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740. Nacht

Bei diesen Worten fühlte die junge Prinzessin ihre Stirn
eine lebhafte Röte überziehen, und ihr Schweigen ließ ihren vermeinten Bruder
genugsam erkennen, dass sie seine Liebe teilte, aber sie wollte ihm eine so
sträfliche Neigung nicht gestehen und entfloh. Seit dieser Zeit verlor Benasir
keine Gelegenheit, mit der Prinzessin zusammen zu sein, und je größer er
wurde, je mehr wuchs seine Liebe.

Schon waren siebzehn Jahre seit seiner Geburt verflossen,
der König und die Königin von Persien schmeichelten sich, der Unbekannte
würde das ihm getane Versprechen vergessen haben, und dachten schon daran,
hin zu senden und ihren Sohn vom Hof des Kaisers von China heimholen zu lassen,
als am achtzehnten Jahrestag der Niederkunft der Königin die plötzliche
Erscheinung des Unbekannten in dem Palast sie mit Schrecken erfüllte.

„Ich komme,“ sprach er mit ernstem Ton zum
König, „Dich an die Erfüllung Deines mir gegebenen Versprechens zu mahnen
und mir Deinen Sohn aufzuopfern. Die achtzehn Jahre sind verflossen, und er
gehört nunmehr mir an.“

Obgleich der König die Antwort längst in Bereitschaft
hatte, so konnte er sie doch nur stammelnd herausbringen.

„Ihr erneut,“ antwortete er ihm, „einen
tiefen Schmerz in mir: Der Sohn, welchen Ihr von mir verlangt, hat nur wenige
Tage die Entbindung der Königin, meiner Gattin überlebt. Ich habe das
Unglück, kinderlos zu sein.“

„Herr,“ erwiderte der Unbekannte zornig,
„Ihr sucht vergeblich mich zu betrügen, um Euch von der Erfüllung Eures
Versprechens zu entbinden. Ich weiß, dass der Prinz lebt, und ich kenne den Ort
seines Aufenthalts: Er ist an dem Hof des Kaisers von China.“

Als der König von Persien sah, dass alle seine Sorgfalt,
womit er seinen Sohn achtzehn Jahre lang verborgen gehalten, und die
schmerzliche Entbehrung, welche er sich dadurch auferlegt hatte, vergeblich
gewesen, empfand er den heftigsten Schmerz. Er bemühte sich dennoch, seinen
Kummer zu beherrschen, und sprach:

„Herr, ich will auch nicht länger versuchen, Euch
die Wahrheit zu verhehlen: Es ist wahr, mein Sohn ist in China, aber ich
beschwöre Euch, beraubt einen unglücklichen Vater nicht des einzigen Trostes,
der ihm übrig bleibt, eines einzigen, zärtlich geliebten Sohnes. Wollt Ihr
sonst einen Lohn für den wichtigen Dienst, welchen Ihr mir geleistet habt, so
fordert ihn, und wenn es mir nur irgend möglich ist, so werde ich nicht
säumen, Euch zu befriedigen. Wollt Ihr die Hälfte meiner Schätze oder eine
Provinz meines Königreiches?“

„Ich will,“ erwiderte der Unbekannte, „die
Erfüllung Eures Versprechens und die Bestrafung Eures Treubruches. Ihr habt
versucht, mich zu betrügen: Eure Lüge aber, anstatt Euren Sohn zu retten, ist
eben die Ursache seines Verderbens.“

Der König, der alle seine Anerbietungen fruchtlos sah,
ließ sich zu dem demütigsten Bitten herab. Als er aber erkannte, dass auch
seine Bitten und Versprechungen ohne Wirkung blieben, so griff er endlich zu
Drohungen und sprach:

„Nun denn, weil weder meine Reichtümer noch meine
Bitten Euch rühren können, so bin ich genötigt, Gewalt zu gebrauchen: Ich
befehle meiner Wache, Euch festzunehmen.“

Und zu gleicher Zeit gab er seinen um ihn herstehenden
Leuten ein Zeichen, sich des Unbekannten zu bemächtigen: Dieser aber
verwandelte sich zum großen Erstaunen aller Gegenwärtigen plötzlich in einen
Adler und entschwand in schnellem Flug.

Der König und die Königin von Persien zweifelten nun
nicht mehr, dass ihr unglücklicher Sohn von einem bösen Geist verfolgt würde,
und blieben in tiefe Betrübnis versunken.