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727. Nacht

„Großer Gott! Mein Bruder,“ rief Abdallah aus.
„Seit wann bildet Ihr Euch ein, mir etwas anvertraut zu haben? Ihr habt
ohne Zweifel geträumt: Niemals ist Gold in das Haus des armen Abdallah
gekommen, und um alles in der Welt würde ich mich nicht mit dem Schatz
belästigt haben, von welchem Ihr sprecht.“

Der Kaufmann wähnte anfangs, sein Nachbar wollte sich
einen Scherz machen. Als er aber erkannte, dass derselbe ganz ernsthaft redete,
so konnte er seinen Unwillen nicht zurückhalten. „Wie, Elender!“,
sprach er zu ihm, „Du erinnerst Dich nicht, dass ich vor sechs Monaten
gekommen bin und Dir einen Beutel voll Goldstücke übergeben habe?“

„Iblis verblendet Euch, lieber Nachbar, ich
wiederhole Euch, dass Ihr mir nichts übergeben habt: Kommt doch wieder zur
Besinnung und klagt nicht einen Mann wie mich einer Handlung an, deren ich, wie
die ganze Welt weiß, unfähig bin.“

Die Drohung des Kaufmanns taten nicht mehr Wirkung als
seine Bitten. Er musste mit leeren Händen abziehen, indem er gegen den
treulosen Aufbewahrer seines Schatzes alle Verwünschungen ausstieß, welche der
Zorn ihm eingab.

Er verfügte sich eilig zu dem Kadi und erzählte ihm
getreulich, was vorgegangen war. Nachdem der Kadi, der wie Ihr, Herr, ein Mann
von tiefer Weisheit und großer Gewandtheit war, ihn aufmerksam angehört hatte,
antwortete er ihm:

„Da Ihr keine Zeugen hattet, als Ihr diesem Heuchler
das Geld anvertrautet, so würde es fruchtlos sein, dass ich ihn vor meinem
Richterstuhl erscheinen ließe. Er würde kecklich die Wahrheit Eurer Anklage
leugnen, und es wäre mir unmöglich, ihn gesetzlich zu verurteilen. Man muss
mit List gegen ihn verfahren, und ich habe einen Anschlag, vermittelst dessen
ich auf einen glücklichen Erfolg hoffe. Kehrt ruhig heim, aber zur Stunde des
Asr (Gebets) geht wieder zu Abdallah, droht ihm von neuem mit einer Anlage vor
mir, wenn er auf seiner Weigerung beharre, und verlasst Euch darauf, dass er
heut Abend ein besseres Gedächtnis haben wird als heute morgen.“

Vergnügt über die Versprechungen des Kadis, dankte der
Kaufmann ihm für seine Gefälligkeit und nahm Abschied von ihm.

Unterdessen bekleidete sich der Richter sogleich mit
seinem Pelz und begab sich in aller Eile zu Abdallah, der ihn mit seinem Rang
gebührenden Achtung empfing.

„Herr Abdallah,“ sprach der Kadi zu ihm,
„einem Mann von einer so musterhaften Frömmigkeit wie der Eurigen kann es
nicht fehlen, dass er von Gott den für so viel Fasten und Entbehrungen
verdienten Lohn empfange, und ich komme, Euch einen Antrag zu machen, der schon
in diesem Leben Euer Glück begründen soll, welches Euch in jenem Leben nicht
entgehen kann. Ich bin alt und fühle schon die Schwachheiten, welche das Alter
begleiten. Die Verrichtungen eines Kadis in einer so weitläufigen Stadt, wie
die von uns bewohnte ist, sind sehr mühselig, und da dieses Amt mir jetzt zu
schwer wird, so habe ich beschlossen, mir einen Nachfolger zu erwählen: Nun
habe ich gedacht, ich könnte mich an niemand besser wenden als an Euch, der Ihr
Euch der allgemeinen Achtung erfreut und am besten das Amt verrichten werdet,
das ich zu Euren Gunsten niederlegen will. Habt also die Güte, diesen Abend
nach der Stunde des Gebets zu mir zu kommen, und wir wollen die dienlichen
Maßregeln ergreifen, um Euch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“

„Der Wille Gottes geschehe,“ antwortete Abdallah,
„weil er gewürdigt hat, einen gnädigen Blick auf den alleruntertänigsten
seiner Diener zu werfen, so geziemt es mir nicht, mich seinen Beschlüssen zu
widersetzen.“

Der Kadi verließ ihn und empfahl ihm noch, ja nicht bei
der verabredeten Zusammenkunft auszubleiben.

Er war eben weggegangen, als der Kaufmann wieder eintrat.
„Nun, Nachbar,“ sprach er zu Abdallah, „seid Ihr nicht wieder auf
ehrsamere Gedanken gekommen?“