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761. Nacht

„Herr, wie man erzählt, so war einmal in ägypten
ein mächtiger König, der zwei Söhne hatte. eines Tages dachte er über den
Lauf dieser Welt nach, und da er sah, dass nichts darin beständig war, so
fasste er den Entschluss, seinen zweiten Sohn ein Handwerk lernen zu lassen. Er
gab ihn also einem der berühmtesten Schneider seiner Hauptstadt in die Lehre.

„Mein Sohn,“ sprach er zu dem jungen Prinzen,
betrachte das Gewerbe, welches ich Dir zu eigen zu machen wünsche, nicht als
unter Deinem Stand. Niemand ist geborgen vor den Schlägen des Schicksals, und
vielleicht wirst Du eines Tages noch Gelegenheit finden, die Wahrheit dieses
persischen Sprichworts zu erkennen: „Belehrung eines Hirsekorns schwer
wiegt hundert Lasten Goldes auf.“

Der junge Prinz fügte sich dem Willen seines Vaters, und
in kurzer Zeit wurde er in der von ihm erlernten Kunst sehr geschickt.

Die folgenden Begebenheiten rechtfertigten nur zu sehr die
weise Vorsicht des Königs. Dieser Fürst kehrte in den Schoß des
allbarmherzigen Gottes zurück. Sein älterer Sohn bestieg den Thron, und der
jüngere, wohl wissend, wie sehr er die bösen Gesinnungen seines Bruders zu
fürchten hätte, sah sich, um sein Leben zu retten, genötigt, heimlich die
Flucht zu ergreifen, und sich nach Hedschas zu begeben. Er gesellte sich zu
einer Karawane von Wallfahrern, und hielt mit ihnen seinen Eintritt in die
heilige Stadt Mekka.

Er wanderte ruhig durch eine der Straßen dieser großen
Stadt, als sein Fuß an etwas Hartes stieß, welches einen Klang von sich gab.
Er streckte die Hand danach aus, und erkannte mit Freuden, dass er eine Börse
gefunden hatte. Aber sein Vergnügen darüber war von kurzer Dauer, denn kaum
hatte er einige Schritte getan, als er einem alten Chodschah
begegnete, der sich die Brust zerschlug und dabei mit dem Ton der tiefsten
Verzweiflung ausrief:

„O ihr Muselmänner! Wer von Euch meine Börse
gefunden hat, gebe sie mir wieder, um Gottes und des heiligen Tempels von Mekka
willen: Die Hälfte derselben soll ihm ebenso rechtmäßig angehören, wie die
Milch seiner Mutter.“

Die Verzweiflung dieses Mannes ließ den jungen Prinzen
nicht lange schwanken, was er zu tun hätte. Er ging also auf ihn zu, und
sprach: „Tröstet Euch, Chodschah, ich habe gefunden, was ihr verloren
habt.“ Und damit bot er ihm die Börse dar.

Selim zeigte bei dieser Gelegenheit eine
Uneigennützigkeit, welche ihm das Wohlwollen des Chodschah erwarb.

„Mein Vater,“ sprach er, „alles, warum ich
Euch zur Erwiderung des Euch geleisteten Dienstes bitte, ist, dass Ihr die Güte
habt, mir Arbeit zu verschaffen.“

„Gern, mein Sohn,“ antwortete der Greis,
„Dein Edelmut soll nicht unbelohnt bleiben. Ich wohne in Bagdad, und wenn
Du willst, so nehme ich Dich mit nach dieser Stadt, wo ich Dir sehr nützlich
sein kann.“

Der Prinz nahm dieses Erbieten an, und sie verabredeten
den Tag ihrer Abreise.

Nach einer langen Reise kamen sie alle beide gesund und
wohlbehalten nach der Hauptstadt von Irak Arabi. Der Chodschah, der seinen
jungen Reisegefährten große Teilnahme bewies, brachte ihn alsbald zu einem
Schneider von seiner Bekanntschaft. Dieser, um seine Geschicklichkeit zu
prüfen, ließ ihn einen Kaftan anfertigen; und als sein neuer Arbeiter ihm nach
einigen Tagen das ihm anvertraute Werk wiederbrachte, war er ganz erstaunt über
die Vollkommenheit der Arbeit, und gestand ihm, er hätte niemals einen so
geschickten Schneider gesehen.

Die Geschicklichkeit des jungen Prinzen erwarb seinem
Meister und ihm selber tausend Lobsprüche, und die Arbeit nahm in seiner
Werkstätte dermaßen zu, dass der erkenntliche Schneider eines Tages zu ihm
sprach:

„Mein Freund, ich bin Dir täglich wenigstens zwölf
Kifil’s für alle Deine Dienste schuldig: Hier sind sie.“

Eine so ansehnliche Summe gestattete dem Prinzen, zu
Bagdad mit der größten Bequemlichkeit zu leben.

Nun geschah es, dass der Chodschah eines Tages einen Zwist
mit seiner Frau hatte, welche recht hübsch war, aber ihm triftige Ursache zum
Missvergnügen gegeben hatte, und in seiner Heftigkeit sprach er dreimal das
geheiligte Wort der Verstoßung aus. Er hatte nicht sobald diese übereilung
begangen, als er sie schon herzlich bereute. Er eilte zum Kadi, und bat ihn, die
Ehe zu erneuern. Aber dieser Beamte verweigerte es hartnäckig, bevor die
verstoßene Frau nicht, dem Gesetz zufolge, mit einem Hülla vermählt worden.
Der Chodschah war lange unschlüssig über die Wahl eines Mannes, der sein
Vertrauen besäße, und entschied sich endlich, dem jungen Prinzen von ägypten
diese Rolle zu übertragen.

In dieser Absicht stellte er ihn seiner Gattin vor, und
sprach zu ihr: „Hier ist derjenige, dem ich Dich diese Nacht
anvertraue.“ Und nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, verschloss er
die Türe, und ließ beide allein, so wie das Gesetz es erforderte.

Als die Frau des Chodschah ihren Mann entfernt sah,
beleuchtete sie den jungen Prinzen mit der Lampe, und sie konnte sich nicht
erwehren, Liebe für ihn zu empfinden, denn Adel und Liebenswürdigkeit erschien
über sein ganzes Wesen verbreitet, und verriet seine edle Abkunft. Der Prinz
selber war auch nicht unempfindlich gegen die Reize der Frau des Chodschahs; und
eine große Vertraulichkeit war bald zwischen ihnen beiden gestiftet. Sie zeigte
ihm beträchtliche Reichtümer, welche sie als Aussteuer ihrem Mann zugebracht,
und erbot ihm alle diese Güter zu eigen, wenn er den Mut hätte, am nächsten
Morgen zu erklären, dass er die Frau behalten wollte, deren Hülla er gewesen,
und dass es ihm unmöglich wäre, sie zu verstoßen.

Diese Worte erfüllten Selims Herz mit Freuden, und er
versprach willig, vor dem Kadi die Verstoßung seiner Neuvermählten beharrlich
zu verweigern.