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650. Nacht

„Ihr seht in mir ein Schlachtopfer des Ranges, in
welchem ich geboren bin. Kaum aus dem Schoß meiner Mutter gekommen, wurde ich
einer Sklavin übergeben, die mich säugte und für meine Erziehung sorgte.
Diese Frau galt am Hof für ein Wunder von Wissenschaften, und es würde in der
Tat schwer gewesen sein, in der Tatarei einen Weisen zu finden, der ihr zu
vergleichen gewesen wäre. Gleich bewandert in der Geschichte, der Erdkunde, der
Arzneiwissenschaft, der Scheidekunst, der Sternkunde und in den geheimen
Wissenschaften, erzog sie mich zu dem Islam, zu welchem sie sich bekannte, und
dessen Lehrbegriffe sie vollkommen inne hatte; denn die Abhandlungen der vier
Imame und deren vorzüglichste Ausleger waren ihr durch die Hände
gegangen.“

„Ich habe von dieser Sekte sprechen gehört, aber ich
kenne weder ihren Ursprung noch ihren Stifter,“ unterbrach sie der Sultan.

„Ich will mich bemühen, Euch in wenigen Worten damit
bekannt zu machen. Als die Anhänger des Isa sich von dem guten Weg entfernt
hatten, um sich in Ketzerei und Unglauben zu stürzen, indem sie behaupteten,
dass Isa der Sohn Gottes sei, verwarf der Allerhöchste ihre Anbetung und
erweckte einen großen Propheten unter den Arabern in dem Stamm der Koreischiten,
gab ihm das Zepter in die rechte Hand und den Koran in die linke, um alle auf
der Oberfläche des Erdbodens zerstreute Völker zu der einzigen wahren Religion
zu bekehren. Von einem heiligen Eifer ergriffen, arbeitete Mohammed, das heißt
der Glorreiche, kräftig an der Ausrottung der Vielgötterei und des Unglaubens.
Gleich mächtig in Worten und Werken, wandte er anfangs Ermahnungen und Wunder
an, und nur im äußersten Fall ließ er seinen Säbel auf die Ungläubigen
fliegen, welche halsstarrig sich dem Islam entgegenstemmten, das heißt, welche
nicht an die Einheit Gottes und die Sendung Mohammeds glauben wollten. Seine
heilige Religion breitet sich täglich mehr aus, und wir hoffen, dass sie in der
Folge der Zieten die einzige herrschende in den sieben Klimaten der Welt sein
wird, so wie sie die einzig wahre und selig machende ist. Alle Muselmänner und
Muselmänninnen sind Apostel, welche unermüdlich daran arbeiten, Proselyten zu
machen. Sie wollen, dass alle Menschen des ihnen verheißenen Glückes
teilhaftig werden. Nach diesem wohltätigen Geist erzog mich meine gute Amme in
dem Schoß dieser Religion, welcher ich immer treu bleiben werde. Sie beschnitt
mich insgeheim, lehrte mich die Niederwerfung, die Hersagung der fünf
täglichen Gebete und ein den Vorschriften der Imame angemessenes Betragen.

Außer dem Unterricht, der sich auf die Lehre des
Propheten bezog, brachte mir meine Amme noch eine Menge nützlicher und
angenehmer Kenntnisse bei. Sie sagte oft zu mir: „Sieh nur, meine Tochter,
wie roh und unwissend die Bewohner dieses Landes sind. Sie können nicht einmal
lesen. Welch ein Unterschied gegen mein Volk! Die Araber gelten für die
gelehrtesten Menschen auf Erden.“

Auf solche Weise, Herr, befeuerte sie mich zum Fleiß, und
ich beobachtete über alle unsere Beschäftigungen ein tiefes Stillschweigen,
denn sie gefielen mir ungemein.

Ihr wisst, dass in der Tatarei sich Brüder und Schwestern
miteinander verheiraten, und als ich das Alter von fünfzehn Jahren erreicht
hatte, wählten meine Eltern mir unter ihren Söhnen einen Gatten aus und
machten mir in Gegenwart meiner Amme ihren Willen kund.

Diese hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten, denn
dieser Gebrauch betrübte sie sehr, und sobald wir allein waren, umarmte sie
mich zärtlich. „Meine Tochter,“ sagte sie zu mir, „mit was für
Unmenschen leben wir hier! Dein Volk gleicht dem Vieh, das nicht unterscheidet,
was sich ziemt und was nicht; denn es tut Dinge, welche die Natur
empören.“