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651. Nacht

Ich billigte ganz ihre Vorstellungen, und als mein Bruder
sich mir nahte, um mich zu umarmen, empfand ich anstatt der Liebe einen
unbezwinglichen Widerwillen; und wenn ich mich nicht vor meinen Eltern
gefürchtet hätte, würde ich ihn weit von mir zurückgestoßen haben. Ich
verfluchte innerlich diesen scheußlichen Gebrauch; aber was sollte ich machen,
und wie sollte ich ihn mit dem unbeugsamen Gesetz des Propheten, in welchem ich
leben und sterben wollte, in übereinstimung bringen?

Meine Eltern und mein Bruder beharrten fest auf ihrem
Entschluss. Der verhängnisvolle Augenblick nahte, und ich ging oft zu meiner
Amme, um mit ihr, die meinen Schmerz aufrichtig teilte, zu weinen.

„Meine Mutter,“ sagte ich zu ihr, „warum
hast Du mich ein Gesetz gelehrt, das sich unseren Gebräuchen widersetzt? Wenn
ich es nicht kennte, würde ich nicht strafbar sein.“

„Meine Tochter,“ erwiderte sie mir, „höre
auf, Dich zu betrüben. Ich will Dich ein gutes Mittel lehren, um der
Verfolgung, welche Du erleidest, zu entgehen. Wenn der Groß-Chan Dir befehlen
wird, Deinen Bruder zu heiraten, sollst Du ihm antworten: Ich kann Euer
Majestät nicht eher gehorchen, als bis ich reiten gelernt habe. Dies ist eine
unter den Frauen unseres Landes gebräuchliche übung, und ich kann sie nicht
mehr lernen, sobald ich verheiratet bin. Dies Begehren wird Deinem Vater nicht
seltsam erscheinen, da die Reitkunst die einzigste Wissenschaft ist, in welcher
man hier die Frauen unterrichtet. Wenn Dir diese Gnade gewährt ist, so
beunruhige Dich nicht mehr und lass mich für das weitere sorgen.“

Einige Tage nachher gab der König ein großes Fest, zu
welchem er alle Großen seines Hofes und sogar fremde Fürsten einlud. Mein
Bruder saß zu seiner Rechten und Eure Magd zu seiner Linken. Als nun der Geist
der Gäste vom Dunst des Weines erhitzt war und die süße Harmonie der
Instrumente ihre Herzen erweicht hatte, gedachte mein Bruder meiner und richtete
das Wort an meinen Vater.

„Herr,“ sagte er zu ihm, „Ihr habt meiner
Schwester befohlen, mich zum Gatten zu nehmen; aber sie stößt mich ungeachtet
Eurer Befehle immer zurück: Befehlt Ihr doch, mich ohne weitere Zögerung heute
Abend in ihr Bett aufzunehmen.“

Der Groß-Chan sah mich mit erzürntem Antlitz an und
sagte mir, dass diese beständigen Weigerungen irgend einen heimlichen Handel
vermuten ließen, dass ihm aber mein Kopf für meine Sittsamkeit bürgen sollte.

„Mein Vater,“ erwiderte ich ihm, „Gott
bewahre mich davor, dass ich mich Eurer hohen Willensmeinung widersetzen sollte.
Ehe man mich jedoch mit meinem Bruder verbindet, wünschte ich reiten und die
Waffen führen zu lernen; denn Ihr wisst, dass sich eine Frau nach ihrer
Verheiratung mit diesen übungen nicht ohne die größte Gefahr befassen
kann.“

Der Groß-Chan bewilligte mir gern diese Bitte, und mein
Bruder musste sich mit Geduld waffnen. Er tröstete sich, indem er mir selbst
Unterricht gab, um meine Fortschritte zu befördern. Ich bewunderte seine Geduld
und beklagte seine Liebe. Er war so gut, so sanft, so gefällig! Mit welcher
Gewandtheit, mit welcher Anmut schoss er einen Pfeil! Mit welcher Gelenkigkeit
tummelte er ein Pferd! Wie verstand er es, mir eine Geschicklichkeit
beizubringen, die ich von Natur besaß! Ohne das Gesetz unseres Propheten hätte
ich vielleicht seine Liebe geteilt. Ich schien immer sehr gewandt, und mir
selber war ich es niemals genug.

Endlich an einem schönen Sommertag, nachdem er mich mein
Pferd lange hatte herumtummeln lassen, hob er mich mit Leichtigkeit aus dem
Sattel, und ich fand mich auf dem Gras liegend.