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649. Nacht

Auf einmal kam das Oberhaupt der Verschnittenen, um die
Ankunft des Sultans zu verkünden. Die schöne Sklavin stand auf, um seiner
Majestät entgegenzugehen, warf sich vor dem Fürsten auf die Knie und blieb in
dieser Stellung mit niedergeschlagenen Augen und einem Ausdruck voll
Bescheidenheit. Der Sultan setzte sich und winkte ihr, an seiner Seite Platz zu
nehmen. Nach einigen gleichgültigen Reden wollte er seine Rechte geltend
machen. Nachdem die Sklavin es vergebens versucht hatte, sich den königlichen
Liebkosungen zu entziehen, fing sie an, in Tränen zu zerfließen. Niemals hatte
sich eine Sklavin so widerspenstig gezeigt. Wie war es möglich, sich über ein
Abenteuer zu betrüben, welches die anderen Sklavinnen auf den Gipfel der Freude
gehoben hätte!

Der Fürst konnte sich keine Ursache eines so seltsamen
Betragens denken, und bald unterbrach er seine Liebkosungen, bald fuhr er damit
fort. Endlich warf sich die junge Schöne vor ihm auf die Knie und rief, indem
sie die Hände nach ihm ausstreckte, schluchzend:

„Herr, verschwört Euch nicht mit dem Schicksal, um
eine vom Missgeschick verfolgte Unglückliche ganz niederzudrücken. Sollten
mir, erniedrigt, wie ich es bin, meine Tränen nicht einige Rechte auf ein
großmütiges Herz geben, und wolltet Ihr mich eines flüchtigen Genusses wegen
mit ewiger Schmach bedecken?“

Der Fürst schien anfangs von Mitleid bewegt; aber bei
diesen letzten Worten runzelte er die Stirn. „Seit wann,“ rief er aus,
„haben die Gunstbezeigungen der Könige ihre Sklavinnen entehrt?“

„Herr, seitdem sie Sklavinnen gekauft haben, die
würdig sind, ihre Frauen zu werden,“ erwiderte jene mit Stolz; und in
demselben Augenblick ergoss sie einen Tränenstrom aus ihren Augen und
überschwemmte die Haarlocken, die auf ihren Wangen wogten.

„Steh auf,“ sagte der Sultan zu ihr, indem er
ihr die Hand reichte, „und erkläre Dich deutlicher. Junge Fremde, sage mir
aufrichtig, wer Du bist, lass mich Deine Herkunft und Dein Geburtsland
wissen.“

„Herr, die Tatarei ist mein Vaterland, aber ich
stamme von den Pharaonen, den Verfolgern der Juden.“

„Wie,“ rief der König von Indien aus, „Ihr
stammt von den ältesten Beherrschern der Erde ab und seid eine Sklavin?“

„Ihr werdet noch mehr erstaunen, wenn ich Euch sage,
dass meine Verwandten noch auf mehreren Thronen Asiens sitzen; aber habt nur die
Güte, mir Eure Aufmerksamkeit zu schenken, und Ihr sollt erfahren, welche Reihe
von Ereignissen mich in den kläglichen Zustand versetzt hat, in welchem Ihr
mich seht.

Die aus ägypten verjagten Pharaonen flohen nach
Abessinien, woselbst sie ein neues, weniger mächtiges, aber dauerndes Reich als
ihr erstes gründeten; denn meine Familie besitzt es schon viele Jahrhunderte
lang. Mein Großvater hatte eine Tochter von der seltensten Schönheit, die er
zärtlich liebte, und diese Prinzessin ist meine Mutter. Eine Menge von
Monarchen begehrten sie zur Ehe, aber der Sultan der großen Tatarei hatten den
Vorzug, denn er war der Freund meines Großvaters, und ein altes Bündnis
verknüpfte unsere Familien. Meine Mutter weinte bitterlich, als sie die
schönen Quellen des Nils und den Palast, in welchem sie geboren war, verlassen
musste, um sich in die Wüsten der Tatarei zu begeben. Sie fand jedoch den
Fürsten liebenswürdiger, als sie sich ihn vorgestellt hatte; und da sie eine
zärtliche Neigung zu ihm fasste, so missfielen ihr seine Sitten nicht, weil sie
die ihres Gatten waren. Der Himmel segnete ihre Verbindung; denn sie hatten eine
große Anzahl von Kindern: Ich bin das jüngste und unglücklichste, und ich
habe ihr mehr Kummer verursacht als die andern alle zusammengenommen. Sie
seufzen über meine Abwesenheit, und vielleicht werden sie den Augenblick meiner
Rückkehr verfluchen. Ihr allein werdet die Ursache davon sein.“

„Das wolle Gott nicht,“ rief der Sultan aus,
„dass ich Euer Unglück missbrauche und euch zu beleidigen wage. Ich weiß,
was ich Eurem Rang und besonders Eurem Unglück schuldig bin; und von diesem
Augenblick an erkläre ich Euch, dass ich mir zum Lösegeld eine kleine
Gefälligkeit von Euch erbitte: Erzählt mir, ich ersuche Euch darum, Eure
Geschichte.“

„Ihr legt mir da,“ versetzte die Prinzessin,
„etwas sehr Peinliches auf; aber was es mich auch koste, ich will mich
bemühen, Euch Genüge zu leisten.“