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741. Nacht

Ihre Furcht war nur zu begründet: Der böse Geist flog
von dem Hof des Königs von Persien gerade nach der Hauptstadt des chinesischen
Reiches und ließ sich unweit derselben nieder. Hierauf ging er nach dem Palast
des Kaisers, gab sich für einen Abgesandten des Königs von Persien aus und bat
um Gehör. Er wurde sogleich vorgelassen und sprach zu dem Fürsten:

"Herr, die Gefahren, welche der König, mein Herr,
für seinen Sohn befürchtete, sind vorüber. Dieser hat sein achtzehntes Jahr
zurückgelegt und nichts mehr von denen zu besorgen, die er fürchten musste. Er
bittet Euch, mir den jungen Prinzen anzuvertrauen."

Der Kaiser ließ Benasir kommen und sprach zu ihm:
"Mein Sohn, denn ich gefiel mir immer darin, Dich so zu nennen, wichtige
Angelegenheiten, deren Beschaffenheit Du später erfahren sollst, fordern Deine
Anwesenheit an dem Hof von Persien."

Diese Worte versetzten den jungen Prinzen in Bestürzung,
weil er die schmerzliche Trennung voraussah, zu welcher er nun gezwungen würde.
Er bat den Kaiser um Erlaubnis, seinen Brüdern und vor allem seiner Schwester
Lebewohl zu sagen.

Die letztere konnte diese Zusammenkunft nicht überstehen,
ohne Tränen zu vergießen, was Benasirs Schmerz noch vermehrte. Er gehorchte
indessen dem Willen des Kaisers und begab sich auf den Weg mit seinem
Gefährten, welcher ihn nach der Ursache seiner tiefen Betrübnis fragte.

"Herr," antwortete er ihm, "Ihr könnt Euch
keine Vorstellung von dem Schmerz machen, welchen ich gegenwärtig empfinde: Ich
habe eine Schwester, welche ich mehr liebe als mich selbst, und von welcher ich
nun gezwungen bin, mich zu trennen."

Der Geist erwiderte mit einem grinsenden Lächeln:
"Wenn Ihr es wünscht, so sollt Ihr alsbald wieder vereinigt sein: Erwartet
mich einige Augenblicke, ich gehe nochmals nach dem Palast und werde mein
möglichstes tun, um Eure Schwester mitzubringen."

Der Prinz versprach, ihn an dem Ort, wo sie sich befanden,
zu erwarten, und der Geist kehrte auf der Stelle nach der Hauptstadt von China
zurück. Als er dem Prinzen aus dem Gesicht war, verwandelte er sich sogleich in
einen Adler, flog hin und ließ sich auf ein flaches Dach des Palastes nieder.
Er gewahrte die Prinzessin von China in dem Garten, wo sie in tiefen Schmerz
versunken schien: Da stieß er auf sie herab, ergriff sie mit seinen Klauen und
entführte sie im reißenden Flug trotz dem Geschrei der Leute, die bei ihr
waren.

Er kam bald wieder zu dem Prinzen, der ein Raub der
lebhaftesten Unruhe war. Er legte Benasirs vermeinte Schwester ohnmächtig zu
seinen Füßen und nahm sogleich seine vorige Gestalt wieder an.

Als Benasir sich von seinem Erstaunen über dieses
Abenteuer wieder erholt hatte, bemühte er sich in Gemeinschaft mit dem Geist,
die Prinzessin wieder zu sich zu bringen. Er ging hin und holte Wasser von einem
Bach, der sich in der Nähe befand, und rief sie bald wieder ins Leben: Er
bezeigte ihr nun sein großes Vergnügen, wieder mit ihr vereint zu sein,
nachdem er schon gefürchtet hätte, für immer von ihr getrennt zu werden.

Die Prinzessin wollte nach dem Palast des Kaisers
zurückkehren, aber Benasir und der Geist widersetzten sich ihrem Vorhaben, und
jetzt nahm der letztere das Wort und sprach also zu beiden:

"Wir bedürfen mehrere Monate, um nach der Hauptstadt
von Persien zu gelangen, wo wir erwartet werden, und übrigens wird man nicht
ermangeln, auf allen Seiten tatarische Reiter nach der Prinzessin auszuschicken:
Ich will Euch also eine viel bequemere und schnellere Art zu reisen
gewähren."

Zu gleicher Zeit fasste er den Prinzen und die Prinzessin
in die Arme und schwang sich mit ihnen in die Lüfte. Aber anstatt nach der
Hauptstadt von Persien seine Richtung zu nehmen, schlug er den Weg nach der
Küste von Afrika ein.

Der Geist ließ sich mit seiner Bürde auf das sehr hohe
Gebirge bei Tunis herab, in eine tiefe enge Schlucht, welche einen grauenvollen
Anblick darbot. Und hier nahm der Geist, der sich bis dahin seinen
Reisegefährten sehr freundlich bezeigt hatte, plötzlich ein düsteres und
strenges Wesen an.