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659. Nacht

Schluchzen und Tränen hemmten seine Worte, und ich
wartete, bis er sich etwas gefasst hatte. Hierauf bat ich ihn, um seinen Schmerz
zu zerstreuen, mir doch seine anderen Besitzungen zu zeigen. Er stand auf, ohne
meine Hand loszulassen, die er heftig drückte, und führte uns in einen weiten
Hofraum, mit Ställen umgeben, die fünfzehnhundert Kamele enthielten. Ich
bewunderte, mit welcher Sorgfalt man sie pflegte; und als wir in einen dieser
Ställe traten, kam ein weibliches Kamel nebst seinem Jungen fröhlich an uns
heran. Sie liebkosten ihren Herrn und wollten ihn nicht verlassen, als er Miene
machte, fort zu gehen.

„Diese Tiere sind Euch sehr zugetan,“ sagte ich
zu ihm.

„Sie kennen mich besser, als ich sie kenne: Ich fand
sie nach meiner Wiederkehr von meiner großen Reise, ohne zu wissen, woher sie
kamen; denn ich habe sie nicht gekauft: Aber sie kommen mich wegen der Sorgfalt,
welche sie verlangen, sehr teuer zu stehen. Niemals haben die Kameltreiber es
vermocht, sie auf die Weide zu treiben. Alle Stockschläge sind unnütz gewesen:
Man ernährt sie jetzt hier mit den Samenkörnern der Baumwolle und mit
Stroh.“

„Ihr habt doch Eurer Frau ein schönes Grabmal
errichten lassen?“, sagte meine Gefährtin zu ihm.

„So schön, als meine Kräfte es erlaubten. Ich habe
ein Bethaus mit einer Kuppel erbauen lassen, und ich gebe den Vorlesern, welche
darin bis zur Stunde des Abendessens Verse aus dem heiligen Koran vorlesen,
täglich ein Goldstück. Alle Feiertage wird ein Gottesdienst darin gehalten.
Die Ulemas, die Fakire und die Derwische führen ein geistliches Konzert
auf.“

„Würde es uns wohl vergönnt sein,“ fügte sie
hinzu, „den kostbaren überbleibseln, welche dieses traurige Denkmal
einschließt, unsere Verehrung zu bezeigen?“

„Junger Fremdling,“ sagte der Greis, „Ihr
begehrt eine Gunst, welche ich sonst nur den Dienern unserer heiligen Religion
erweise. Indessen, wie soll ich Euch etwas abschlagen? Kommt, folgt mir in
diesen langen Platanengang.“ Dieser führte zu dem kleinen Bethaus. Unser
Wirt ging mit langsamen Schritten und nachdenklicher Miene vorwärts. Endlich
öffnete er uns die Pforte dieses Trauergebäudes, und wir sahen zwei
Marmorgrabmäler, eines neben dem andern. auf dem größten hatte man einen
Frauenschleier mit Sprüchen aus dem Koran ausgehauen, deren Buchstaben erhaben
und vergoldet waren. Auf dem kleineren befand sich nur ein Turban.

Ich nahte mich meiner Gefährtin und sagte ihr ins Ohr:
„Ihr werdet etwas Außergewöhnliches sehen,“ und indem ich mich
hierauf zu unserem Wirt wandte, sagte ich zu ihm: „Ihr müsst mir einen
Gefallen erzeigen, dessen Erfüllung für Euch sehr wichtig ist: Ich beschwöre
Euch, lasst diese Gräber öffnen.“

Mein Wirt sah mich verächtlich an, ohne sein Gebet zu
unterbrechen, und wandte hierauf die Augen von mir ab. Aber ich ließ mich nicht
abschrecken und sagte: „Ihr erhört also meine Bitte nicht? Ja, Ihr
antwortet mir nicht einmal?“

„Verpflichten mich,“ versetzte er mit Strenge,
„die Gesetze der Gastfreundschaft, den Launen eines jungen Toren Genüge zu
leisten? Wozu die Ruhe der Toten stören?“

„Um sie dem Leben zurückzugeben,“ rief ich aus.

„Mein Freund, in meinem Alter glaubt man nicht mehr
an die Gaukeleien eines Menschen, wie Ihr seid.“

„Ich verzeihe,“ entgegnete ich, „Eurem
Schmerz eine Ungerechtigkeit, welche ich nicht verdient habe. Bewilligt mir nur,
was ich verlange, und wenn ich Euch nicht mein Versprechen halte, so
überliefert mich dem Kadi wie einen Unheiligen, der dem Zufluchtsort der Toten
Gewalt antut.“

Der Greis betrachtete mich mit irrem Blick, indem er
ausrief: „Mein Freund, was sagt Ihr: Sollte es möglich sein? Meine Frau,
mein Sohn, ich sollte Euch noch umarmen?“