sehr, sie zu
betrachten, aber bald sah ich in der Ferne Gegenstände, welche dieses Ergötzen
sehr verringerten, und die ich nicht ohne Schrecken sehen konnte. Es war eine
große Anzahl Schlangen von solcher Dicke und Länge, dass sich keine unter
ihnen befand, die nicht einen Elefanten verschluckt hätte. Sie zogen sich den
Tag über in ihre Höhlen zurück, wo sie sich vor dem Roch, ihrem Feinde,
verbargen, und kamen des Nachts zum Vorschein.

Ich brachte den Tag damit zu, im Tal umherzugehen und mich
von Zeit zu Zeit an den bequemsten Stellen auszuruhen. Inzwischen ging die Sonne
unter und bei Anbruch der Nacht ging ich in eine Höhle, in der ich sicher zu
sein glaubte. Ich versperrte ihren engen und niedrigen Eingang mit einem Stein,
der groß genug war, um mich vor den Schlangen zu sichern, der aber doch nicht
so dicht schloss, um nicht einiges Licht einzulassen. Ich aß zum Abendbrot
einen Teil meines Mundvorrats, bei dem Geräusch der Schlangen, welche nun zu
erscheinen begannen. Ihr schreckliches Gezisch jagte mir eine ungeheure Furcht
ein, und erlaubte mir nicht – wie ihr’s euch wohl denken könnt – die Nacht sehr
ruhig zuzubringen. bei Anbruch des Tages entfernten sich die Schlangen. Ich trat
nun zitternd aus meiner Höhle, und ich kann sagen, dass ich eine lange Zeit auf
Diamanten ging, ohne die mindeste Lust dazu zu verspüren. Endlich setzte ich
mich nieder, und trotz der Unruhe, die mich bewegte, da ich die ganze Nacht kein
Auge zugetan hatte, entschlief ich, nach nochmals von meinem Vorrat
eingenommener Mahlzeit. Aber kaum war ich entschlummert, als etwas in meiner
Nähe mit großem Geräusch niederfiel und mich erweckte. Es war ein großes
Stück frisches Fleisch, und in demselben Augenblick sah ich mehrere andere an
verschiedenen Orten von den Felsen herabrollen.

Ich hatte immer für ein zur Lust ersonnenes Märchen
gehalten, was ich von Matrosen und anderen Personen von dem Tal der Diamanten
und von der Geschicklichkeit erzählen hörte, deren sich mehrere Kaufleute
bedienten, um diese kostbaren Steine daher zu bekommen. Nun sah ich wohl, dass
sie mir die Wahrheit gesagt hatten. In der Tat begeben sich diese Kaufleute in
die Nähe dieses Tals, zu der Zeit, wenn die Adler Junge haben. Sie zerschneiden
Fleisch in große Stücke, die sie dann in das Tal werfen und woran die
Diamanten, auf deren Spitze die Stücke fallen, nun festkleben. Die Adler,
welche in diesem Land stärker sind, als anderswo, stürzen sich auf die Stücke
Fleisch und tragen sie durch die Luft auf die Höhe der Felsen in ihre dort
befindlichen Nester, zum Futter für ihre Jungen. Hierauf nötigen die
Kaufleute, die zu den Nestern laufen, durch ihr Geschrei die Adler sich zu
entfernen, und nehmen die am Fleisch klebenden Diamanten. Sie bedienen sich
dieser List, weil es kein anderes Mittel gibt, die Diamanten aus diesem Tal zu
bekommen, da es ein Abgrund ist, in den man nicht hinabsteigen kann1).

Ich hatte bis dahin geglaubt, dass es mir nicht möglich
sein würde, aus diesem Abgrund herauszukommen, den ich wie mein Grab ansah: Nun
aber änderte ich meine Meinung, und was ich eben gesehen hatte, gab mir
Veranlassung, das Mittel zur Erhaltung meines Lebens zu ersinnen …“

Der bei diesen Worten anbrechende Tag legte Scheherasade
Stillschweigen auf, aber sie setzte in der folgenden Nacht diese Erzählung
fort.


1)
St. Epiphanius, in seiner Abhandlung über die zwölf Steine, welche das
Brustbild des jüdischen Hohenpriesters zierten, erzählt ein ähnliches
Märchen über die Art, wie man in Scythien die Hyazinthe sammelt. Man sehe auch
Marco Polo und Benjamin von Tudela, welcher von 1160 bis 1173 reiste.