Project Description

693. Nacht

Der Sohn Ali Dschoharis hatte Zeit gehabt, sich auf alle
diese Prüfungen vorzubereiten; sein Mut blieb also unerschüttert: Er schritt
furchtlos auf den Käfig zu und band ihn los, ungeachtet der von allen Seiten
blitzenden Säbel. Hierauf sprach er zu dem in dem Käfig versperrten
Geistervogel: „Du bist jetzt in meiner Gewalt und musst mir anzeigen, wo
ich das Vogelkraut finde; herauf musst Du mich nach Damaskus bringen: Dann erst
kann ich Dir die Freiheit bewilligen; aber bei dem geringsten Zeichen von
Treulosigkeit ist Dein Tod entschieden.“

Der schlaue Vogel ging alle Bedingungen ein, aber bevor er
ihm bestimmt den Ort des köstlichen Krautes nachwies, forderte er den jungen
Mann auf, die Schätze zu schauen, welche die Geister in diesen Gegenden
bewachten. „Könntest Du in ihren tiefsten Schlupfwinkel eindringen, ohne
das Merkwürdigste sehen zu wollen, was er enthält?“, sprach er zu ihm.
„Vielleicht findest Du darin irgend einen Talisman, welchen der
Geisterfürst Dir mitzunehmen erlaubt.“

Alle diese Vorspiegelungen versuchten den jungen Mann;
aber er antwortete, er wolle sich mit nichts anderem befassen, bis er sich im
Besitz des gedachten Krautes sähe, und mit dem Vogel in seiner rechten Hand
lief er hin, es zu pflücken.

Hierauf begann der Vogel wieder seine Lockungen und
versuchte, seinen Herrn durch die Beschreibung aller der Kleinode zu verleiten,
welche sich in dem Schatz befänden: „Du wirst darin eine Schachtel sehen,
welche Gott selber unserm Vater Adam gab, als dieser noch seine anfängliche
Weisheit besaß. Diese Schachtel enthält ein bewundernswürdiges genaues Abbild
des Weltsystems; die durch verschiedenartige Edelsteine von ungeheurer Größe
vorgestellten Planeten bewegen sich hier ebenso regelmäßig wie am Himmel; bei
genauer Betrachtung dieses Wunderwerks kannst du genau die Bewegungen der
Gestirne, ihre verderblichen und günstigen Verbindungen erkennen. Nachdem ich
sie Dir vollständig erklärt habe, will ich Dich an den Rand eines goldenen
Beckens führen, welches ein Abfluss aus einem der Flüsse des Paradieses ist;
in dessen Mitte wirst Du einen wunderbaren Springbrunnen sehen, welcher das
Lebenswasser bis an die Wolken spritzt: Wenn Du davon trinkst, wirst Du
unsterblich sein wie wir. Dann führe ich Dich noch …; aber was verliere ich
hier die Zeit damit, Dir die Gegenstände zu verkünden, welche Du selber sehen
kannst? Würdige mich nur einigen Vertrauens auf meine Verheißungen.“

Der Sohn Ali Dschoharis hätte sich beinahe überreden
lassen; er näherte sich schon dem Ort, welcher den Schatz verwahrte; aber
plötzlich stelle sich das Bild seiner kranken Gattin vor seine Seele; er trat
wieder zurück, indem er stets den Vogel bei dem Hals festhielt, und verlangte,
dass er ihn sogleich nach Damaskus zurückbrächte.

Als der Geist nun wohl sah, dass dieses das einzige Mittel
war, seine Freiheit wiederzuerlangen, gehorchte er auf der Stelle, der junge
Mann bestieg seinen Rücken, und in wenigen Stunden befanden sie sich mitten in
einem Garten der Hauptstadt von Syrien.

Der Herr dieses Gartens, verwundert über diesen neuen
Besuch, lief herzu, um unsere Reisenden zu sehen: Wie groß war seine
überraschung, als er den Sohn seines verehrten Nachbarn Ali Dschohari erkannte!
Er wusste nicht, ob er seinen Augen trauen sollte, und sprach zu ihm:
„Welch seltsames Fuhrwerk bringt Euch hierher? Wie, seid Ihr noch auf der
Welt, da alle Eure Verwandten Euch schon in jener Welt wähnen? Ihr kommt wohl
auch aus dieser her, nach dem Weg zu urteilen, auf welchem Ihr hier angelangt
seid. Wir haben schon Eure Leichenfeier begangen. Nehmt bald einige Tassen
Sorbet und Kaffee, denn Ihr scheint mir sehr ermüdet; danach erzählt mir Eure
Abenteuer, welche ich sehr neugierig bin zu hören.“

„Scheich!“, antwortete ihm der Reisende,
„so erschöpft ich bin, möchte ich doch lieber von Euch Nachricht von
meiner Gattin und von meinen Eltern vernehmen, als mich ausruhen und erfrischen.
Habt die Güte, mich nach dem väterlichen Haus zu führen.“

Während er so sprach, öffnete sich unwillkürlich seine
Hand, und der Vogel benutzte die Gelegenheit, so leise zu entschlüpfen und sich
emporzuschwingen, dass die beiden Freunde es nicht gewahrten; und ohne sich die
Mühe zu geben, ihn zu suchen, eilten sie nach dem Haus Dschoharis, wo alle
Bewohner in die tiefste Traurigkeit versunken waren.