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674. Nacht

Da der Tag noch nicht sichtbar war, begann Scheherasade
noch, dem Sultan von Indien, welchen die Geschichte der Amey sehr ergötzt
hatte, die Abenteuer des Prinzen Habib und der Prinzessin Dorrat-al-Gawas zu
erzählen.

Geschichte des Prinzen Habib und und der Prinzessin
Dorrat-al-Gawas

„Salama, einer der tapfersten und ältesten Krieger
Arabiens, war das Oberhaupt des Stammes Benuhalal und sechsundsechzig anderer
Stämme, die seinen Geboten gehorchten. Tausend furchtbare Ritter umgaben seine
Person; aber all seine Größe konnte ihn nicht von dem Kummer befreien, welchen
er darüber empfand, dass er keine Kinder hatte, und sein hohes Alter erlaubte
ihm fast nicht mehr, auf diese Gunst vom Himmel zu hoffen.

Endlich hörte er in einer Nacht eine heimliche Stimme,
welche ihm die Fruchtbarkeit seiner Gattin verhieß, und die Weissagung war
nicht trüglich, denn nach Verlauf einiger Monate bemerkte er wohl, dass sie
schwanger war.

Zur gewöhnlichen Zeit gebar sie einen Sohn, schön wie
der Vollmond, und sein Vater gab ihm den Namen Habib. Sie wollte es keiner Amme
überlassen, ihn zu säugen, und zwei Jahre lang gab sie ihm ihre Milch.

Ebenso beschäftigte sich der alte Emir, der über die
Geburt seines Kindes hoch erfreut war, beizeiten mit der Wahl eines Lehrers für
ihn, und als der junge Prinz das gehörige Alter erreicht hatte, gab er ihm
einen geschickten Lehrmeister, der seinen Zögling mit der größten Sorgfalt
unterrichtete.

In kurzer Zeit machte Habib reißende Fortschritte. Er
hatte kaum das Alter von sieben Jahren erreicht, als er schon vollkommen die
Sprachlehre, die Geschichte, die Dichtkunst und alle Feinheiten der
Schreibekunst verstand.

Jetzt gab sein Vater den Häuptern der verschiedenen
Stämme, die er beherrschte, ein prächtiges Mahl. Der junge Prinz wurde dabei
von ihnen geprüft und entwickelte einen so wunderbaren Umfang von Kenntnissen,
dass alle Welt darüber erstaunt war. Er dichtete aus dem Stegreif Verse vom Lob
seines Vaters, und man erkannte einstimmig, dass er bald ebensoviel
Geschicklichkeit haben würde, als er sich schon Kenntnisse erworben hatte.

Der Emir war so entzückt über die Fortschritte seines
Sohnes, dass er auf der Stelle seinen Lehrmeister kommen ließ, ihn mit Lob
überhäufte, ihm ein Geschenk von vier mit Gold, Silber und andern
Kostbarkeiten beladenen Kamelen machen und ihn zugleich zum Befehlshaber eines
seiner Stämme erheben wollte. Er sagte ihm sogar, dass er dadurch noch viel zu
wenig die ihm geleisteten Dienste zu belohnen glaubte: Aber zu Salamas großem
Erstaunen wurde dies Erbieten abgelehnt.

„Ich sehe wohl,“ antwortete ihm der Lehrmeister
seines Sohnes, „dass es Zeit ist, mich zu erkennen zu geben und Dir den
Irrtum zu benehmen, in welchem Du Dich befindest: Ich gehöre nicht zum
Geschlecht der Menschen und bin weit über die irdischen Eitelkeiten erhaben,
welche Ihr mir verehren wollt. Ich bin einer der über die Menschheit erhabenen
Geister, unter welchen ich einen hohen Rang einnahm, als eine geheimnisvolle
Stimme mir den Befehl erteilte, mich an Deinen Hof zu begeben, um dort die
Erziehung Deines Sohnes zu übernehmen: Ich bin dieser Weisung gefolgt, habe
mich um Deine Wahl beworben und sie erhalten. Meine Sendung ist nunmehr
erfüllt.“

Salama verwirrte sich in Danksagungen und wusste nicht,
wie er dem Geist seine ganze Erkenntlichkeit bezeigen sollte, als dieser
folgendermaßen fort fuhr:

„Ach, Herr, mit großem Bedauern sehe ich mich von
meinem junge Zögling getrennt; und diese Trennung ist mir umso schmerzlicher,
als er von einem großen Unglück bedroht wird, sobald ich nicht mehr bei ihm
bin.“

Mit diesen Worten umarmte der Geist den jungen Prinzen,
und ohne die Fragen zu beantworten, welche Salama ihm tat, stieß er einen
lauten Schrei aus und verschwand weinend.