Project Description

709. Nacht

„Nun,“ sprach er sodann zu der Alten, „wie
findet Ihr, dass der Räuberhauptmann derlei Leute behandelt?“

„Es bleibt mir nur noch eins von Gott zu bitten
übrig, nämlich, den Kalifen für seine Ungerechtigkeit gegen uns zu bestrafen;
denn ohne ihn würde ungeachtet alles Deines Ansehens ein Mensch wie Du nimmer
gewagt haben, einen Fuß in unser Haus zu setzen.“

Harun war durch diesen Vorwurf, dessen er sich nicht
versah, nicht wenig überrascht. Er bedachte bei sich selber, dass er
vielleicht, ohne zu wollen, irgend eine Ungerechtigkeit begangen hätte. Er bat
also die Alte um Erklärung über das Unrecht, welches sie dem Kalifen
vorgeworfen hätte.

„Er ist es,“ antwortete sie, „der unser
Haus von oben bis unten hat ausplündern lassen und uns nicht einen Bissen Brot
zum Unterhalt übrig gelassen hat, so dass wir ohne Dich dem Hungertod
ausgesetzt waren. Mein Sohn war einer seiner Kammerherrn: Eines Tages klopften
zwei Frauen an unsere Türe und baten ihn um Wasser, sich zu erfrischen. Eine
Stunde nachher kam die ältere der Frauen und brachte ihm von Seiten der anderen
zum Dank für den gereichten Trunk eine Schüssel mit Kuchen. Mein Sohn gab sie
dem Wächter des Stadtviertels, der ihn um ein Geschenk zur Feier des
Arafafestes ansprach. Kurze Zeit darauf überfiel eine Schar von den Leuten des
Kalifen unser Haus, gab alles der Plünderung preis und schleppte meinen Sohn
weg: Glücklicherweise ist seine Hinrichtung aufgeschoben. Aber ohne diesen
unglücklichen Vorfall würdest Du nimmer meine Tochter geheiratet haben.“

„Wohlan! Tröstet Euch, meine gute Mutter,“
sagte Harun. „Ich werde mich bei dem Kalifen für Euch verwenden und ihn
vermögen, Eurem Sohn die Freiheit wiederzuschenken, Euch Eure Güter zu
erstatten und ihm eine ausgezeichnete Stellung zu geben.“

Diese Versprechungen erfreuten auf einen Augenblick die
Mutter des Kammerherrn. Aber bald besann sie sich wieder und sprach: „Für
diesmal, mein lieber Schwiegersohn, ist es nicht an der Zeit, zu scherzen. Hier
ist nicht die Rede von dem Kadi oder vom Polizeileutnant: Bedenke, dass Du von
dem großen Beherrscher der Gläubigen, dem berühmten Harun Arreschyd,
sprichst, der mächtigen Herren gebietet, und dessen niedrigster Sklave hundert
Mal mehr Macht hat als alle Beamten des Reiches. Sei nicht zu hochmütig auf die
Erfolge, welche Du bisher gehabt hast. Du hast einige Leute einzuschrecken
gewusst: Aber ich beschwöre Dich, wage Dich nicht an den Kalifen, denn Dein
Untergang wäre gewiss, und wir würden in Dir unsere letzte Stütze verlieren.
Ich will mich lieber in Betreff meines Sohnes auf die unendliche Gnade des
allbarmherzigen Gottes verlassen.“

Diese Worte machten einen tiefen Eindruck auf den Kalifen.
Er ging hinaus, ungeachtet dessen, dass seine Schwiegermutter und seine Gemahlin
ihn zurückhalten wollten, und begab sich in aller Eile nach seinem Palast.

Hier bestieg er nun seinen Thron, versammelte alle seine
Höflinge um sich, und nachdem er die gewöhnlichen Bezeigungen ihrer Ehrfurcht
empfangen hatte, äußerte er ihnen sein Befremden, dass keiner von ihnen es
gewagt, für den Kammerherrn, welchen er hatte festsetzen lassen, um Gnade zu
bitten und ihm das Wort zu reden.

„Beherrscher der Gläubigen,“ sagte einer der
Emire, „wir haben gefürchtet, die Euer Majestät schuldige Ehrfurcht zu
verletzen, aber weil Ihr es uns zu erlauben geruht, so glaube ich der Dolmetsch
des ganzen Hofes zu sein, wenn ich Euch bitte, dem zu verzeihen, den Ihr strafen
wolltet.“

Harun sprach die Begnadigung des Verurteilten aus. Er
befahl, ihn mit einem Ehrenrock zu bekleiden, ließ ihn sich vorführen,
ernannte ihn zum Oberhaupt der Emire und hieß ihn zu seiner Mutter heimkehren,
wohin er von den meisten Großen des Hofes und unter dem Zuruf des zahlreichen
Volkes im Triumph begleitet wurde: Er ritt ein prächtiges Pferd, welches der
Kalif ihm hatte geben lassen, und vor ihm zog eine Menge von Spielleuten, welche
vom Schall ihrer Instrumente die Luft widerhallen ließen.